Thema der Woche

Bittere Realität für Digital: Ein Drittel der Belegschaft soll gehen

02.10.1998

Gerrit Huy wirkt sehr kontrolliert. Trotzdem ist ihre Anspannung zum Greifen. Der vorletzte Donnerstag war nicht gerade das, was man easy going nennt. Draußen vor den Digital-Toren hat die Belegschaft in der Früh ihrem Zorn ordentlich Luft gemacht. Warnstreik, schon der zweite innerhalb von drei Wochen: "Man kann die Leute verstehen", bemüht sich die Managerin, Wogen zu glätten. Drinnen hat sie dem Aufsichtsrat zu erklären versucht, warum 819 von rund 2430 DEC-Mitarbeitern in Deutschland ihren Job verlieren, damit Digital Deutschland unter dem Compaq-Dach weiterleben kann. Stunden später wird die Zahl eines Kuriosums wegen um 20 reduziert.

Abends steht die Frau, die Digital und Compaq in Personalunion führt, der Presse Rede und Antwort. Es ist ihr deutlich anzumerken: Diese Situation ist neu. Bei der Mercedes-Benz AG war Huy als Direktorin unter anderem für die Entwicklungsplanung von PKWs und die strategische Produktplanung zuständig. Danach zeichnete sie bei der Daimler-Benz Interservices AG (Debis) als Vorstandsmitglied für das Ressort Telekommunikations- und Mediendienste verantwortlich. Bei Compaq war sie im Juli 1997 angetreten, anstelle des glücklosen Geschäftsführers Kurt Dobitsch die unbefriedigenden deutschen Geschäftsergebnisse endlich auf Vordermann zu bringen.

In der Rolle der Digital-Nachlaßverwalterin muß Gerrit Huy nun massenhaft Leute in die Arbeitslosigkeit schicken. Konfrontiert dabei mit dem hartnäckigsten und kompetentesten Betriebsrat der Branche. Gegenübergestellt zudem Anwürfen von Branchenexperten, sie und das Compaq-Management hätten kein Konzept, wie der Karren aus dem Dreck gezogen werden könne. Sie exekutiere in Deutschland nur, was als Top-down-Entscheidung aus dem Hauptquartier in Houston von Compaqs erstem Mann Eckhard Pfeiffer als letzter Schluß über sie gekommen sei.

"Das ist Quatsch", reagiert eine nun doch verärgerte Gerrit Huy auf die Einschätzung von Luis Praxmarer. Der Geschäftsführer des Marktforschungsinstituts Meta Group glaubt zu wissen, die massiven Entlassungen hätten schon monatelang festgestanden - sie seien dem Compaq-Vorstandsvorsitzenden von McKinsey eingeflüstert worden, den Spezialisten für Firmen, die Leute loswerden wollen.

"Ich weiß überhaupt nicht, welche Zahlen Houston vorgegeben hat", behauptet die Compaq-Chefin. Im Management-Team habe man für die Digital-Unternehmensbereiche zunächst einmal Profit-Benchmarks veranlaßt. Hieran schloß sich eine Geschäftsfeldplanung an, um die für Deutschland attraktivsten Geschäftssegmente zu eruieren. Ausgemacht wurden die Bereiche Internet/ Intranet, Business Intelligence, Enterprise Applications und Transition Management, worunter die Einrichtung von standardbasierenden IT-Infrastrukturen zu verstehen ist. Die hatte schon Digital ins Auge gefaßt. "Daraus wurde ein Kostengerüst abgeleitet, das zum Umsatz paßt - alles in erheblicher Arbeit sauber analysiert."

Genau das bezweifeln Praxmarer und der Digital-Betriebsrat. "Die jetzigen Entlassungen begründen sich nicht mit dem für 1999 prognostizierten Umsatzrückgang bei Digital um 20 Prozent. Diese Zahlen standen schon seit langem fest", kontert der Analyst. Auf die Profitabilität der betroffenen Geschäftsbereiche in den einzelnen Ländern nehme Houston offenkundig keine Rücksicht. Schleierhaft ist Praxmarer, wie das fusionierte Unternehmen bei solch massiven Entlassungen den Umsatz steigern wolle. "Über 30 Prozent der Mitarbeiter aus dem Unternehmen herausnehmen und gleichzeitig wachsen wollen - das geht nicht. Das hat doch das Beispiel DEC jahrelang gezeigt."

Ein strategischer Ansatz wäre es hingegen, das Vertriebsmodell komplett zu ändern und nur noch über Partner zu verkaufen. Dann seien auch Entlassungen - zumindest aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen - zu rechtfertigen. Wenig strategische Weitsicht offenbare demgegenüber die Maßnahme, erst einmal von oben herab den personellen Offenbarungseid zu leisten.

