Wirth: "Irgendwann einmal geht es nicht mehr weiter"

24.11.1989

Mit dem " Vater von Pascal" sprachen Sandra Stocker und Dieter Eckbauer

Informatik in Wissenschaft und Wirtschaft, Programmiersprachen, professionelle Software-Systeme und ein Ausblick auf die Zukunft des Computers sind die Themen des Interviews mit Nikolaus Wirth. Der Entwickler von Pascal präzisiert seine Vorstellungen, "wie es gemacht werden muß". Wirth fordert, mit Veränderungen jetzt anzufangen.

CW: Professor Wirth, wie beurteilen Sie als ein Vertreter der Universität die Unterschiede zwischen dem Stand der Informatik-Forschung und dem "State of the Art"-Niveau der kommerziellen Informatik?

Wirth: Ich bedauere es, wenn diese Trennung stark hervortritt. Wenn wir in einer Ingenieurwissenschaft nichts mehr hervorbringen, wofür sich die Praktiker interessieren, dann ist das eine Bankrotterklärung.

CW: Haben die Universitäten nicht selber Schuld an der geringen Akzeptanz neuer Ideen?

Wirth: Der Fehler liegt nicht ausschließlich bei den Akademikern, aber sicher zu einem großen Teil. Ich habe da aber ein reines Gewissen. Es gibt wenige Professoren der Informatik, die noch selber programmieren - ein Mißstand. Ich habe immerhin mit meinem Kollegen Gutknecht zusammen ein ganzes Betriebssystem, Compiler, Editoren für Texte, Grafiken und Dokumente, ein verteiltes Netzwerksystem für elektronische Post und für Dateiservice eigenhändig programmiert und Publikationen über dieses System existieren bereits in größerer Anzahl. Wenn die Herren aus Industrie, Handel und Banken davon keine Kenntnis nehmen wollen, dann steht es nicht in meiner Macht, ihnen die Ohren langzuziehen.

CW: Vielleicht sind Ihre Arbeiten in der Wirtschaft nicht bekannt genug?

Wirth: Die Ideen sind realisiert, sie können besichtigt und gelesen werden. Wie sie konkret in einen Betrieb eingehen können ist eine andere Frage. Es kann doch nicht meine Aufgabe sein alle x-beliebigen Interface-Programme zu entwickeln, die unser System mit dem Programm XYZ des Betriebes ABC kompatibel machen. Das ist nichts Wissenschaftliches.

CW: Damit geben Sie indirekt denjenigen recht, die den Universitäten vorhalten, die Forschung orientiere sich nicht am Markt, die Ausbildung sei demzufolge nicht praxisgerecht.

Wirth: Wir geben uns Mühe, den Studenten möglichst Dinge zu vermitteln, die von langfristiger Bedeutung sind. Dabei lernen sie dann an Beispielen, mit heutigen Systemen zu arbeiten. Wir nehmen an, daß Studenten, die mit den gültigen Grundaspekten vertraut sind, sich mit ihrer Intelligenz sehr rasch in ein System einarbeiten können. Das gilt für Programmiersprachen, für Betriebssysteme und zum Teil auch für Hardwaresysteme.

CW: Und die wissenschaftliche Seite der Informatik?

Wirth: Es ist an den Universitäten unsere Pflicht, nach neuen Ideen zu suchen, nicht nach neuen Ideen um ihrer selbst willen, das ist dann der Elfenbeinturm, sondern nach neuen Ideen, die bestehende Probleme lösen. Wenn wir das tun, dann gibt es diese Bankrotterklärung der Informatik nicht. Aber ich sehe auch an den Universitäten eine zunehmende Tendenz, diesen Mut nicht mehr aufzubringen und sich mit den Dingen, wie sie sind, zu arrangieren.

CW: Sie, Professor Wirth, teilen diesen Pessimismus nicht. Was wäre zu tun?

Wirth: Ich finde, wir sollten bestehende Probleme aufgreifen und lösen, in der Freiheit, daß wir keine Rücksicht auf bestehende Systeme und Konventionen nehmen müssen, die die Lösung verhindern. Wir haben oft bewiesen, daß wir mit neuen Ideen echte Lösungen, echte neue Systeme erschaffen können. Wenn dann die übrige Welt sich entscheidet, dies zu ignorieren, dann ist es zwar bedauerlich, aber ich glaube nicht daß wir den Kurs ändern sollten. Hingegen habe ich wiederholt schon festgestellt, daß sogenannte "neue Ideen", die mit großen Fanfaren aus Amerika kommen, sich hier unreflektiert breitmachen .

