Wissenschaftsreport zur Internet-Ökonomie

Wissenschaftsreport zur Internet-Ökonomie Das Web-Business läßt keine Branche ungeschoren

29.01.1999
MÜNCHEN (fn) - Um im Internet Erfolg zu haben, müssen sich Firmen vieler Branchen von traditionellen Geschäftsmustern verabschieden. Erfolgversprechend sind ungewöhnliche Geschäftsstrategien, die temporären Verzicht auf Umsatz sowie das Verschenken von Produkten einschließen.

"Kein Bereich der Wirtschaft kann sich dem Sog der Vernetzung entziehen", heißt es im Bericht "Die Internet-Ökonomie - Strategien für die digitale Wirtschaft". Herausgegeben wurde er vom European Communication Council (ECC), einer Gruppe von Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaftlern, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, aus der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion Trends für die Medien- und Kommunikationsindustrie abzuleiten. Die Forscher schätzen, daß in den nächsten fünf Jahren mindestens ein Drittel aller Arbeitsplätze in Deutschland von der Internet-Ökonomie tangiert sein wird. Dies treffe insbesondere auf Branchen zu, die Inhalte erzeugen. Dazu zählen die Medien sowie die Software-, Musik-, Video- und Literaturindustrie. Auf neue Gegebenheiten müssen sich aber auch die Telekommunikationsindustrie, Banken, Handel, Versicherungen sowie die Touristikbranche einstellen. Zwar fallen durch das Internet Jobs weg, dafür werden jedoch neue entstehen. "Ob die Arbeitsplatzbilanz am Ende positiv ist, hängt davon ab, wie schnell sich die Wirtschaft hierzulande auf das Internet einstellen kann", meint ECC-Mitglied Klaus Schrape. Der Universitätsprofessor ist Leiter des Bereichs Medien und Kommunikation bei der Prognos AG in Basel.

Manche mögen das Web lediglich als einen weiteren Vertriebskanal bezeichnen, tatsächlich, so die Kommunikationsexperten, stellt die Internet-Ökonomie klassische Marktmodelle auf den Kopf. In der Welt des Netzes steige der Wert einer Ware nicht durch Knappheit, sondern durch eine möglichst weite Verfügbarkeit.

Um eine entsprechende Sichtbarkeit im weltweiten Netz zu erlangen, waren Firmen aus traditionellen Branchen gezwungen, ihr angestammtes Marktsegment zu torpedieren, ehe ihnen der Wettbewerb zuvorkam. Angesichts der Übermacht des Internet-Buchladens Amazon.com, mußte die größte amerikanische Buchhändlerkette Barnes & Noble ebenfalls in den Web-Vertrieb einsteigen. Also machte sich das Unternehmen im eigenen Kerngeschäft Konkurrenz. Bertelsmann befindet sich in einer ähnlichen Situation. Der Online-Dienst AOL, an dem der Mediengigant beteiligt ist, erfreut sich besonders zur Primetime großer Beliebtheit. Zur gleichen Zeit haben aber auch die Fernsehsender, an denen die Gütersloher Anteile besitzen, ihre höchsten Einschaltquoten.

In der Zwickmühle stecken auch Telekommunikationsgesellschaften. Carrier wie die Deutsche Telekom oder AT&T sind gezwungen, neben herkömmlichen Sprachdiensten auch Internet-Telefonie anzubieten und sich damit selbst in Frage zu stellen. Mit dem Kannibalisierungseffekt allein ist es jedoch nicht getan. Nach Auffassung des ECC droht vielen Branchen die "Erosion traditioneller Wertschöpfungsketten". Jedes im Internet gekaufte Buch schmälert den Umsatz des klassischen Buchhandels, und jedes direkt von der Web-Site einer Fluggesellschaft bezogene Ticket bringt die Reisebüros um ihre Vermittlungsprovision.

Experten gehen davon aus, daß angesichts des zunehmenden elektronischen Direktvertriebs, auch Disintermediation genannt, schlechte Zeiten für Händler anbrechen. Delta Airlines kündigte sogar an, die Preise für herkömmliche Bestellungen von Flugscheinen um zwei Dollar zu verteuern - wer seinen Flug nicht im Internet bucht, wird bestraft. Einige Firmen machen aus der Not eine Tugend. Beispielsweise entwickelt das deutsche Unternehmen Fao http://www.fao.de Systeme für interaktive Reisebuchungen im Web. Außerdem betreibt die Firma ein virtuelles Reisebüro.

Verschenken als Strategie

Wer im Web erfolgreich sein will, muß laut ECC den Geschwindigkeitswettbewerb gewinnen. Nach Ansicht des Yahoo- Firmenchefs Tim Koogle beträgt der Vorsprung, den ein Unternehmen durch eine neue Technik erlangen kann, mittlerweile nur noch 60 Tage. Daher gelte es, möglichst schnell viele Kunden zu gewinnen. Softwarehersteller wie Netscape, Microsoft oder McAfee verschenken deshalb wichtige Produkte. Ein Unternehmen ist so in der Lage, in kurzer Zeit eine Quasi-Monopolstellung zu erlangen. Mit dem Verteilen kostenloser Programme schaffen sich die Anbieter zudem einen Absatzmarkt für kostenpflichtige Zusatzdienste und - produkte. Aus diesem Grund bringt der Online-Dienst AOL unzählige CDs und Disketten unter das Volk, mit denen Konsumenten 50 Stunden lang unentgeltlich surfen können. Nach Ablauf der Freistunden kann der User entscheiden, ob er AOL-Mitglied werden möchte. Die Strategie scheint aufzugehen: America Online zählt mittlerweile 15 Millionen Abonnenten und ist damit unangefochtener Marktführer. Netscape versucht, seitdem der Browser nichts mehr kostet, über dessen installierte Basis das eigene Server-Geschäft anzukurbeln.

