Nach heftiger Panne im Vorjahr

Berliner Feuerwehr löscht IT-Schwelbrand

06.04.2001
MÜNCHEN (rg) - Mit ihrer neuen Leitstelle verfügt die Berliner Feuerwehr nach anfänglichen Problemen nun über das modernste IT-System für die Notfallbearbeitung in Europa. Allerdings ist es schwierig, die Mitarbeiter für die neue Lösung zu gewinnen.

In der Tagespresse der Hauptstadt hat die Berliner Feuerwehr keinen leichten Stand: Neben kleineren Skandalen war es vor allem der GAU am Schicksalstag der gesamten IT-Welt, Neujahr 2000, der den Blätterwald kräftig rauschen ließ. Nachdem in den frühen Morgenstunden der Silvesternacht eine Serie technischer Pannen vom anwesenden Personal nicht behoben werden konnte, brach das veraltete Computersystem der Leitstelle ausgerechnet zur kritischsten Zeit des ganzen Jahres für mehrere Stunden komplett zusammen. In der Folge kam es "zu einem nie dagewesenen Einsatzchaos", so die "Taz".

Zum Erfolg verurteiltDie Grünen forderten den Rücktritt von Feuerwehrchef Albrecht Broemme. Sein Stellvertreter Wilfried Gräfling legt auch jetzt noch großen Wert auf die Feststellung, dass es sich bei der Havarie des Leitstellenrechners definitiv nicht um einen Jahr-2000-Bug gehandelt hatte. Das System sei nach einer Fehlermeldung, welche eine mögliche Überlastung angekündigt hatte, fälschlicherweise abgeschaltet worden und habe sich danach nicht mehr hochfahren lassen.

Bei der Inbetriebnahme der neuen Lösung, an der die Feuerwehr seit fünf Jahren gearbeitet hatte, waren Broemme und Gräfling also zum Erfolg verurteilt. Auslöser für die Entscheidung, ein neues System anzuschaffen, war die Erkenntnis, dass das alte System mit den stark steigenden Einsatzzahlen auf Dauer nicht mitwachsen könne. Ein Jahr und einen weitgehend pannenlosen Jahreswechsel später stellten nun die beiden Feuerwehrchefs kürzlich erleichtert das im November in Betrieb genommene Leitstellensystem "Ignis" vor. Auch den Projektmitarbeitern der Kölner Bull AG dürfte aufgrund des breiten öffentlichen Interesses ein Stein vom Herzen gefallen sein. "Nachdem in der Zeit zuvor leider noch einige Anlaufschwierigkeiten zu bewältigen waren, freuen wir uns jetzt über die gelungene Bewährungsprobe in der heißesten Nacht des Jahres", so Projektleiter und Leistellenexperte Detlev Knieper von der eigens in Berlin gegründeten Bull-Niederlassung. Der IT-Hersteller hatte das Projekt zusammen mit den Firmen Frequentis, Siemens, Bosch, Alcatel und Detewe als Generalunternehmer umgesetzt.

Bei der Konzeption des Systems habe sich die Feuerwehr entschieden, wie bisher auf eine zentrale Struktur zu setzen, so Landesbranddirektor Broemme. Dadurch ließen sich die stark spezialisierten Einsatzkräfte und deren Ausrüstung flexibler steuern und gezielter einsetzen. Der zentrale Ansatz bedingt, dass der Leitstand permanent einsatzfähig sein muss und auch bei anderen Großereignissen wie Blitzeis oder schweren Stürmen nicht in die Knie geht.

Den Kern des Client-Server-Systems bilden zwei als Hochverfügbarkeits-Cluster ausgelegte Datenbank-Server von Oracle, auf die sämtliche Arbeitsplätze über das lokale Netz zugreifen. Die Rechner in den einzelnen Wachen der Berufsfeuerwehr sowie die drei regionalen Leitstellen sind daran über ein Wide Area Network (WAN) mit einem Dual-FDDI-Glasfaserring als Backbone angebunden.

Mehrere RückfallsystemeFällt der Cluster aus, übernimmt ein weiterer Datenbank-Server dessen Aufgaben. Falls auch dieser den Dienst versagt, steht mit dem Rechner der Ausfall-Leitstelle ein weiteres Rückfallsystem bereit. Darüber hinaus lassen sich die verschiedenen Schnittstellen-, Verwaltungs-, Test- und Schulungsrechner als Backup-Systeme nutzen. Insgesamt umfasst die Anlage 195 PC-Systeme auf Windows-NT-Basis, die in erster Linie für administrative Aufgaben und bei den ebenfalls angeschlossenen Freiwilligen Feuerwehren zum Einsatz kommen, sowie 19 Unix-Server und 145 ebenfalls in Unix realisierte Clients für die Kernaufgaben.