Nicht weniger deutlich urteilt Digitals Arbeitnehmervertretung. Das Management wolle DEC so zuschneiden, daß die Rumpffirma nahtlos mit Compaq zusammenpaßt. Dazu werden "alle Bereiche, die sie eigentlich sanieren müßten, einfach plattgemacht", kritisiert Christian Brunkhorst, Vorstandsvorsitzender des Gesamtbetriebsrats von Digital Deutschland.

Über die Ursachen für die geplanten Abholzungen sind sich Brunkhorst und Huy in einigen Punkten überraschend einig: Überlappungen mit den Partnern sollen vermieden werden. Außerdem verzeichnet Digital Deutschland einen eklatanten Einbruch im Produktvertrieb. Übereinstimmung herrscht auch in der Beobachtung, daß die Kostenstruktur bei Digital ungünstig ist.

Aus diesem Grund hatte Digitals Wirtschaftsausschuß - eine weitere innerbetriebliche Institution, deren Mitglieder vom Betriebsrat bestimmt werden - am 16. September 1998 mit der Compaq-Statthalterin und deren Führungs-Crew getagt. Digital, so die Bilanz, werde 1998 ein negatives Betriebsergebnis von 5,5 Prozent des Nettoumsatzes zu verkraften haben. Das kommt einem operativen Verlust gleich, der nur durch Zuschüsse von der Corporation bei lediglich 63 Millionen Mark gehalten werden kann. 1998 werde Digital, so Huy, wohl nur noch 1,17 Milliarden Mark erwirtschaften. Im Jahr zuvor waren es noch 1,44 Milliarden Mark gewesen.

Für das kommende Jahr müsse sogar mit einem Umsatzeinbruch von rund 20 Prozent gerechnet werden. Der resultiert, so die offizielle Erklärung, auch daraus, daß Digitals Geschäft mit der gesamten Palette Intel-basierter Rechner zugunsten der Compaq-Produkte aufgegeben wird. Allerdings tragen die Intel-Maschinen nur zehn bis maximal 15 Prozent zum DEC-Umsatz bei. Nicht dementierten Informationen zufolge entwickelt sich aber auch das Geschäft mit der Alpha-Plattform rückläufig. Das dürfte auf die allgemeine Verunsicherung der Digital-Kunden zurückzuführen sein, die sich mit Investitionen bei Digital zurückhalten. Dämme Digital unter der Ägide von Compaq die Kosten nicht rigoros ein, werde das Ergebnis ins Bodenlose fallen: "Mit den heutigen Organisationsformen und Strukturen ist Digital nicht mehr überlebensfähig", kommentiert ein Insider das Fazit des Wirtschaftsausschusses kurz und bündig.

Voraussetzung für den auf Mitte 1999 terminierten Zusammenschluß der beiden deutschen Unternehmensniederlassungen ist die Profitabilität von Digital, sagt die Führungsmannschaft. Die glaubt deshalb, das Restrukturierungsmittel Personalentlassungen jetzt besonders rigoros anwenden zu müssen.

Recht deutlich prangern die neuen Machthaber im Hause Digital dabei Versäumnisse der Vergangenheit an: Neben den komplexen Organisationsstrukturen und den lahmenden Prozessen bei DEC hätten auch wiederholte untaugliche Restrukturierungsversuche eine unerfreuliche Unternehmenskultur nach sich gezogen.

Das A und O der Wiederbelebungsmaßnahmen laute nun: Verminderung der Ausgaben. Dies lasse sich aber nur durch Sach- und Personalkostenreduzierungen in Höhe von jeweils über 30 Prozent verwirklichen (siehe Kasten: "Wer bei Digital gehen soll").

An diesem Punkt herrscht Krieg zwischen Management und Betriebsrat. Die Arbeitnehmervertretung macht geltend, die Geschäftsleitung habe bislang die bestehenden Regelungen zur tariflichen Beschäftigungssicherung offenbar nicht berücksichtigt. Im Klartext heißt das: Alle Digital-Mitarbeiter können sich zumindest bis Ende März 1999 im sicheren Kündigungsschutz wiegen.

Das Management steckt deshalb in der Klemme. Aussitzen bis zum kommenden Frühjahr wäre tödlich für die Fusion der beiden deutschen Dependancen. Mit der Maxime "Augen zu und durch" andererseits dürfte sich die Firmenleitung in Gerichtshändeln mit dem kampfbereiten Betriebsrat eine blutige Nase holen.

