Das neue System nutzt dieselbe User-Oberfläche wie das alte

Beim Dokumenten-Management im Galopp die Pferde gewechselt

17.12.1999
von Joachim Kober und Ludwig Büsing* In den Anfangsjahren des Dokumenten-Managements haben viele Unternehmen monolithische Lösungen für spezielle Aufgaben entwickelt. Der Hannoveraner Versicherungsgruppe VHV ist es gelungen, auf eine Lösung mit Standard-Schnittstellen zu wechseln, ohne die Nutzeroberfläche zu verändern.

Bei Anruf Auskunft - dieses Motto ist im hart umkämpften Versicherungsmarkt lebenswichtig. Der Kunde möchte nicht irgendwann zurückgerufen werden, sondern erwartet einen kompetenten Ansprechpartner, der sein Anliegen möglichst sofort und vollständig klären kann. Dazu muß dieser Mitarbeiter aber alle Unterlagen parat haben - vom tagesaktuellen Brief bis zu den Verträgen. Das ist nur mit einem optoelektronischen Archiv möglich.

Die VHV-Versicherungsgruppe gehört zu den Pionieren auf dem Feld der Dokumenten-Management-Systeme (DMS). Seit 1991 können die Mitarbeiter der Abteilung Kraftfahrzeug-Betrieb nicht nur auf die Transaktionsdaten zugreifen, sondern auch alle Dokumente in elektronischer Form aufrufen. Die Auskunftsfähigkeit des Fachbereichs wurde von den Kunden positiv aufgenommen.

Doch der Erfolg dieser inzwischen gealterten Lösung führte zum Problem: Andere Abteilungen des Hauses und der Zweigniederlassungen verlangten nach demselben Service; die Spezifika des proprietären Systems hätten sich bei einem Ausbau aber als eklatante Schwäche herausgestellt.

Die eingeschränkte Zahl der möglichen Hardware-Anbieter trieb die Preise in die Höhe. Vor allem bei der Anbindung der Niederlassungen wären Standard-Workstations weit kostengünstiger gewesen. Auch die Speichermedien - proprietäre Zwölf-Zoll-Datenträger - verursachten hohe Kosten und Wartungsaufwand.

Massive Einschränkungen auch bei der Software: Die Datenbank war im System gekapselt; Änderungen konnte nur der Hersteller selbst vornehmen, weshalb die Planungen der VHV von dessen Ressourcen abhängig waren. Zudem ließen sich die allgemeine DV- und die spezielle DMS-Wartung nicht von ein und demselben Team bewältigen; statt dessen mußten zwei unterschiedlich qualifizierte Mannschaften beschäftigt werden.

Ohnehin hatte das Datenvolumen mit 50 Millionen Images (Dokumentseiten) eine Größenordnung erreicht, die sich mit dem Altsystem nicht mehr ohne weiteres verwalten ließ - ganz zu schweigen von den bis zu rund 25000 Neuzugängen pro Tag. Auch bei wachsenden Benutzer- und Dokumentenzahlen müssen kurze Antwortzeiten garantiert sein. Das ist aber nur möglich, wenn das Gros der Seiten, auf die täglich zugegriffen wird, in einem Festplatten-Cache vorrätig ist und sich dieser Bereich dem wachsenden Bedarf anpassen läßt. Das wäre bei dem proprietären System nur mit hohem Aufwand gegangen . Last, but not least war das alte System nicht Jahr-2000-fähig.

Die VHV entschied sich dafür, aus der Not eine Tugend zu machen, also eine neue Lösung einzuführen, die auf Standard-Schnittstellen basierte und Optionen für einen künftigen Ausbau des DMS schaffen würde. Laut Ausschreibung mußten Hardware, Software und Dienstleistung aus einer Hand kommen. Konkrete Zusagen bezüglich Verfügbarkeit und Antwortzeiten am Arbeitsplatz waren ebenfalls gefordert - und zwar für die Gesamtlösung. Das neue System sollte schneller, besser und kostengünstiger sein, aber vom Look and feel her genau wie das alte, denn die Nutzer durften in ihrer Arbeit nicht beeinträchtigt werden.

Drei Hersteller - darunter der Anbieter des Altsystems - beteiligten sich an einem Test unter Echtzeit-Bedingungen mit 250 parallelen Nutzern. Die Entscheidung fiel auf den Archiv-Server von Computer Equipment (CE), Bielefeld. Ausschlaggebend waren zum einen die Antwortzeiten von weniger als zwei Sekunden bei Aufruf des Cache und weniger als 25 Sekunden beim Zugriff auf die optischen Platten, zum anderen der günstige Preis. Hinzu kam, daß sich mit dieser Lösung die 50 Millionen Dokumentenseiten aus ihrem proprietären in das standardisierte Tagged Image File Format (Tiff) konvertieren ließen - wenn auch nur mit Hilfe eines externen Spezialisten.

Bei der Umstellung wurden die Clients für das Scannen und Indizieren der Dokumente neu entwickelt und funktional erweitert. Identisch bleiben mußte hingegen die Oberfläche für die Sachbearbeiter. Auch die in der Host-Anwendung definierten Prozesse durften nicht tangiert werden. Von den 50 Millionen Images wanderten rund 26 Millionen für den Direktzugriff in den neuen Archiv-Server, der Rest in ein neu konzipiertes Langzeitarchiv, das mittlerweile in die Gesamtlösung integriert ist.

Die Arbeit begann im Januar 1999. Am 13. Mai wurden die Server aktiviert und die Client-Software ausgetauscht. Alles in allem waren 14 Mitarbeitermonate nötig. Am Morgen nach der Umstellung gingen die Sachbearbeiter ihrer Arbeit nach, ohne zu merken, daß im Hintergrund ein völlig neues System lief. Die VHV hatte im Galopp die Pferde gewechselt.

