Trotz Kritik am Portfolio und der Strategie

Cabletron-Krise nötigt Usern nur ein Schulterzucken ab

01.05.1998

Gerade mal sechs Monate hielt sich Don Reed im Chefsessel der Netz-Company, bis er Ende März entnervt seinen Stuhl räumte. Unstimmigkeiten mit Gründer Craig Benson sollen ihn vertrieben haben, was Benson, der neue und alte CEO und President bei Cabletron, natürlich vehement abstreitet: "Don und ich haben bereits seit drei Monaten über diesen Schritt geredet", versucht er alle Spekulationen über den Sturz des alten Chefs und seine eigene Inthronisation zu entkräften.

In den Firmenannalen wird einmal vermerkt bleiben, daß Reed scheiterte. Dort wird auch nachzulesen sein, daß Cabletron unter seiner Führung erstmals ein Quartal mit Verlusten ausweisen mußte, fallende Umsätze verzeichnete und Marktanteile verlor (siehe CW 15/98, Seite 45). In Reeds Amtszeit fällt aber auch der Beginn einer Cabletron-Politik, die Benson im Kern gutheißt und weiterführen will. Er glaubt offenbar, mit ihr den Abwärtstrend umkehren zu können.

Die von Reed initiierte Strategie sieht vor, neue indirekte Verkaufskanäle aufzubauen, das Angebot durch Akquisitionen auszuweiten und das Support-Netz auszubauen. Letzteres wurde mit dem Kauf der Netzabteilung von der Digital Equipment Corp. (DEC) und einer Servicevereinbarung mit DEC, designierte Compaq-Tochter, eingefädelt. Die erst jetzt angekündigte Übernahme von Netvantage, Spezialist für Low-end-Switches, öffnet indirekte Verkaufskanäle und Verbindungen zum OEM-Geschäft und durch die Akquisition des Routing-Spezialisten Yago will Cabletron künftig im vom Cisco dominierten Geschäft mitmischen.

Allerdings ist die Strategie nicht so lupenrein, wie sie erscheint. "Die Linie ist nicht vollständig und erst recht nicht konsistent", quittiert etwa Cabletron-Kennerin Petra Borowka, von der Unternehmensberatung Netzwerke UBN in Aachen, den Schlingerkurs. Das sieht Benson offensichtlich ähnlich. Obwohl er grundsätzlich Zustimmung signalisierte, scheint er im von Reed eingeschlagenen Weg holprige Strecken entdeckt zu haben, denn er kündigte Korrekturen an. Vom Vorhaben, ein End-to-end-Anbieter zu werden, müsse man Abschied nehmen, außerdem sollen einige erfolglose Produktreihen, etwa FDDI-Adapter von Cabletron, eingestellt werden.

Doch eine öffentliche Roadmap für Produkte insbesondere unter Berücksichtigung der DEC-Netzabteilung gibt es noch nicht.

"Die gesamte Palette bleibt in der Entwicklung unverändert", beruhigt John Read, Marketing-Manager der deutschen Niederlassung von Digitals Network Product Busisness Unit, die bisher noch nicht in Cabletron integriert ist. Bislang, so seine Aussage, wurden über die geplante Zusammenführung der Produktlinien aber nur Partner und Schlüsselkunden informiert.

Absehbar ist, daß DECs Token-Ring-Produkte das Zeitliche segnen ("Das war auch niemals DECs Stärke," so Read) dagegen bleiben die Switching- und Wireless-Lösungen im Portfolio. Die für den unternehmensweiten Einsatz konzipierten Giga- und Multiswitches von DEC - auch das ist anzunehmen - füllen das Leistungsloch in Cabletrons Smartswitch-Linie.

Undurchsichtig ist Cabletrons eigene Positionierung im Markt, denn wie paßt der Abschied vom Traum des Vollsortimenters zu den Akquisitionen von DEC, Yago und Netvantage, die das Portfolio nach oben wie unten erweitern? "Wir sind ein Anbieter für den High-end-, Midsize- und Low-end-Markt", klärt Albert Müller, seit Anfang April Geschäftsführer der deutschen Dependance in Dreieich.

Benson wird wider alle Versprechungen, die Strategie fortzuführen, in die von Reed eingeleitete Umstrukturierung der Networking-Company eingreifen. "Die Trennung von Digital und Cabletron macht keinen Sinn", erteilt er dem Vorhaben eine Absage, die drei Geschäftsbereiche Digital, Cabletron und Spectrum einzurichten, untermauert damit aber auch das Bild eines Anbieters, der derzeit hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist.

In dem ganzen Hickhack gibt es zumindest eine gute Nachricht für Cabletron: Die heutigen Anwender stehen treu zu ihrem Lieferanten. "In diesem Geschäft keine Fehlinvestitionen zu tätigen und allein den ständigen Neuerungen und wachsenden Anforderungen gut zu begegnen, ist Streß genug. In so einem Umfeld macht man sich nicht gleich Gedanken, wenn irgendwo die Umsatzzahlen einmal rückläufig sind", reagiert Ingo Borchhardt, Abteilungsleiter Datennetze bei der Schering AG, Berlin, gelassen auf die Cabletron-Krise.

