Zukunft der IP-Netze: Die Latency-Falle

07.09.2006
Die Tage der pauschalen Internet-Angebote scheinen gezählt zu sein. Eine serviceorientierte Abrechnung des IP-Verkehrs wird immer wahrscheinlicher - oder der Anwender optimiert seinen IP-Traffic gleich in Eigenregie.
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Von CW-Redakteur Jürgen Hill

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Unter dem Schlagwort der "Netzneutralität" läuft in den USA derzeit eine Diskussion um die Zukunft des Internets. Vereinfacht ausgedrückt geht es dabei darum, dass Provider wie AT&T, Verizon oder Comcast von großen Internet-Unternehmen wie Google, Amazon oder Yahoo eine Art Internet-Maut fordern. Mit dieser sollen sich die Unternehmen an den Kosten für die Infrastruktur beteiligen, mit der sie ja selbst viel Geld verdienen, so die Intention der Provider. Die Idee einer stärkeren Beteiligung der großen Websites an den Infrastrukturkosten weckte prompt auch in Europa Begehrlichkeiten bei den Carriern. So ist es in Branchenkreisen ein offenes Geheimnis, dass die Telecom Italia und Telekom-Chef Kai-Uwe Ricke bereits bei der EU in Brüssel entsprechende Forderungen gestellt haben.

Auf den ersten Blick scheint dies überflüssig zu sein, denn längst ist auch unter Experten unumstritten, dass Moores Law ebenfalls für Netze gilt - sich also die verfügbare Bandbreite alle 18 Monate verdoppelt. Zudem berücksichtigt die Diskussion über Bandbreiten nicht die eigentlichen Probleme, mit denen das Internet bereits heute und künftig konfrontiert ist: Neben der Übertragungsleistung gewinnen Parameter wie die Varianz der Latenzzeiten immer mehr an Bedeutung und sind der eigentliche Knackpunkt, wie beispielsweise Untersuchungen der US-amerikanischen Brix Networks zeigen.

Das Unternehmen, das sich mit Echtzeit-IP-Applikationen befasst, stellte im Juli fest, dass sich die Sprachqualität von VoIP in den vergangenen 18 Monaten verschlechtert hat. Laut Brix wiesen von den knapp eine Million VoIP-Verbindungen, die über die Website überprüft wurden, zirka 20 Prozent eine inakzeptable Qualität auf - verglichen mit rund 15 Prozent vor einem Jahr.

Kampf um Ressourcen

Aus Sicht von Kaynam Hedayat, Technikchef bei Brix, liegt eine Ursache für diese Entwicklung darin, dass die Sprachdienste und andere Echtzeitanwen- dungen zunehmend mit Breitbandservices wie Video, Musik-Downloads oder interaktiven Spielen um Ressourcen im gleichen IP-Netz konkurrieren. Um das Übel in den Griff zu bekommen, müssten die Anbieter das Problem an der Wurzel angehen und sich mit den Gründen wie Jitter, Latency, Paketverlusten oder schlechter Round-trip Time (RTT) befassen. Ein geeignetes Mittel hierzu sieht Hedayat darin, dass bestimmte Verkehrsarten im Netz priorisiert werden und die Carrier dafür letztendlich eine Art zusätzliche Servicegebühr erheben.

Analyse der Traffic-Typen

Möglich wird dies durch eine junge Entwicklung, die Deep- Packet-Inspection-Technologie (DPI). Sie versetzt Provider allmählich in die Lage, in Echtzeit zu erkennen, welchen Verkehr die Anwender über ihre Netze transportieren - also ob sie gerade surfen, Mails abrufen, Skype nutzen, per VoIP telefonieren oder per P2P Daten austauschen. So ist Matt Jones, CEO von Cloudshield - sein Unternehmen baut DPI-Geräte - davon überzeugt, dass viele Netzanbieter angesichts von steigendem P2P-Verkehr oder DDoS- Attacken gar nicht mehr in der Lage sind, ihren professionellen Kunden eine Quality of Service (QoS) zu garantieren.

