Call-Center/Gerling: Wissensbasiert zu Wettbewerbsvorteilen

Betriebsbereich Kraftfahrt richtet Service-Center ein

25.10.1996

Der Betriebsbereich Kraftfahrt des Gerling-Konzerns nutzt eine Technologie, die bereits 20 Jahre im Haus ist. Es handelt sich um eines der ersten Online-Systeme, das in der Bundesrepublik in den 70er Jahren entwickelt wurde. Die im Bereich der K-Schadenregulierung (K steht für Kraftfahrt) eingesetzte Software ist eine eigenentwickelte Siemens-Dialoganwendung, die im Jahr 1987 konzernweit für die K-Sparte eingeführt wurde.

Der Schadenbereich sollte als Service-Center organisiert werden, damit sich im Schadensfall eine optimale Servicequalität für Kunden und Anspruchsteller gewährleisten ließ. Um den schnellstmöglichen Kontakt zu Anspruchstellern im Schadensfall sicherzustellen, kam als Organisationsform die Errichtung eines Call-Centers als wesentliche Nebenbedingung zustande.

Damit verbunden wurden die Anforderungen an modernste Telefontechnik (ACD-Funktionalitäten, Automatic Call Distribution) in Zusammenhang mit einem neuen, verbesserten Schaden-Online-System für die K-Schadenbearbeitung. Die technische Unterstützung, die das geplante Service-Center voraussetzte, war mit dem vorhandenen Online-System nicht zu leisten.

Bisher erforderte jede Schadensmeldung, die der Anspruchsteller telefonisch abgab, eine schriftliche Anzeige. Der Kunde erhielt ein Formular, mit dem er seine Forderungen anmelden und wieder an den Gerling-Sachbearbeiter zurückschicken mußte. Bei dem heutigen Schaden-Schnell-Service werden die Informationen des Versicherungsnehmers (Schadensumfang, Daten der Beteiligten, Daten zum Sachverhalt und Schadenshergang) direkt telefonisch aufgenommen und in das System übertragen. Auf diese Weise werden also diverse Arbeitsschritte und die damit verbundene Zeit gespart. Da an dieses System auch externe Sachbearbeiter und Partnerfirmen, etwa Reparaturwerkstätten, Hotels, Mietwagenverleih, angebunden sind, kann der Sachbearbeiter beispielsweise sofort per Fax einen Mietwagen für den Anspruchsteller anfordern.

Entwickelt unter OS/2 mit Option für Windows

Nachdem die strategischen Ziele: Kosteneinsparung in Millionenhöhe, wettbewerbswirksame Verbesserung des Kundenservices, Erhöhung der Effektivität im Bearbeitungsprozeß festgelegt waren, erarbeitete man in Workshops die Anforderungen an die Technik.

Beteiligt waren schwerpunktmäßig die künftigen Anwender, das heißt Mitarbeiter der Kraftfahrtschadenabteilung der Direktion sowie K-Schadensachbearbeiter aus verschiedenen Regionalzentren. Das Profil gab drei Bedingungen an das zukünftige K-System vor. Es sollte auf PCs laufen und vor allem ein offenes, wissensbasiertes System sein. Es kamen zwei Programmentwicklungssysteme in die nähere Auswahl und wurden vier Monate von zwei Projektmitarbeitern überprüft: eines davon das heute genutzte "Aion DS" von Platinum.

Vorteile von Aion DS gegenüber dem Mitbewerber waren seine durchgängige Objektorientierung und seine Offenheit in den Datenbanken zu anderen DBMS-Systemen. Aber es gab noch ein weiteres Plus - die Portabilität -, das bei der damaligen Auswahl zwar nur eine Nebenrolle spielte, heute jedoch ein wesentlicher Faktor ist: Das neue K-Schadensystem wurde unter OS/2 entwickelt. Es existiert allerdings die Option, das System mit geringem Aufwand auf Windows zu übertragen, wenn es notwendig werden sollte.

Bereits die Entwicklung der bestehenden K-Schadenbearbeitung - eine UTM-Anwendung (Universeller Transaktionsmonitor) - war DV-technisch komplex, da zirka zwanzig unterschiedliche Datenbanken im Direktzugriff angeschlossen sind.

