Windows NT sorgte fuer hektische Aktivitaet im Networking-Geschaeft

1993: Ein Rueckblick auf Allianzen und uebereilte Produkt-Releases

24.12.1993

MUENCHEN - Endgueltig vorbei mit der scheinbaren Ruhe im Networking- Business war es im Verlauf des zurueckliegenden Jahres. Hatten sich bis dahin die einzelnen Companies in abgesteckten Claims - Novell beackerte das LAN-Feld, Artisoft suchte sein Auskommen im Peer-to- peer-Networking, waehrend Banyan die Enterprise-Klientel bediente - ihre Pfruende gesichert, so begann nun Microsoft mit der Ankuendigung von Windows NT als neuer unternehmensweiter Connectivity-Basis die bestehende Ordnung durcheinanderzuwirbeln.

Herrschte 1992 hektische Betriebsamkeit in den Entwicklungslaboratorien, so uebernahmen 1993 die Strategen und Marketiers das Steuer im stuermischer werdenden Netzwerkgeschaeft. Mit immer frueheren Produktankuendigungen versuchten sie, sich im Spiel um Marktanteile gegenseitig auszustechen. Beim Pokern war so ziemlich jede Kombination willkommen: Immer neue Allianzen und Kooperationen jagten sich gegenseitig, so dass selbst Insider Muehe hatten zu verfolgen, wer denn nun mit wem welche Partnerschaft gegen wen eingegangen war.

Darueber hinaus bestimmten im wesentlichen vier Trends das Marktgeschehen: Die Netzwerk-Betriebssysteme (Network Operating Systems = NOS) fuer LANs wurden in ihrem Funktionsumfang in Richtung Enterprise- und Internetworking erweitert. Peer-to-peer- Systeme wurden in den Koepfen und Hochglanzbroschueren der Hersteller zu den neuen NOS fuer flache Unternehmenshierarchien hochstilisiert. Als Drittes erkannten die Hersteller dann, dass mit entsprechenden Netzwerk-Management-Plattformen, die das Chaos wieder beherrschbar machen, zusaetzlich Geld zu verdienen war. Vierter Trend war der Erwerb von Firmen und deren Know-how.

Der Uebernahme durch Microsoft gerade entronnen, griff Marktfuehrer Novell bei den Firmenaufkaeufen besonders tief in die Tasche. Die Netzwerker aus Provo waren bei ihren Unternehmensakquisitionen, beispielweise von Unix Systems Laboratories (USL), Serius oder Fluent, so erfolgreich, dass sie im dritten Quartal des Geschaeftsjahres einen Verlust von 255,4 Millionen Dollar ausweisen mussten.

Banyan stahl Novell mit Vines 5.5 die Show

Aber gehen wir chronologisch vor. Noch im tiefsten Winter uebernahm die Mannschaft um Ray Noorda die USL, um sich fuer den erwarteten Schlagabtausch mit Microsoft und seinem Windows NT im Segment der Server-Betriebssysteme zu ruesten. Bereits auf der ersten Networld des Jahres in Boston stahl dem frischgebackenen Unix-Lizenzgeber aus Provo allerdings ein anderer Konkurrent die Show: Banyan gab die Auslieferung von "Vines 5.5" bekannt.

Im Wettlauf um die Ankuendigungen fuer neue NOS im Bereich Enterprise Networking hatte Banyan damit erst einmal die Nase vorn. Neben zusaetzlichen Funktionen der Global Directory-Services "Streettalk III" bot das neue Release einen besseren Support fuer Clients, die unter den Desktop-Betriebssystemen DOS, Macintosh, OS/2, Windows und Windows fuer Workgroups laufen. Darueber hinaus erhielt Vines 5.5 erweiterte WAN-Features wie die Unterstuetzung der Server-zu-Server-Kommunikation via ISDN und T1 sowie Source- Level-Routing bei Remote-Token-Ring-Bridging. Fast noch wichtiger war jedoch fuer manchen Anwender, dass es Banyan mit dem Release 5.5 gelang, die inkompatiblen Versionen Vines 4.1 und 5.0 zusammenzufuehren und die Implementierung von APIs den Programmierern erlaubte, Daten aus Streettalk in Directory- basierte Applikationen wie zum Beispiel Lotus Notes zu integrieren.

Ohne viel Aufsehen zu erregen, gab Novell dann im Maerz die Jagd auf den bisherigen Platzhirsch Vines frei. Mit dem englischen Release von Netware 4.0 wollte die Mormonen-Company kraeftig im Enterprise-Networking-Revier wildern. Vor allem die neuen Directory-Services sollten die Anwender zur Migration auf Netware 4.0 bewegen. Diese Dienste ersetzen die gewohnten Bindaries und basieren auf einer verteilten Datenbank, in der alle Informationen ueber Anwender, Gruppen, Ressourcen etc. als Objekte in einer hierarchischen Baumstruktur angelegt und auf die Fileserver im gesamten Netz verteilt werden.