Der rasche Wandel in der Netzökonomie zwingt Firmen zu Kooperationen. Deshalb bezeichnen die Wissenschaftler das "Koppeln der Wertschöpfungsketten aus verschiedenen Branchen" als eine weitere Ausprägung der digitalen Wirtschaft. Beispielsweise arbeiten Banken mit Internet-Service-Providern (ISPs) zusammen, um den Kunden Telebanking über das Web anbieten zu können. Die Kreditinstitute verringern so die Kosten für die Abwicklung von Finanztransaktionen. Gleichzeitig kann der Provider je nach Vertragsgestaltung an jeder Internet-Überweisung verdienen. Nicht ohne Grund hat die Deutsche Bank Interesse an einer Übernahme des TV-Kabelnetzes der Telekom. Aus den gleichen Beweggründen schlossen Kreditinstitute in den USA Verträge mit Web-Portalen. So kassierte Excite 125 Millionen Dollar vom US-Geldinstitut Bank One. Als Gegenleistung darf die Bank ihre Finanzdienste über die Homepage vertreiben.

Erheblichen Einfluß hat das Online-Business zudem auf die Produktgestaltung. Zeichnete sich bisher der Branchenprimus entweder als Qualitätsanbieter oder Kostenführer aus, macht die Internet-Ökonomie beides möglich. Beispielsweise bietet der Internet-Musikvertrieb CD-Now eine große Auswahl an Tonträgern. Gleichzeitig kann der Nutzer in einer Online-Datenbank stöbern und sich Musik heraussuchen lassen. Trotzdem unterbietet der Web-Shop die Preise des Musikladens um die Ecke, da die Infrastruktur des virtuellen CD-Vertriebs weniger kostet und die Zwischenstufe des Handels ausgespart wird.

Eine weitere typische Ausprägung der Netzwelt ist das vom amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Hal Varian von der kalifornischen Berkeley-Universität definierte "Versioning". Dabei versuchen Anbieter, mit unterschiedlichen Versionen eines Produkts Geld zu machen. Zwar findet dieses Versioning bereits heute statt, etwa bei den Modellreihen der Automobilhersteller, doch das Internet erweitert die Möglichkeiten enorm. Beispielsweise berechnet das US-Unternehmen Pawws Financial Network monatlich 50 Dollar für die Zustellung der aktuellen Wallstreet-Börsenkurse über das Web in Echtzeit. Dagegen kostet es nur rund 21 Dollar, wenn der Empfänger bereit ist, die gleichen Aktieninformationen mit 20 Minuten Verzögerung zu erhalten.

Die Interaktion mit den Kunden stellt nach Ansicht des ECC eine der größten Herausforderungen dar. Das Internet entwickelt sich zu einem individualisierten Massenmedium. Bereits heute erhalten Besucher von Web-Portalen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Informationen oder Angebote. Beispielsweise beliefert "My Yahoo" den Surfer mit News, die auf sein Nutzerprofil zugeschnitten sind. Der Online-Buchladen Amazon.com setzt die Kundeninteraktion verkaufsfördernd um: Wer ein Buch erwirbt, wird darüber informiert, welche Literatur andere Kunden, die denselben Schmöker bestellten, sonst noch gekauft haben.

In Europa muß sich zwar noch viel tun, in Sachen Datenschutz und Sicherheit ist man diesseits des Atlantiks jedoch weiter als in den USA. Beispielsweise trat 1998 eine EU-Richtlinie in Kraft, die den Schutz personenbezogener Daten regelt. Vergleichbares kann Amerika nicht aufweisen. Dort wird immer noch diskutiert, ob der Datenschutz nun Sache der Politik ist oder ob eine Selbstverpflichtung der Industrie ausreicht. Zudem dürfen deutsche Firmen Produkte mit starker Verschlüsselung einsetzen und exportieren, während dies in den USA aus Gründen der Verbrechensbekämpfung limitiert ist. Unzureichende Sicherheit hält jedoch sowohl Konsumenten als auch Unternehmen davon ab, im Internet einzukaufen. Die amerikanische Industrie befürchtet sogar, dadurch auf dem internationalen Markt ins Hintertreffen zu geraten.

Regulierung blockiert

Noch sind es vor allem amerikanische Firmen, die im Web von sich reden machen. Damit der Internet-Dampfer auch in Europa endlich Fahrt aufnimmt, müssen nach Meinung des ECC viele Regulierungsmodelle über Bord geworfen werden. Beispielsweise verträgt sich das Verschenken von Softwareprodukten nicht mit den bisherigen Bestimmungen gegen unlauteren Wettbewerb. Ferner müsse der Begriff der Marktbeherrschung neu definiert werden, wenn Unternehmen gleichzeitig Konkurrenten und Kooperationspartner sind. Genausowenig paßt der Effekt der Selbst-Kannibalisierung in das Schema der europäischen Verordnungen.

Besonders in Deutschland seien Entscheidungskompetenzen zu stark verteilt. Allein für die Regulierung des digitalen Rundfunks sind sieben nationale beziehungsweise europäische Gremien zuständig.