Im Rahmen der maschinellen Deckungsschutzprüfung erfolgen dort Zugriffe auf alle Vertragsinformationen bis hin zum konkreten Schadenstag, auf die Zahlungsdaten und die Regelungen im Mitversicherungsgeschäft. Diese Funktionalität galt es beizubehalten. Hinzu kamen die neuen Anforderungen an die Technik (Offenheit und Objektorientierung) und die erhöhten Benutzeranforderungen. Neben einer modernen grafischen Oberfläche standen kurze Antwortzeiten (im Sekundenbereich) im Vordergrund, um die Telefonsachbearbeitung zu ermöglichen. Diese Voraussetzungen waren mit der vorhandenen Hardware (BS2000-Rechner mit UDS als DBMS-System) nicht zu erfüllen.

Parallel zur Entwicklung des neuen Schadensystems wurde im Betriebsbereich die Umstellung der Hardwareplattform auf IBM-Rechner mit CICS/DB2 vorgenommen. Der Migrationsprozeß, der auch die Schadenseite mit einbeziehen wird und zeitgleich mit der Systementwicklung der neuen Schnell-Service-Anwendung in Gang gesetzt wurde, ist umfangreicher als das eigentliche Projekt. Er wird drei bis fünf Jahre in Anspruch nehmen.

Der Übergang von Siemens- auf IBM-Rechner kann als eine weiche Migration, als evolutionärer Prozeß gesehen werden. Denn hier wurde auf der einen Seite eine völlig neue Benutzeroberfläche auf Basis einer neuen Hardware (PC) geschaffen, auf der anderen Seite wurden die bestehenden Servicefunktionen, die auf dem Siemens-Host bereits vorhanden waren, eins zu eins genutzt. Über "Function Shipping" fließen sie in die veränderte Systemwelt ein. Die weiche Migration wird mit "Connectivity", das Gerling gemeinsam mit Externen entwickelt hat, erst möglich.

Hiermit wird via TCP/IP (Transmission Control Protocol/Internet Protocol) der Daten- und Funktionsaustausch zwischen dem Siemens-Großrechnersystem und dem IBM-Mainframe innerhalb einer gesicherten Transaktion möglich. Zwischen IBM-Mainframes und der OS/2-Aion-DS-PC-Anwendung erfolgt der Daten-/Funktionsaustausch über OS/2-CICS-Client zum ESA-CICS (Customer Information Control System).

Think big - start small

Das Projekt für den Schnellservice wurde im August 1994 gestartet. Nach zwei Monaten lief mit Hilfe von Aion DS der erste Prototyp. Er diente dazu, den künftigen Benutzern konkret vorzuführen, was technisch möglich ist und wie die geplante Anwendung voraussichtlich aussehen würde.

Es folgte ein zweiter Work- shop, in dem auf Basis des erarbeiteten Grobkonzepts, das primär auf die Technik abzielte, ein Detailentwurf entwickelt wurde. Er orientierte sich an den vorher definierten strategischen Zielen.

Nun konnten sich die Workshop-Teilnehmer der Realisierung des Systems widmen. Sie legten fest, welche Regelwerke für die erste Version zu realisieren waren, welche Informationen sie unbedingt für eine telefonische Schadensaufnahme brauchten beziehungsweise auf welche Informationen verzichtet werden konnte. Auch dieses Projekt ging in kurzer Zeit (einen Monat) über die Bühne, so daß auf Basis der Detailvorgaben mit der Entwicklung des zweiten Prototyps bereits im Oktober 1994 begonnen werden konnte. Er war im März 1995 fertiggestellt und beinhaltete ablauffähige Benutzeroberflächen, die den Anwendern in einem dritten Workshop vorgestellt wurden.

Erst danach erfolgte die eigentliche Entwicklung. Neben der Benutzeroberfläche und den Dialogabfolgen waren alle neuen Funktionen zu erstellen. Gleichzeitig mußte ein Server-Prozeß auf der Siemens-Host-Seite (UTM-Anwendung) geschrieben werden, um den Daten- und Funktionstransfer sicherzustellen: ein arbeitsintensiver und zeitaufwendiger Prozeß (neun Monate). Trotzdem konnte bereits ab Dezember 1995 der Fachbereichstest anlaufen. Hierzu wurden zehn Mitarbeiter der Schadenabteilung des Regionalzentrums Köln ausgewählt, das A-Team.

Seit März 1996 arbeitet das Regionalzentrum Köln mit dem neuen System. Zur Zeit ist ein weiteres Testteam in der Vorbereitung: Durch das B-Team soll die Alternative einer zentralen Schaden-Service-Funktion, das heißt außerhalb der eigentlichen Schadensbearbeitung, evaluiert werden.