"Im Rahmen der Prototyp-Tests hat sich zur Überraschung vieler unserer Kunden herausgestellt, dass der P2P-Anteil in ihren Netzen mittlerweile bei über 70 Prozent liegt", ergänzt Paul Hoffmann, Vorstand der GTEN AG in Ismaning und deutscher Cloudshield-Partner. Sowohl Jones als auch Hoffmann sind deshalb davon überzeugt, dass in Zukunft nicht mehr die ein- fache Bandbreite tarifiert wird, sondern der darauf aufsetzende Mehrwertdienst in Form von Managed Services. Dies könnten etwa Firewall-Dienste sein oder aber einfach nur bessere Serviceklassen für VoIP oder Echtzeit- anwendungen wie R/3. "Dies ist ein Trend, den wir bereits heute bei einigen Carriern in Europa beobachten", so der Cloudshield-CEO, "wir sprechen also nicht über eine Entwicklung, die erst in zwei bis drei Jahren kommt."

Ähnlich schätzt man die Situation auch bei der israelischen Allot Communications ein. Das Unternehmen, das Systeme zum Management von Breitbandnetzen produziert, spricht bereits von der "Quality of Experience" (QoE) als dem neuen Qualitätsparameter für IP-basierende WANs. Grob vereinfacht soll er für die Anwender standortübergreifend dieselbe Reaktionszeit bei Anwendungen sicherstellen, als wenn sie im lokalen Netz arbeiten. Auch Frank Pieper, Managing Director bei AT&T Deutschland, ist davon überzeugt, dass professionelle Kunden bald mehr Geld bezahlen müssen, wenn sie einen besseren, qualitativ abgesicherten Transport ihrer Daten wünschen und sich nicht mit dem Standardservice des Internets begnügen.

Netze nicht ausgelastet

Nach Ansicht der im VATM organisierten deutschen Netzbetreiber zwingt die heute verfügbare Bandbreite aber noch nicht zu überstürzten Maßnahmen. "Die Netze sind deutlich unter 100 Prozent ausgelastet, so dass noch Luft drin ist. Ferner versprechen technische Entwicklungen einen weiteren Zuwachs an Bandbreite", fasst Wolfgang Heer, Pressesprecher beim VATM, die Stimmung unter den Mitgliedern zusammen. Allerdings schließen die hier organisierten TK-Unternehmen nicht aus, dass es künftig ein zweigleisiges Tarifmodell geben könnte: eine Flatrate für Consumer und kleinere Geschäftkunden, während Großkunden eher service- beziehungsweise nutzungsorientiert tarifiert werden, je nachdem, ob sie das Netz etwa zur Datenspeicherung oder für den Sprachverkehr nutzen. Letztlich dürfte die Bandbreite künftig von den Providern verstärkt als Managed Service mit unterschiedlichen Serviceklassen vermarktet werden.

Service on Demand

Vorstellbar sei aber auch, dass den Anwendern Bandbreite flexibel zur Verfügung gestellt wird - ein Modell, das für Saisonartikel-Hersteller interessant sein dürfte. Konsequent zu Ende gedacht, könnte das Ganze sogar zu einer tageszeitabhängigen Bepreisung führen - vergleichbar mit den Mondscheintarifen der Stromerzeuger.

Der Sprung zu Service on Demand wäre nicht weit - ein Gedanke, mit dem man sich auch bei der Telekom-Tochter T-Systems anfreunden könnte. "Das IP-Netz könnte künftig nur noch ein Träger- protokoll sein, auf dem dann kundenspezifische Services für Mail etc. aufgesetzt werden", zeichnet Ulrich Kemp, Sprecher der Geschäftsführung bei T-Systems, ein mögliches Bild der Zukunft.

Allerdings sollten die Anwender nicht unbedingt darauf warten, bis die Provider mit entsprechenden Angeboten auf den Markt kommen, denn etliche der heutigen Probleme in IP-Netzen sind durchaus hausgemacht. So geht man davon aus, dass innerhalb der Unternehmenskommunikation der weniger wichtige TCP/IP-Verkehr durchschnittlich pro Jahr um 25 Prozent zunimmt und dadurch die Performance der geschäftskritischen Anwendungen beeinträchtigt. Zudem, so gibt Michael Hartmann, Territory Sales Manager DACH & Eastern Europe bei Blue Coat Systems zu bedenken, "kommunizieren viele Anwendungsprotokolle wie beispielsweise CIFS oder MAPI sehr ineffizient im WAN, da sie ursprünglich für die Nutzung im LAN entwickelt wurden, und dies schlägt sich in einer hohen Latenzzeit nieder".