CW: Sie sind der "Vater von Pascal". Ging es Ihnen bei der Entwicklung der Programmiersprache in den sechziger Jahren um Logik und Schönheit oder mehr um Anwendbarkeit?

Wirth: Ich glaube nicht, daß sich das ausschließt. Im Gegenteil, es ist etwas um so anwendbarer, je sauberer es konzipiert ist. Das gilt für Praktiker ebenso wie für Theoretiker. Ganz konkret habe ich damals mit Pascal eine Sprache schaffen wollen die sich für den Unterricht eignet. Man hat damals noch in einer Zeit gelebt, in der man die Hälfte eines Einführungskurses mit Trivialem verbringen mußte, um den Studenten den Zugang zum Rechner zu ermöglichen Das Thema waren Details wie "Wie muß das Kartenformat sein?" und "Wie ist das Login?" - also Details, die man nachher wieder vergessen mußte, weil ein anderes Computer-System andere Konventionen hatte. Meine Absicht war, das Wesentliche, das Bleibende festzuhalten, darum wollte ich eine Sprache schaffen, in der die Trivialitäten in den Hintergrund treten und die wesentlichen Dinge in den Vordergrund, wie es eigentlich für ein akademisches Niveau erforderlich ist.

CW: Also Pascal als Sprache für die Lehre?

Wirth: Auch. Aber abgesehen davon wollte ich eine Sprache schaffen, in der wir unsere Systeme besser, klarer, sauberer und effizienter konzipieren können.

CW: Sie entwickelten später die Programmiersprache Modula, warum?

Wirth: Ich habe natürlich mit der Zeit gemerkt, daß Pascal zwar gut für den Unterricht geeignet ist, aber bei wirklich größeren Systemen wesentliche Punkte ausläßt. Das hat dann zu Modula geführt. Die Sprache kam etwa zehn Jahre später hervor, man hätte sie eigentlich auch Pascal II nennen können. Kommerziell gesehen wäre das richtiger gewesen.

CW: Nach Modula entwickelten Sie das modulare Betriebssystem Oberon und die gleichnamige Sprache. Können Sie kurz die Neuentwicklung Oberon beschreiben?

Wirth: Oberon ist die Weiterentwicklung von Modula 2. Es entstand aus einem Projekt, welches ich mit dem Kollegen Gutknecht vor vier Jahren begann. Wir entwickelten ein neuartiges Betriebssystem von Grund auf;

mit dem Hauptziel, ein in jedem Detail erklärbares System zu schaffen. Es wurde nötig, eine eigene Sprache zu definieren, weil in Modula 2 die Typenerweiterung fehlte, analog zu der Vererbung in der objektorientierten Programmierung. Nach dem Modus "so einfach wie

möglich" haben wir die Dinge aus Modula 2 entfernt, die wir selber kaum brauchen.

CW: Was war für Sie der Anstoß strukturierte Programmiersprachen entwickeln?

Wirth: Für mich war die Sprache nie der Endzweck, sondern ein Werkzeug, um Methoden und Ideen, die sich entwickelt haben ohne Umstände wirklich anwenden zu können. Ich habe das Konzept der strukturierten Programmierung eigentlich schon immer verfolgt, schon damals mit Algol, das dem Pascal voranging. Diese Ideen haben sich entwickelt in Kontakt mit Kollegen, die ich vor allem in der Algol Working Group kennenlernte, besonders Dikstra und Hoare. Der Hauptanstoß zur Entwicklung von Pascal, der vor allem von Hoare ausging, war die Idee, die Strukturierung nicht nur auf den Algorithmus zu beziehen, sondern auch auf die Daten. Das ist absolut einleuchtend. Da habe ich gedacht:

Das fehlt vor allem in Algol, das muß eine Sprache enthalten.

CW: Gibt es "die beste" Programmiersprache?

Wirth: Heute hat man sich damit abgefunden, daß es mehrere Sprachen gibt. Es gibt kein anderes Instrument auf der Welt, das so universell einsetzbar ist wie der Computer und so viele verschiedenartige Probleme anpackt. Da ist der Gedanke, daß es eine "beste" Sprache gehen sollte, einfach Utopie. Die richtige Sprache hängt von der Anwendung ab.