Nach Abschluß wird das Management entscheiden, wie die flächendeckende Systembetreuung realisiert wird. Hierzu gibt es grundsätzlich zwei Alternativen:

1. die Erweiterung der Funktionalität eines zentralen Service-Centers auf den Kundenstamm in der Bundesrepublik

2. die Errichtung mehrerer Service-Center im Bundesgebiet (dezentrale Lösung).

Die neue Anwendung ist geeignet, beide Varianten sinnvoll zu unterstützen.

Gegenwärtig sind 15 Prozent des voraussichtlichen Gesamtvolumens im Test. Es ist davon auszugehen, daß - wenn alle Kunden an dieses System angebunden sind - pro Jahr 175000 Anrufe eingehen werden und man bei Gerling mit Hilfe des neuen Systems rund 25 Prozent des Gesamtschadenaufkommens - sprich Bagatellschäden oder eindeutige Schadensereignisse, über die bereits am Telefon entschieden werden kann - bearbeiten kann. Die komplexen Schadensfälle werden auch in Zukunft traditionell weiterbearbeitet werden.

Im nachhinein, so sieht man es heute bei Gerling, hat es sich als richtig herausgestellt, daß man den Auftrag nicht außer Hauses gegeben hat. Auf diese Weise bleibt das Know-how, das sich die Projektteilnehmer sowohl bei der Systementwicklung als auch im Verlauf des Migrationsprozesses aneignen konnten, im Unternehmen.

Der Vorteil: Das Unternehmen ist nicht abhängig von externen Beratern. Außerdem kann das System problemlos weiterentwickelt werden.

Auch wenn die Ergebnisse des Projekts noch nicht in vollem Umfang zufriedenstellend sind, zeichnet es sich bereits ab, daß man strategische Ziele erreichen wird:

-Eine wettbewerbswirksame Verbesserung im Kundenservice bringt das Unternehmen nach vorn.

-Die Effektivität im Bearbeitungsprozeß schafft Zufriedenheit bei Versicherungsnehmern und Mitarbeitern. "Wettbewerbsvorteile für wissensbasierte Unternehmen" hieß es im April in einer namhaften DV-Fachzeitschrift. Das kann man bei Gerling bestätigen.

Das Unternehmen

Gerling wurde 1904 als unabhängiges Familienunternehmen gegründet. Mit einer mehr als 90jährigen Tradition versichert das Unternehmen Kunden aus allen Bereichen der Wirtschaft. Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungsfirmen gehören mit ihren Mitarbeitern ebenso dazu wie Verbände, Freiberufler und Privatpersonen. Mit einem Prämienvolumen von mehr als elf Milliarden Mark ist die Gerling-Gruppe einer der führenden Erst- und Rückversicherer. Ziele des Unternehmens sind die Risikoanalyse und -verminderung im betrieblichen wie im privaten Bereich beziehungsweise der Schutz und die Erhaltung der Vermögenswerte. Das Unternehmen ist gegliedert in die Bereiche Sach, Leben, Rück, Consulting, Finanzdienstleistungen und Zentrale Konzern Dienstleistungen. Seit 1955 hat Gerling seine internationale Organisation aufgebaut und ständig erweitert. Heute ist man mit rund 10 000 Beschäftigten in 27 europäischen Wirtschaftszentren sowie in Amerika, Afrika, Asien und Australien vertreten. 1992 wurde mit der Deutschen Bank eine grundlegende Partnerschaft mit einer Kapitalbeteiligung von 30 Prozent geschlossen, die eine feste Basis für künftige Aufgaben ist.

Angeklickt

Bestehende Servicefunktionen sollten eins zu eins übernommen werden als der Gerling-Konzern sich entschloß, einen neuen Schnellservice für die Schadenregulierung im Kraftfahrtbereich einzurichten. Herstellerwechsel war angesagt. Workshops sowie A- und B-Teambildung gingen mit der Prototypenentwicklung einher. Am zeitaufwendigsten gestalteten sich mit 9 Monaten die Erstellung der Benutzeroberfläche, der Dialogabfolge und etlicher völlig neuer Funktionen. Doch seit März diesen Jahres arbeitet das Regionalzentrum Köln mit dem noch ausbaufähigen System.

*Diplomvolkswirt Peter Besseler ist Prokurist im Gerling-Konzern, Köln.