Dieses Phänomen fiel in den verteilten Client-Server-Struktu- ren der Vergangenheit kaum auf. Mit dem Trend zur Rezentralisierung und IT-Konsolidierung in wenigen Rechenzentren hat dies nun negative Auswirkungen auf die Performance. Dies wird laut Gerard Bauer, Managing Director Zentral- und Osteuropa bei Riverbed, noch durch eine an- dere Entwicklung verstärkt: Durch die Verlagerung von Standorten nach Osteuropa und Asien entständen häufig Datenverbindungen mit hohen Latenzzeiten.

In solchen Fällen ist den Unternehmen mit einer höheren Bandbreite nicht geholfen. Vielmehr ist ein effizientes Management der verfügbaren Bandbreite gefragt, um das leidige Latenzproblem in den Griff zu bekommen, so dass die Mitarbeiter vor Ort mit zentralen Applikationen wie Einkaufs- oder Inventarprogrammen arbeiten können. Konsequent umgesetzt können die Unternehmen, wie das Beispiel des Elektronikkonzerns LG Electronics zeigt, damit noch ihre Kommunikationskosten deutlich senken. So reduzierten die Koreaner mit Hilfe der Steelhead Appliances von Riverbed ihre Aufwendungen für das WAN um sechs Millionen Dollar.

Was dabei auf den ersten Blick nach Zauberei aussieht, hat seine technischen Wurzeln in den Anfangszeiten der Datenfernübertragung. Bereits damals versuchte man auf den langsamen, unzuverlässigen Modemver- bindungen, die Datenübertragung durch zusätzliche Mechanismen wie Kompression zu optimieren. Nichts anderes machen Hersteller wie Riverbed, Blue Coat Systems oder Ipanema heute auch - nur dass in den IP-Netzen effizientere und ausgeklügeltere Verfahren einge- setzt werden. Eine gebräuchliche Methode ist dabei neben der bereits angesprochenen Kompression das Byte-Caching. Hierbei werden bestimmte Byte-Muster - etwa Firmenlogos, um nur ein Beispiel zu nennen - vor Ort in der Niederlassung in einer Appliance zwischengespeichert, so dass sie nicht bei jedem Dokumentenabruf oder Mail-Versand erneut übertragen werden. Oder werden beispielsweise an einer 4 MB großen Powerpoint-Präsentation nur wenige KB verändert, so wird nicht mehr das ganze Dokument transportiert, sondern nur die Ände- rungen. Ein Sicherheitsrisiko entsteht dabei nach Darstel- lung der Hersteller nicht, da die Daten auf den Appliances ja nicht als Dokumente, sondern nur als Byte-Muster vorliegen würden.

Protokolle erfordern Tricks

Ein weiterer Ansatz ist die Protokolloptimierung, bei der etwa CIFS oder anderen Protokollen ihre "Geschwätzigkeit" abgewöhnt wird. Der Trick dabei ist, dass nicht mehr die ganzen Bestätigungspakete, die zu einer Erhöhung der Latenzzeit führen, über die Leitung übertragen werden. Vielmehr fassen die Appliances die entsprechenden Transfers zu einer Art Daten-Stream zusammen. Ferner werden häufig die eigentlichen TCP/IP-Übertragungsmechanismen optimiert und an die Gegebenheiten des jeweiligen Netzes angepasst.

Ziel all dieser Maßnahmen ist es dabei, die Latenzzeit zu senken sowie die verwendete Bandbreite zu reduzieren. Mit zu- sätzlicher Hilfe von Priorisierungsmechanismen sollen die Anwender so wieder in die Lage versetzt werden, auf ihren vorhandenen WAN-Verbindungen Echtzeitanwendungen zu fahren, ohne in kostspielige Er- weiterungen zu investieren. Bei der Wahl einer entsprechen- den Lösung sollte der User allerdings darauf achten, welche Protokolle (MAPI, CIFS etc.) wirklich optimiert werden und wie es um die Skalierbarkeit des Produkts bestellt ist. Ferner ist darauf zu achten, inwiefern sich bei dem jeweiligen Produkt die eigenen Performance-Zielvorgaben mit Hilfe von Regeln beziehungsweise Einstellungen verwirklichen lassen. Ein weiteres Entscheidungskriterium könnte noch die Frage sein, ob eine Punkt-zu-Punkt- oder eine Point-to-many-Lösung realisiert werden soll.