Über einen Schnittstellen-Server sind eine ganze Reihe von Subsystemen zur Notrufabfrage angebunden. Dazu zählen unter anderem eine Funkanlage mit sieben parallelen Kanälen, in Gebäuden installierte Gefahrenmeldeanlagen oder die Global Positioning Systems (GPS) in den Notfallwagen. Sämtliche Rechner der Leitstelle lassen sich über das Management-System "Open Master" von Bull zentral verwalten.

Eine Kernkomponente der Lösung ist das grafische Informationssystem, das alle für die Bearbeitung von Notfällen relevanten Abläufe auf insgesamt drei Bildschirmen abbildet. Die Mitarbeiter der Leitstelle sind dadurch stets über die aktuellen Kapazitäten der einzelnen Feuerwachen informiert. Darüber hinaus hält das System Stadtpläne in verschiedenen Maßstäben vor, auf denen alle aktuellen Einsatzorte markiert sind.

Für die Eingabe von Notrufen benötigen die Feuerwehrleute im Schnitt zwischen 30 und 60 Sekunden. Die Disposition erfolgt unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit von Personal und Gerät sowie der Entfernung zum Einsatzort innerhalb von weiteren zehn Sekunden. Nochmals zehn Sekunden später ist die Alarmierung der Einsatzkräfte abgeschlossen. Werden bei diesem Prozess die vorgegebenen Antwortzeiten überschritten, legt die integrierte Fristenüberwachung den Vorgang zur neuerlichen Bearbeitung vor.

Während in der Vergangenheit die Mitarbeiter nur mit Einzelaufgaben wie der Notrufannahme oder der Alarmierung der Einsatzkräfte betraut waren, kann nun der gesamte Vorgang von einem Arbeitsplatz aus gesteuert werden. Ein Teil der Belegschaft hat dieses Modell bislang jedoch nicht angenommen. Diese Mitarbeiter betreuen entweder die Notrufannahme und die automatische Disposition oder arbeiten an den Funkplätzen und verfolgen so die Erledigung der Einsätze bis zu deren Abschluss. Laut Gräfling fühlt sich ein Teil des Personals von dem neuen System noch überfordert, zum anderen kursieren Ängste, dass damit Arbeitsplätze eingespart werden sollen.

Zusätzliche SchulungsprogrammeInzwischen haben die Mitarbeiter ein Assessment-Center durchlaufen, bei dem festgestellt werden sollte, in welchen Bereichen noch Schulungsbedarf besteht. Darauf aufbauend startet die Feuerwehr im April gemeinsam mit der Universität Potsdam ein zusätzliches Schulungsprogramm. Um den Rationalisierungsängsten des Personals zu begegnen, hat die Feuerwehrführung garantiert, im ersten Jahr mit dem neuen System keine Leitstellenangestellten zu entlassen. Anschließend will sie jedoch eine Organisationsuntersuchung nachschieben und damit den Personalbestand neu bemessen.

Insgesamt zeigte sich Gräfling mit dem Projektverlauf zufrieden. Besonders erfreulich sei, so der stellvertretende Landesbranddirektor, dass der Kostenrahmen von 80 Millionen Mark trotz der fünfjährigen Projektdauer eingehalten wurde. Einen großen Posten stellte mit 32,5 Millionen Mark das neu errichtete Gebäude samt Klimatechnik, Trafostation und Notstromversorgung dar. Die DV-Technik schlug mit insgesamt 32,9 Millionen Mark zu Buche. Die von Frequentis (Funk-Draht-Vermittlung), Bosch (Personenruf- und Gefahrenmeldeanlagen), Siemens (TK-Anlagen und WAN-Komponenten) und Detewe (Hausnetzinstallation) gelieferte Kommunikationstechnik nahm die restlichen 14,6 Millionen Mark in Anspruch.

Für die nähere Zukunft plant Gräfling die Integration eines "medizinischen Abfragebaums". Ein derartiges Qualitätssicherungssystem soll über ein definiertes Abfrageschema die Notrufannahme verbessern. Die Mitarbeiter wären dadurch zwar rechtlich besser abgesichert, müssten aber in Kauf nehmen, strengeren Kontrollen zu unterliegen. Auch hier stehen Gräfling noch Auseinandersetzungen mit dem Personalrat ins Haus.