Insbesondere der geplante Verkauf des Betriebsteils Small and Medium Business (SME) des Servicebereichs Multivendor Customer Services (MCS) samt dessen etwa 120 Mitarbeitern sowie weiterer 36 Beschäftigter im Reparaturwerk Villingen ergrimmt die Arbeitnehmervertreter. Diese Servicemannschaft erledigt unter anderem Wartungsaufträge, die pro Kunde für Digital nur ein begrenztes Umsatzvolumen erbringen.

Rund ein Drittel der SME-Angestellten sei über 50 Jahre alt, nur jeder Dritte besitze zudem die am Markt gefragten Fertigkeiten für Windows-NT- und Unix-Umgebungen. "Sozial völlig untragbar, dieses Vorgehen", urteilt deshalb Gesamtbetriebsrats-Chef Brunkhorst, würden doch die Digital-Mitarbeiter aus einer gefestigten Tarifordnung in unsichere Verhältnisse wechseln. Huy hält dagegen, man führe momentan mit einem sehr interessierten möglichen Käufer aussichtsreiche Gespräche. "Er ist vor allem an unseren Mitarbeitern interessiert. Weniger geht es ihm um die Übernahme der Wartungsverträge." Daß die MCS-Division als einzige jetzt in Rede stehende Digital-Abteilung profitabel arbeitet, wie Gerrit Huy konzedieren muß, dürfte sich auf die Kaufgelüste dabei nicht gerade negativ auswirken.

Hier setzt Meta-Group-Mann Praxmarer mit Kritik nach, wenn er von "fehlenden Wachstumssignalen der Geschäftsstrategie" spricht. "Wo", fragt er, "will Compaq/Digital denn wachsen, wenn sie genau die Bereiche abbauen, deren Markt branchenbekannt absolut boomt?" Gerade im MCS-Betätigungsfeld könne man riesige Zuwächse verzeichnen. Ausgebildetes Personal hierfür zu bekommen, da ist sich Praxmarer mit MCS-Chef Hermann Sänger übrigens einig, ist momentan sehr schwer.

Eine Goldgrube also, die Compaq versickern läßt? Nein, meint Gerrit Huy. Compaq habe nicht die Kostenstruktur, um sich solch eine Servicemannschaft weiter leisten zu können. Ihr Unternehmen sei ferner nicht in der Lage, mit mittelständischen Unternehmen mitzuhalten, die auf dem gleichen Betätigungsfeld meistens ohne Tarifbindung und ohne den für global agierende Unternehmen typischen Overhead an Entwicklungs- und Management-Kosten auskommen. Nicht zuletzt deshalb betreuen schon heute Partnerunternehmen von Digital und Compaq diese kleinen und mittleren Unternehmen vertrieblich. Daher gebe die Übertragung des Service auch unter dem Gesichtspunkt der Gesamtverantwortung Sinn.

Als kleine Ironie der laufenden Ereignisse kann die "Rettung" von rund 20 Mitarbeitern aus dem Bereich Enterprise Network Solutions (ENS) gelten, die zur ebenfalls von einem happigen Personalabbau bedrohten Division Network Systems Integration Services (NSIS) gehören. Ursprünglich standen sie auf der schwarzen Liste der geplanten 210 Entlassungen im NSIS-Umfeld, schnell wurde aber klar, daß sie eigentlich unkündbar sind. Digital hatte sich nämlich beim Verkauf seiner Network Product Business Unit (NPBU) verpflichtet, dem Käufer Cabletron über einen Zeitraum von drei Jahren Hardware im Gesamtwert von 1,1 Milliarden Dollar abzukaufen. Die Abnahmeverpflichtung besteht auch für die deutsche Niederlassung. Die Aufgabe der 20 ENS-Mitarbeiter soll deshalb sein, hierzulande diese Abnahmeverpflichtung zu organisieren.

Ansonsten will Compaqs Chefin den NSIS-Geschäftsbereich aber erheblich dezimieren. Über 50 Prozent der Mitarbeiter sind in DEC-Abteilungen gefährdet, die sich bislang auf betriebswirtschaftliche Standardsoftware wie SAP R/3 oder von Baan konzentrierten. Die sich ferner in der Gruppe Application Development Integration (ADI) den Migrationslösungen auf NT widmeten. Oder die Kunden mit Anwendungen für die Financial Industries (FIS) unter die Arme greifen. Kritisiert Brunkhorst: "Im NSIS-Bereich entsteht mit der jetzigen Planung eine geschäftlich unausgewogene Konzentration auf Kunden aus dem Kommunikationsbereich." 60 Prozent des Gesamtumsatzes erwirtschafte NSIS künftig aus dem Geschäftsfeld Communications Industries Solutions (CIS).