Gleichzeitig mit der Auslieferung von Netware 4.0 machte bereits eine neue Betaversion aus Provo die Runde. Netware 3.12 sollte den Anwendern signalisieren, dass Netware 3.11 noch nicht tot sei. Darueber hinaus dokumentierte das fruehe Erscheinen des Beta-Release deutlich, dass selbst die Mannschaft um Ray Noorda nicht restlos vom Erfolg der neuen Version 4.0 ueberzeugt war.

Zumal in Provo bereits kurz nach der Auslieferung, der guten alten Tradition der Upgrade-Patches folgend, an Netware 4.0 herumgedoktert wurde. Schwierigkeiten machten vor allem das neue Directory-Management und die Integration von Netware-2.X und 3.X- LANs. Waehrend bereits erste Geruechte ueber ein zu erwartendes Upgrade kursierten, wurden Consulting-Firmen wie die Boston Group nicht muede, die Anwender vor einem vorschnellen Netware-4.0- Einsatz zu warnen.

Als die Anwender schon mit den Tuecken der bereits ausgelieferten Netware 4.0-Version kaempften, glaenzte Windows NT weiterhin durch Abwesenheit. Zwar praesentierte Microsoft auf Messen wie der CeBIT immer wieder neue Betaversionen, doch der endgueltige Auslieferungstermin wurde ein ums andere Mal verschoben. Zu gross schienen die Probleme des als "Not There" bespoettelten Betriebssystems zu sein.

Noch bevor Microsofts neues NOS im Spaetsommer das Licht der Welt erblickte, war die Netzwerkszene bereits um eine weitere Netware- Version reicher. Mit Netware 4.0.1 lieferten die Roten aus Provo bereits nach drei Monaten das erste Upgrade aus, das nach Angaben des Hauses mehr als ein reines Bugfix ist. Fuenfsprachigkeit, verbesserte VLMs, erweiterte Directory-Services, Utilities fuer den OS/2 Presentation Manager sowie ueberarbeitete Internetworking- und WAN-Funktionen waren die wesentlichen Neuerungen des Release. Ein kleiner Schoenheitsfehler truebte allerdings die Innovation: Die Nachfolgeversion war aufgrund der geaenderten Directory-Services nicht kompatibel zu Servern, die unter Netware 4.0 liefen.Im September war es dann soweit, das Ereignis des Jahres, das im Netzwerk-Business bei den Konkurrenten fuer hektische Aktivitaeten gesorgt hatte, stand an: Bill Gates praesentierte seine Vision des modernen Networkings. Nach dem erfolglosen LAN Manager, dessen endgueltiges Aus heftig dementiert wurde, sollte NT nun fuer neuen Schwung im Netzwerkgeschaeft der Redmonder sorgen.

Im Gegensatz zu den Konkurrenten Novell und Banyan, die zur Verwaltung unternehmensweiter Netze auf Directory-Services setzen, favorisiert die Microsoft-Mannschaft das Domain-Konzept, bei dem sich die einzelnen LANs gegenseitig Rechte zugestehen. Um den Anspruch eines offenen NOS zu unterstreichen, warf Microsoft das uebliche Konzept der monolithischen Protokoll-Stacks ueber Bord und fuehrte mit der "Network Driver Interface Specification" (NDIS) ein modular aufgebautes Protokoll ein.

Die Szene war noch in die Diskussion um die Vor- und Nachteile des NT-Konzepts vertieft, als die Marketing-Abteilungen der Anbieter im Spaetherbst bereits zum naechsten Schlag ausholten: Nachdem den Anwendern endlich die Vorteile des Client-Server-Computings erfolgreich eingebleut waren, gingen die Strategen daran, das Peer-to-peer-Konzept salonfaehig zu machen.

Die im Verlauf des Jahres 1993 vom Mainframer zur "LAN-Company" mutierte IBM kuendigte quasi als Abfallprodukt aus der Entwicklung des LAN Servers 3.0 ein eigenes Peer-to-peer-Produkt an. Microsoft brachte das Release 3.11 von Windows for Workgroups auf den Markt, und Novell steht mit "Personal Netware", dem Nachfolger von Netware Lite, bereits in den Startloechern.

Derartig in die Enge getrieben, suchte Artisoft, bisher Klassenprimus im Peer-to-peer-Networking, neue Betaetigungsfelder. Nach einem achtprozentigen Marktanteilsverlust entdeckte die Company nun ebenfalls das Corporate-Network-Business. So kuendigte das Unternehmen einen Dedicated Server fuer das "Distributed Networking" an und stellte, nachdem mit Lantastic 5.0 gerade erst eine neue Version am Markt plaziert wurde, bereits die Nachfolgeversion 6.0 fuer das erste Halbjahr 1994 in Aussicht.

Nach einem stuermischen 1993 setzt IBM neben Artisoft bereits das Ankuendigungsspiel fuer das Jahr 1994 fort. Im Januar wollen sich die Armonker mit dem LAN Server 4.0 im Enterprise Networking zurueckmelden und dann auch das Distributed Computing Environment (DCE) der Open Software Foundation (OSF) unterstuetzen. Ebenfalls im Januar sollen erste Betaversionen von Windows NT 1.1 ausgeliefert werden. Geplant sind ein verbesserter TCP/IP-Support sowie eine gravierende Geschwindigkeitssteigerung.