"Werden DV-Dienstleistungen öffentlich?"

14.04.1978

Dr. Eckart Raubold, Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung Darmstadt, Leiter des Instituts für Datenfernverarbeitung

Am 5. 4. 1978 präsentierte das Projekt "European Informatics Network" (EIN) die Ergebnisse von fünf Jahren Arbeit einer internationalen Öffentlichkeit. Gezeigt wurde die Arbeitsweise des Datentransport-Systems und der Zugang zu Computerdiensten verschiedenster Art, implementiert auf Rechnern unterschiedlichster Hersteller und erreichbar über eine Vielzahl von Terminaltypen in ganz Europa. Hat das Zeitalter der offenen Datenverarbeitungssysteme also nun begonnen?

Kann ab jetzt jedermann Computerdienste bereitstellen und jedermann diese Dienste nach freier Wahl in Anspruch nehmen?

Ich glaube nicht, daß dieser Entwicklungsstand schon erreicht ist, denn - unabhängig von der Lösung der technischen Probleme der Kompatibilität - setzt die "öffentliche" Nutzbarkeit von Datenverarbeitung (sei es Erfassung, Speicherung, Rückgewinnung oder Bearbeitung von Information mit Unterstützung von Rechnern) einen weit höheren Integrationsgrad der Computerdienstleistung in unser tägliches Leben voraus als derzeit vorhanden.

Die Eigenschaft "integriert" läßt sich am besten am Beispiel eines bereits "integrierten" Systems erläutern, nämlich dem öffentlichen Straßenverkehr:

- Die Basis wird durch ein staatlich errichtetes und öffentlich zugängliches Straßennetz gebildet,

- Die Abwicklung geschieht nach festen und staatlich überwachten Regeln (Straßen-Verkehrs-Ordnung, Ampeln, TÜV ...).

- Die Zugangskosten sind Bestandteil der normalen Lebenshaltung (Auto, Parkgebühren, Treibstoffkosten, ...).

Der Computer hat diesen Integrationsgrad noch lange nicht erreicht, obwohl er uns als Vehikel für die verschiedensten Dienstleistungen (und Bedrohungen?) bereits allgegenwärtig begleitet. Aber die Tendenzen zur gesellschaftlichen Öffnung und zur gesellschaftlichen Integration von Computer-Dienstleistungen sind klar erkennbar.

Genau genommen besteht zur Zeit eine Art Scheideweg-Situation, in der gewählt werden muß, ob - Computer-Dienste zukünftig als geschlossene Systeme jeweils nur ausgewählten, finanzkräftigen Gruppen zur Verfügung stehen oder - prinzipiell offen und für jedermann nutzbar sind.

Mit anderen Worten, es entsteht die Frage, ob die Mittel für die Produktion, Speicherung, Verarbeitung und Verwertung von Information in den Händen weniger konzentriert werden oder als öffentlich zugängliche Dienstleistungen allen zugänglich sind. Die Voraussetzungen für Offenheit von Computerdienstleistung sind, in Analogie zum Straßenverkehrs-Beispiel,

- die Existenz eines öffentlichen Transport-Mediums für Daten, das heißt computerlesbare Information, das Vorhandensein von einheitlichen und leicht erlernbaren Regeln für den Umgang mit Computer-Diensten,

- eine im Budget des Normal-Verbrauchers liegende Kosten-/Nutzen-Relation.

Im Gegensatz zum Verkehrs-Beispiel kann allerdings zur Zeit noch kaum überblickt werden, welchen individuellen oder gesellschaftlichen Nutzen die "offenen" Computerdienste bringen werden. Zwar gibt es eine Fülle von Beispielen aber es fehlen schlüssige Prognosen.

Eines ist jedoch sicher: Wenn es nicht gelingt, eine "Marktordnung" für die Produkte "Information" und "Informationsverarbeitungsleistung" zu erreichen, wird unsere Gesellschaft durch die gleichen Tiefen der Manipulierbarkeit und der Abhängigkeit ganzer Personengruppen von wenigen "Besitzenden" gehen müssen, wie auf dem Wege vom Frühkapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft. Die einzuschlagende Richtung am Scheideweg ist damit klar markiert.

Tatsächlich gibt es deutliche Entwicklungstendenzen zu offenen DV-Systemen, nämlich

- das zunehmende technische Verständnis und die ökonomische Lösbarkeit der Probleme des Computer-Verbundes,

- die Demonstrierbarkeit von Pilot-Lösungen für die Kommunikation zwischen Rechnern und Terminals verschiedener Hersteller in offenen Verbundsystemen,

- das Angebot öffentlicher und standardisierter Datentransport-Dienste durch die Postgesellschaften,

- die Planung und der Aufbau öffentlich zugänglicher DV-Dienste für technisch-wissenschaftliche Information und Datenverarbeitung unter Ausnutzung der standardisierten Datentransport-Dienste, und - die Vorbereitung allgemeiner Kommunikations- und Informationsdienste durch die Postgesellschaften.

Aber man sollte nicht vergessen, daß der derzeitige Stand erst durch die Entwicklung der technischen Basis und durch einige exemplarische Entwicklungen im Anwendungsbereich markiert ist. Zu einer vollen Integration von Computerdiensten in unser Dasein fehlt noch die selbstverständliche Motivation des Individuums zur Nutzung solcher Dienste und, damit im Zusammenhang, die Entwicklung eines Systems von Regeln und Ausdrucksmitteln für den Umgang mit Computer-Diensten, welches für uns Bestandteil unseres täglichen Lebens geworden ist.

Welche Nutzungsformen populär werden und wie wir uns dann mit Computerdiensten verständigen, wird wohl eine nicht zu ferne Zukunft zeigen.