Der Chemiekonzern stellt derzeit seine von zirka 6000 Mitarbeitern am Standort Berlin genutzte Infastruktur auf Switching-Verfahren mit 100Mbit/s-Ethernet um. Das ist die Folge einer Entscheidung für das Win- dows-NT-Domain-Konzept von Microsoft, in dem Client-Server-Applikationen über das Netz geladen werden. Für die Netzverwaltung ist Cabletrons Management-Plattform "Spectrum" im Einsatz, die Switches und Hubs im Netz stammen vom gleichen Lieferanten.

Seit etwa knapp zwei Jahren setzen Borchhardt und seine Mitarbeiter auf Cabletron-Komponenten, und zwar "weil das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt, viele Funktionen über Firmware-Upgrade ladbar sind und sie das Monitoring und Management bis zum Port erlauben." Da alle Produkte laufen, sieht der Experte bei Schering keinen Anlaß, die Entscheidung zu revidieren. Eine Auffassung, die andere Anwender teilen.

"Wir sehen keinen Grund, von Cabletron abzurücken", äußerte sich etwa der Netzwerk-Manager einer Universität. Allenfalls die fehlenden Komponenten für WAN-Strecken beanstanden die treuen Anhänger: "Ins Weitverkehrsnetz gehen wir mit Cisco-Routern", beschreibt Borchhardt die Schering-Lösung.

Weniger zimperlich fällt die Kritik von Beraterin Borowka aus, die Cabletron in einem langfristigen Tief wähnt: "Was hat Cabletron in den letzten Jahren Wegweisendes geschaffen?" Der Layer-3-Switching-Trend sei verschlafen worden, die Umbenennung der MMAC-Serie in Smart- switches sei eine Irreführung der Anwender, "denn sie suggeriert eine Leistungssteigerung, die es noch nicht gibt, sondern erst noch umgesetzt werden muß." Cable- tron müsse einen Switch in der Leistungklasse eines "Accelar" von Bay Networks und "Corebuilder 9000" von 3Com entwickeln, um in der High-end-Liga mitzuspielen. Dort schrauben zudem Startups wie Packet Engine mit neuen Gigabit-Ethernet-Lösungen die Maßstäbe in ungeahnte und von Cabeltron bislang nicht erreichte Höhen.

Auch das Image eines Anbieters mit Stärken auf der Management-Seite ist verblaßt. "Mit Spectrum hat sich Cabletron verzettelt", meint Borowka, stellt dem Produkt wie das Gros der Marktkenner aber in funktioneller und technischer Hinsicht gute Noten aus. Als erstes Eingeständnis, sich mit der Management-Plattform übernommen zu haben, wertet Bo- rowka die letztjährige Entscheidung des Anbieters, in künftigen Entwicklungsarbeiten nur noch die Betriebssysteme Sun Solaris und Windows NT weiterzuführen.

Zum Problem der Spectrum-Suite entpuppt sich der Boykott der Networking-Anbieter. Cabletrons Konkurrenten im Markt für Switches und Router haben kein Interesse daran, ihre Lösungen mit Spectrum verwalten zu lassen, und entwickeln keine Module für die Verwaltung mit dieser Plattform. Um Abhilfe zu schaffen, so Borowka, schreibe Cabletron nun eigenhändig Module für Bay-Networks- und Cisco-Modelle. "Nicht nur der Entwicklungs-, sondern auch der Supportaufwand ist enorm hoch", beschreibt die Aachener Expertin die Gefahr.

Olle Kamellen, meint Cabletron. "Das Gerücht der mangelnden Unterstützung wird schon seit fünf Jahren gestreut", weist Martin Böker, Sales Director bei der deutschen Cabletron-Niederlassung, den Vorwurf zurück. Die wachsenden Marktanteile, so der Manager, sprächen eine andere Sprache. Außerdem gebe es Systemhäuser, die Module etwa für Spectrum schreiben.

Dennoch ist der Vorwurf nicht ganz von der Hand zu weisen, denn das Management der Netzumgebung funktioniert am besten mit reinen Cabletron-Komponenten. "Auch fremde Produkte lassen sich supporten und monitoren," beschreibt Schering-Manager Borchhardt, "die Visualisierung ist nur etwas schwieriger."

Einen weiteren Schwachpunkt im Spectrum-Angebot beschreibt der Administrator eines Chemiekonzerns. Dort fiel Spectrum wegen des hohen Einführungaufwandes durch. Ein Problem, so relativierte er allerdings gegenüber der COMPUTERWOCHE, das mittlerweile alle Verwaltungsplattformen teilen.

Produktpalette und Marktpositionierung von Cabletron sind - positiv beschrieben - im Umbruch. Die vorhandene Kundenbasis dürfte dem Anschein nach nicht gefährdet sein. Die Anwender haben ihre strategische Entscheidung für Cabletron getroffen und lassen sich durch einen Schwächeanfall ihres Anbieters nicht aus der Ruhe bringen. "Cabletron ist absolut kerngesund", ruft Deutschland-Geschäftsführer Müller der Öffentlichkeit munter entgegen, "und in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden alle Ziele erreicht." Dennoch dürfte die Networking- und Management-Company Schwierigkeiten bekommen, Neukunden zu werben. Für die Auswahl eines Anwenders formulierte Schering-Manager Borchhardt die Kriterien: "Trifft man eine strategische Entscheidung, betrachtet man natürlich die Position des Anbieters im Markt, dessen Entwicklungspotential und Überlebenschancen." Ein Unternehmen, das sich selbst noch nicht gefunden hat, erfüllt derartige Kriterien nicht.