CW: Immer mehr Programme werden in C geschrieben. Wie beurteilen Sie diese Sprache?

Wirth: C ist vor allem durch Unix bekanntgeworden, denn Unix ist ja in C programmiert und es ist immer vorteilhaft, wenn Sie die gleiche Sprache verwenden wie das Betriebssystem. C läßt strukturierte Programmierung zu, genau wie Assemblercode, aber es unterstützt sie nicht. Mehr Disziplin als selbst gute Programmierer aufbringen ist nötig, um Fehler zu vermeiden .

CW: Wie erreicht man diese Disziplin?

Wirth: Der Vorteil einer echten höheren Programmiersprache, und dazu zähle ich C nicht, ist der, daß die Sprachregeln vom Compiler überprüft werden können. Das Allerwichtigste sind die Regeln über die Datentypen, dort passiert viel. Ein Großteil des Compilers einer höheren Programmiersprache beschäftigt sich mit Typenüberprüfung. Eine Sprache, die strukturiertes Denken zuläßt, ist nicht genügend, sondern sie muß den Compiler in die Lage setzen, es zu überprüfen.

CW: Manchmal benötigt man doch Typumwandlungen. Wie sollte man das, realisieren ?

Wirth: Es muß sofort klar sein, daß solche Dinge benutzt werden. In Modula wird das gemacht, indem man das Modul "System" importieren muß. Leider hatten wir auch in Modula Typentransfer-Funktionen, wo man das nicht tun muß. Es sollte immer klar im Kopf eines Moduls ersichtlich sein: Hier werten, unzulässige, das heißt Systemabhängige Dinge gemacht!

CW: Programmierer verwenden aber diese Funktionen gerne....

Wirth: Es ist eine Ironie des Schicksals: Ich habe versucht, mit Modula eine künstliche Ingenieurssprache zu entwickeln, die uns zwingt, strukturiert zu denken und keine Tricks zu verwenden, die uns also strikt an das Datentypen-Konzept bindet. Es gibt ein paar Möglichkeiten, die Bindung zu umgehen - das müssen Sie tun, wenn Sie ganz tief unten programmieren, zum Beispiel bei Device-Treibern und Storage-Allocation. Irgendwo müssen die Datentypen auf dem flachen Speicher abgebildet werden. Die Idee ist natürlich, daß es nur in ganz wenigen, untersten Modulen geschieht. Sehr viele Programmierer schätzen nun aber Modula gerade, weil diese Tricks zulässig sind. Die Leute können jetzt sagen, daß sie in einer höheren Programmiersprache programmieren, aber ihre alten Gewohnheiten trotzdem beibehalten können.

CW: Im Moment taucht der Begriff "objektorientierte Programmierung" immer häufiger auf: Was halten Sie von diesem neuen Konzept?

Wirth: Die objektorientierte Programmierung ist für mich nichts wirklich Neues. Ich habe 1976 für ein paar Übungen in Smalltalk programmiert. Die Idee entstand schon 1965 in Simula. Der Punkt ist, daß man jetzt konkrete Anwendungen für diese Technik gefunden hat wie Window-Systeme und neue Betriebssysteme. Aber daß da mit alles revolutioniert wird, ist bloß Aberglauben. Die Revolution wird durch Slogans propagiert, weil sich einige Leute erhoffen, daß sie damit reich werden können.

CW: Wie wirkt sich das aus?

Wirth: Zur Zeit gibt es Leute, die alle Programme verwerfen, die nicht objektorientiert sind. Sogar ein Ausdruck wie "3 +5", wird als Objekt angesehen, in dem man eine Meldung an das Objekt "3" schickt, 5 zu addieren. Das ist übertrieben. Wenn man nicht versteht, was an den neuen Prinzipien wichtig ist, beginnen uns die Methoden zu beherrschen, anstatt daß wir die Methoden beherrschen. Es geht mir nicht um Pascal versus Cobol oder Modula versus PL/1, sondern um saubereres Denken und Konzipieren. Außerdem geht es mir um den Mut zu einem Neuanfang. Denken Sie an die Entwicklung der Eisenbahn: Man hat ja moderne Lokomotiven auch nicht dadurch entwickelt, daß man bei alten Dampflokomotiven den Dampfkessel durch einen Elektromotor ersetzt hat. Ein "New Design" der Systeme wird unumgänglich sein.

CW: Sind die jetzigen Systeme unzulänglich?