Problematisch ist auch die Vorstellung der Compaq-dominierten Führungs-Crew, Digitals Kostenstruktur des Hardwarevertriebs auf das beim texanischen PC-Hersteller gewohnte Niveau herunterzufahren: Mehr als 16 Prozent vom Umsatz soll die Sales-Mannschaft nicht kosten dürfen. Bei DEC sind es bislang 24 Prozent.

Solch eine Kosten-Umsatz-Relation dürfte aber nur Unternehmen vom Schlage Compaq möglich sein. Die operieren im wesentlichen über indirekte Kanäle und fahren ihre Produkte "lediglich im Tieflader" bei den Partnern oder Massenvertreibern vor, wie es ein Brancheninsider formulierte. Das Direktgeschäft mit Großkunden, wie es Digital vorzugsweise kennt, kommt hingegen erheblich teurer.

Meta-Group-Analyst Praxmarer glaubt deshalb auch, daß die Halbierung der Digital-Vertriebsmannschaft nicht zu Wachstum führen kann. Er sieht im Kahlschlag ferner die Gefahr, daß DEC/Compaq künftig Kunden verliert und sich damit die Abwärtsentwicklung der Geschäftszahlen weiter beschleunigt.

Hier widerspricht Gerrit Huy heftig: Compaqs Vorstellungen seien sehr wohl zu verwirklichen, wie Benchmark-Untersuchungen mit Konkurrenzunternehmen ergeben hätten. Allerdings verglich das Krisen-Management dabei anscheinend vor allem Äpfel mit Birnen, denn im Kostentest wurde Digitals Vertriebsabteilung denjenigen von Wettbewerbern wie etwa den Direktvertreibern Dell und Gateway gegenübergestellt. Dort aber herrschen Strukturen, die mit denen beispielsweise der Global-Services-Dienstleistungsmannschaft von IBM oder dem gemeinsam von SNI und ihrer Siemens-Mutter betriebenen Service-Ableger Siemens Business Services (SBS) nicht zu vergleichen sind.

Fast schon nachvollziehbar scheint hingegen die Halbierung des Mitarbeiterstamms auf rund 124 Personen in der Verwaltung, den Personalbüros etc. Hier möchte der Betriebsrat unter anderem an Drittfirmen vergebene Arbeiten wieder in das eigene Unternehmen zurückführen. Zudem könne mehr Teilzeitarbeit die brisante Situation abfedern helfen.

Gerrit Huy und MCS-Chef Sänger aber machen immer noch in Optimismus: Rund die Hälfte aller 800 in Deutschland zur Disposition stehenden Digital-Mitarbeiter hätte beste Chancen, in expandierenden Firmen in verwandten Industrien einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Nehme man die Option wahr, den SME-Bereich mit rund 230 Angestellten an den zur Diskussion stehenden potentiellen Käufer zu veräußern; rechne man ferner rund 50 Personen hinzu, für die sich Möglichkeiten durch ein Management-Buyout ergeben; so reduziere sich die Entlassungsproblematik auf etwa 100 Menschen. Doch auch für die gilt der tarifvertraglich abgesicherte Kündigungsschutz.

Es wird wohl nicht der letzte Warnstreik gewesen sein, den Digital in seiner nurmehr kurzen deutschen Unternehmensgeschichte erleben wird. Schon seit längerem ist zudem Unruhe auch in das Compaq-Lager eingezogen. Nicht nur stand die deutsche GmbH gegenüber ihrer europäischen Zentrale und dem US-Headquarter wegen mangelnder Geschäftserfolge immer mit dem Rücken zur Wand. Nicht nur ist der Belegschaft weltweit ein zweimal pro Jahr gezahlter Bonus gestrichen worden, der sich am Profit des Unternehmens bemaß und unterschiedslos an jeden Mitarbeiter der Texaner überwiesen wurde. In Zukunft, donnerte Senior Vice-President John Rose vor einigen Wochen nach verheerenden Ergebnissen einer Kundenbefragung zur Zufriedenheit mit dem Computerlieferanten Compaq, würden Sondervergütungen nur noch analog zum Grad der Kundenbegeisterung gezahlt. Jetzt muß Gerrit Huy auch noch im Hauruck-Verfahren schaffen, was Generationen von DEC-Managern versäumten: Digital sanieren. Gleichzeitig soll sie Compaq Deutschland anschieben. Bleibt abzuwarten, ob sie in einigen Monaten immer die Contenance bewahren kann.