Die neuen Clients arbeiten sowohl unter Windows 3.11 als auch mit NT. Deshalb ließ sich der wegen des Jahr-2000-Problems unumgängliche Austausch der 350 Sachbearbeiter-PCs unabhängig von dem Systemwechsel vornehmen.

Zudem kann die VHV jetzt Standards einsetzen, wo immer das möglich ist. Das erhöht die Flexibilität und senkt die Kosten. Abgesehen vom Großrechner gibt es im Unternehmen nur noch NT-Server. Die neuen Jukebox-Speicher sind deutlich preisgünstiger als die vorher genutzten Worm-basierten Zwölf-Zoll-Datenträger; sie bieten außerdem die Möglichkeit, durch einen simplen Austausch der CD-Laufwerke auf DVD-Platten zu migrieren, sobald hier Standards definiert sind.

Jetzt kann die VHV ihr Dokumenten-Management beinahe unbeschränkt ausbauen. Der Cache des Archiv-Servers läßt sich ohne Neukonfiguration vergrößern. Die integrierte Cache-Verwaltung legt alle Dokumente, die gescannt oder abgefragt werden, automatisch zuerst in diesem Bereich ab. So sind auf der Festplatte stets die aktuellsten Seiten gespeichert.

Etwa 95 Prozent der rund 60000 Dokumentenzugriffe pro Tag werden aus dem Cache bedient. Zwischen der Anforderung und der Anzeige am Arbeitsplatz des Sachbearbeiters vergehen durchschnittlich weniger als 1,5 Sekunden.

Die CDs für das Langzeitarchiv werden nachts automatisch gebrannt. Benötigt ein Sachbearbeiter eines der dort abgelegten Dokumente, kann er es über den Host anfordern und erhält es am nächsten Tag.

Der gesamte Workflow wird über eine Host-Anwendung ("Referenzsystem") abgebildet. Hier sind die Prozesse definiert, von hier kann auf die unterschiedlichen Programme und Datenbestände - Vertrags- und Transaktionsdaten ebenso wie optoelektronisch archivierte Dokumente - zugegriffen werden.

Die Arbeit mit elektronischen Dokumenten ist nur dann effizient, wenn der Sachbearbeiter mit seinem Client sowohl die elektronischen Dokumente als auch die Hostdaten bearbeiten kann. Für Mitarbeiter, die keinen Zugang zum Host haben - beispielsweise in den Kundenzentren - wurde eine "Light"-Version des Client entwickelt, mit dem sich Dokumente direkt aus dem Archiv-Server abrufen lassen.

Druckaufträge werden von drei zentralen Druck-Servern in der Poststelle automatisch abgearbeitet. Beim Schriftverkehr mit dem Kunden hilft die Möglichkeit, das eingegangene Schreiben oder Formular als Kopie in den Antwortbrief einzufügen. Dank dieser "Wiedererkennung" gibt es wesentlich weniger Rückfragen.

In den nächsten Monaten sollen zunächst die Zweigniederlassungen in Berlin und München an das DMS angebunden werden, gefolgt von den Privatsparten und dem Schadensbereich. Die regionalen Niederlassungen erhalten denselben Komfort wie die Zentrale: Dank der Standard-Schnittstellen lassen sich dort kostengünstige NT-Systeme installieren, auf denen die Dokumente ebenfalls direkt im Cache gespeichert sind. Ist ein Dokument nicht verfügbar, wird auf den Archiv-Server in der Zentrale zugegriffen. Aus diesem Konzept ergibt sich gleichzeitig ein Backup: Falls das System vor Ort einmal ausfällt, können die Mitarbeiter auf das Zentralsystem ausweichen.

Mittelfristig soll das Auskunftssystem auch über das Intranet bedient werden. Dazu entwickelt die VHV derzeit einen Browser-Client. Geplant ist außerdem, eingehende Faxe direkt ins optoelektronische Archiv weiterzuleiten. So soll sukzessive in allen Bereichen des Unternehmens das Papier überflüssig werden.

DAS SYSTEM

Das Dokumenten-Management der VHV nutzt folgende Systemkonfiguration:

-Server-Hardware: zwei Compaq Proliant 6500 (viermal 450 Megahertz Pentium Xeon, 1 GB RAM, Raid-Controller) mit Standby-System;

-Betriebssystem: Windows NT 4.0 Server;

-Jukebox: zwei ASM CDR 1424 (24 Laufwerke, 1587 Slots, zirka 1000 GB);

-CE Archiv Server 3.1 mit Zusatzkomponenten für Jukeboxsteuerung, Caching und Medienspiegelung;

-Datenbank-Server: Compaq Proliant 6500 (viermal 450 Megahertz Pentium Xeon, 1 GB RAM, Raid Controller) mit Standby-System unter Windows NT 4.0 Server mit Oracle 8.

Die VHV

Die ursprünglich als Spezialversicherer der Bauwirtschaft gegründete VHV-Gruppe ist heute auch einer der größten deutschen Auto- und Haftpflichtversicherer - mit 38 verschiedenen Versicherungsarten, rund 4,2 Millionen Verträgen und mehr als 2000 Mitarbeitern. Neben der Hauptverwaltung in Hannover ist die VHV bundesweit mit Zweigniederlassungen in Berlin und München sowie fünf Regionaldirektionen, 36 Geschäftsstellen und drei Kunden-Centern vertreten. Daneben arbeitet die VHV mit mehr als 9000 Versicherungsvermittlern zusammen.

*Joachim Kober leitet die Abteilung Informatik-Anwendungen, Dr. Ludwig Büsing die Grundsatzabteilung Kfz-Betrieb der Vereinigte Haftpflicht Versicherung, Hannover.