Wirth: Es gibt schon Systeme, die funktionieren, aber sie sollten besser sein. Besser wären sie durch einen Neuanfang, dann kämen wir auch mit weniger Hardware aus. Wir haben viel zu viel Hardware. Jedes System sollte so einfach wie möglich gebaut werden. Nicht "einfach" sondern "so einfach wie möglich". Das ist etwas, was den Vorstellungen der meisten Leute zuwiderläuft. Man baut lieber ein System so kompliziert wie möglich und ein Käufer ist um so beeindruckter, je dicker das Manual ist, je mehr Features und Facilities beschrieben werden. Das ist der Fehler. Ein Manual, das einige hundert Seiten umfaßt, ist das Symptom einer Krankheit.

CW: Was für eine Krankheit?

Wirth: Bei Softwareprodukten ist ein riesiger Mangel an Wertschätzung für saubere, gut überlegte Arbeit vorhanden. Beim Programmieren ist Pedanterie sein Luxus, sondern unabdingare Notwendigkeit. Sie können noch so viele Methoden und Werkzeuge benutzen und beherrschen, wenn keine Sorgfalt da ist, nützt das alles nichts. Deshalb haben wir heute diesen Run auf Tools, man möchte diese mangelnde Sorgfalt durch mehr Tools ersetzten. Das geht leider nicht! Je besser ein Informatiker ist, um so mehr Nutzen bringen ihm die neuen Tools, aber wenn jemand nicht gut arbeitet, nützen auch die Tools nichts.

CW: Also liegt die Schuld beim Programmierer?

Wirth: Ein etwas zynischer Aspekt: Wenn alle Software-Arbeiten so perfekt gemacht würden, wie sie eigentlich gemacht werden müßten, dann würde plötzlich über viele der Inkompetenteren die Arbeitslosigkeit hereinbrechen. Je schlechter Informatiker und Programmierer arbeiten, um so mehr sichern sie sich ihre Arbeitsplätze, denn die Kunden sind abhängig.

Außerdem stehen die guten Leute- immer unter Zeitdruck. Die Anwender und oft auch die Manager der Software-Industrie, die Aufträge annehmen, wissen oft nicht, wieviel dahintersteckt und wie schwierig die Aufgabe eigentlich ist, wenn man sie sauber lösen will. Dann wird sie den Programmierern übergeben und die müssen sich irgendwie "durchwursteln". Sie tun das dann eben, oft mit dem Resultat, daß Strukturfehler darinstecken, die erst gelegentlich zu Tage treten.

Wenn das System erweitert, werden soll, wird etwas aufgepfropft und durch dieses "Aufpfropfen" treten neue Fehler in, weil man gewisse implizit gebliebene Bedingungen nicht mehr beachtet. In der Maschinenindustrie und der Elektronik ist sicher auch nicht immer alles perfekt, aber da Sie dort sichtbare Komponenten vor sich haben, deren Ersetzen etwas kostet, ist ein Anlaß gegeben, hier etwas sorgfältiger vorzugehen.

CW: Gibt es denn keine Lösungsansätze für dieses Problem?

Wirth: Es gibt durchaus eine Lobby für besseres Software-Engineering. Die Notwendigkeit von besseren Werkzeugen, besserem Vorgehen ist schon erkannt aber man will nichts weglegen, an das man sich schon gewöhnt hat und in das man schon viel investiert hat. Ich höre immer wieder, wie die Menschen, die die Produkte der Software-Industrie verwenden müssen, in Verwaltungen oder Fabrikbetrieben, sich beklagen, daß die Softwareprodukte zu teuer sind, daß sie mit Fehlern beladen sind, daß es fast unmöglich ist, sie an neue Bedingungen anzupassen. Die Leute sollen entweder gewisse neue Ideen aufgreifen und verwenden oder mit dem Klagen aufhören. Es ist einfach die alte Geschichte: Ich möchte unbedingt alle Vorteile dieser neuen Methoden und Techniken haben, aber bitte verlangt nicht, daß ich irgendwie umdenke!

CW: Also muß man in Sachen "Software-Engineering" Zweifel hegen, daß ein Fortschritt überhaupt möglich ist?

Wirth: Es besteht ein echtes Dilemma. Auf der einen Seite merken die Informatiker, daß Sie auf die alte Art und Weise in eine Sackgasse kommen, es geht nicht weiter Sie müssen neue Ideen anwenden, Sie müssen Ihre Systeme umstrukturieren und dazu neue Sprachen verwenden. Auf der anderen Seite haben Sie einen Betrieb, der darf keine Stunde unterbrochen werden, Sie müssen die Löhne ihren Leuten in diesem Monat zahlen und nicht in einem Jahr, Sie haben eine Datenbank, Sie müssen damit arbeiten, Sie können sie nicht über Bord werfen. Ich weiß nicht, wie lange das noch geht mit den Großsystemen, die immer mehr wachsen, indem man etwas aufpfropft. Ich weiß nicht, was da die Lösung sein soll - es gibt vielleicht keine.

CW: Wenn Sie nun für eine Lösung verantwortlich wären...

Wirth: Ich bin froh, daß ich kein Top-Manager der EDV-Abteilung einer Großbank bin, der nun das Problem der Datenbanken auf sich zukommen sieht, wie wir das Problem der Luftverschmutzung. Er kann vielleicht noch zehn Jahre so weiter machen, eventuell auch zwanzig Jahre und irgendwann einmal geht es nicht mehr weiter. Umdenken wäre nötig, wir kommen mit dieser Methodik, mit der wir neue Werkzeuge willkommen heißen, aber nur unter der Bedingung, daß sie uns nicht, zwingen umzudenken, nicht durch.

CW: Ist eine Änderung überhaupt möglich?

Wirth: Wir haben in den letzten zwanzig Jahren einiges gelernt. Die Fachleute wissen heute durchaus, wie man ein System konzipieren müßte, vor zwanzig Jahren hat man dies noch nicht so genau gesehen. Die Bedürfnisse haben sich stark entwickelt. Man hat vor zwanzig Jahren mit einem System begonnen, das nach den damaligen Bedürfnissen und Erkenntnissen entwickelt wurde und dann hat man draufgepfropft, sowohl Daten als auch Algorithmen. Die Alternative hieße, nicht mehr draufpfropfen, sondern das System ersetzen.

CW: Der Software-Industrie wäre das sicher recht, aber glauben Sie, daß der Anwender bereit ist, sein System zu ersetzen?

Wirth: Die neue Technologie wird sich erst durchsetzen, wenn eine Katastrophe passiert. Die Schweiz ist ein Musterbeispiel: In der Schweiz gibt es nur Veränderungen, wenn eine Katastrophe passiert. Gerade Banken werden mehr und mehr abhängig von der Informatik, denn sie handeln ja mit Informationen. Es kann durchaus sein, daß ein System mal zusammenklappt. Eine weitsichtige Bank würde heute schon mit Veränderungen anfangen.

CW: Demnach sollte die Wirtschaft also strukturierte Sprachen einsetzen?

Wirth: Ich habe Kontakte zu Industrien, die seit vielen Jahren Pascal und vor allem Modula verwenden, weltweit gesehen natürlich nur eine kleine Zahl. Die Ansätze gehen eigentlich immer von Einzelpersonen aus jüngeren Einzelpersonen, die von der Hochschule kommen und sagen: So muß es gemacht werden.

CW: Glauben Sie an einen "Ansteckungs-Effekt"? Werden die Macher in den großen Unternehmen der Informationstechnik zu Revoluzzern?

Wirth: Konservative Dinge herauszubringen, ist Politik mancher großen Firmen, nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie erkannt haben, daß es am meisten Profit bringt, Innovatoren die Vorderfront zu lassen und nachzuziehen, wenn sich etwas bewährt hat. Es ist ja die Verpflichtung dieser Firmen ihren Aktionären möglichst viel Profit zu bringen. IBM ist schlau genug, bei jedem neuen System einen Emulator für das alte mit zuliefern, also können Sie das alte immer noch verwenden, wenn Sie etwas Neues kaufen. Zwar nutzen Sie dann das Neue unendlich schlechte aus, aber das spielt ja keine rolle, jedenfalls für den Verkäufer nicht.

CW: Sie beschreiben ein Umfeld, in dem neue Ideen nicht honoriert werden - eine gelinde gesagt unbefriedigende Situation!

Wirth: Ich bedaure, daß es so ist. Es ist für uns Forscher frustrierend. Ich habe in letzter Zeit einige Preise erhalten, alle für etwas, was ich vor 20 Jahren gemacht haben, die unendlich viel besser sind als Pascal, werden noch wenig beachtet.

CW: Findet Innovation also gar nicht mehr statt?

Wirth: Es gibt jetzt immerhin PCs früher gab es nur Terminals. Aber die Innovation ist natürlich weiterhin zehn Jahre hinter dem was man eigentlich machen könnte. Als Forscher muß man heute realisieren, daß die kommerzielle Welt eher Schlagworten als echten Verbesserungen zugänglich ist. Echte Verbesserungen kommen nicht darum herum, am Wesentlichen etwas zu ändern, und das möchten die Leute nicht.

Schlagworte wie KI treiben die Erwartungen in den Himmel hinauf und natürlich kann man sie nicht erfüllen. Wer einigermaßen vertraut ist mit diesem Gebiet, der wünscht diese Schlagworte zum Teufel. Wenn nun Werbeagenturen und zur Not auch Journalisten davon Gebrauch machen, kann ich es ja noch verstehen, aber daß auch Wissenschaftler da einsteigen, das macht mich verstimmt. Es gibt heute eine Unmenge von Wissenschaftlern, die von nichts anderem leben, als von großen Schlagzeilen.

CW: Dennoch möchten wir Sie um einen Ausblick auf die Zukunft bitten? Wie werden Standard-Computersysteme in fünf oder zehn Jahren aussehen?

Wirth: Man wird noch mehr Speicher und noch schnellere Prozessoren haben, vielleicht mehrere Prozessoren. Wie man sinnvoll davon Gebrauch machen wird, weiß ich nicht. Die Anwendungen von Herrn und Frau jedermann, ob im Büro oder im Ingenieurbereich, werden von heutigen Workstations sehr weitgehend abgedeckt Vielleicht möchte in zehn Jahren jedermann zu Hause eine persönliche Wettervorhersage erstellen, dazu reichen die heutigen Workstations nicht. Aber das schiene mir eine eher Unnatürliche Anwendung, es reicht, wenn man die Prognose einmal erstellt und dann publiziert.

CW: Wird "Multiprocessing" einen wesentlichen Einfluß auf die Weiterentwicklung der Hardware haben?

Wirth: Im Bereich des Multiprocessing ist noch viel möglich. Aber ich bin überzeugt, daß das Kriterium, welches unsren Computer so wesentlich von allen anderen Artefakten unterscheidet, seine Generalität ist. Generalität wurde durch das einfache Prinzip des sequentiellen Ablaufes der Instruktionen erreicht. Wenn Sie Multiprozessoren verwenden, können Sie Effizienz gewinnen, aber lassen wir diesen Aspekt mal beiseite. Sie können Vorteile erreichen, wenn Sie eine Anwendung kennen und gleichzeitige Aktivitäten erkennen. Wenn Sie dann verschiedene Prozessoren für diese Aktivitäten einsetzen, haben Sie bereits einen "Special Purpose"-Computer.

CW: Und im Software-Bereich? Wird es dort wesentliche Veränderungen geben, mitgetragen durch die verbesserte Hardware?

Wirth: Wenn Sie dreidimensionale Bilder in ihrem Speicher verarbeiten wollen, können Sie gut mehr Leistung gebrauchen, aber das sind dann keine Quantensprünge mehr, sondern graduelle Veränderungen. Ich glaube, daß die Zeit der Quantensprünge vorbei ist. Der letzte Quantensprung waren PCs und Workstations, ausgelöst durch die Mikroelektronik, die es ermöglicht hat, zu erschwinglichen Preisen solche Stationen zu realisieren.

In der Software hat es eigentlich nie solche Quantensprünge gegeben, aber das heißt nicht, daß wir keine Fortschritte gemacht haben. In den sechziger Jahren war Compilerbau etwas, das sich nur eine Großfirma leisten konnte. Zehn Jahre später geben wir das Schreiben eines Compilers als Semesterarbeit aus.

CW: Kann der Computer in Zukunft als "geistige Prothese" dienen?

Wirth: Mit dem Computer sollten wir zuerst die Probleme lösen, für die wir Systeme entwickeln können, die das Problem zuverlässig lösen und uns Routinen abnehmen. Wenn wir ihn verwenden, um den Geist zu "verlängern", werden die Menschen nur noch bequemer. Eventuell könnten Sie das Abitur erreichen, indem Sie ein paar Computer dazukaufen. (lacht)

CW: Und wann gibt es wieder echte Quantensprünge?

Wirth: Ich lasse mich gerne überraschen ...