Wenn die private Kundschaft verstaerkt am Druecker sitzt Internet kontra professionelle Online-Dienste

04.08.1995

"Wer zu spaet kommt, den bestraft das Leben". Wohl kaum ein Zitat wurde in den vergangenen Jahren haeufiger strapaziert als der beruehmte Satz Michail Gorbatschows vom Oktober 1989. Trotzdem laesst sich das derzeit fast hysterisch anmutende Wettrennen um einen Platz respektive eine Home-Page im Internet mit keiner anderen Redewendung besser umschreiben. So gut wie kein Unternehmen scheint gegen die momentan grassierende "Internetmania" immun zu sein; allein in den USA spricht man von mehr als einer Million Firmen, die schon am Netz der Netze haengen - mit handfesten finanziellen Interessen, versteht sich. Geschaeftemacherei, gestern noch verpoent, feiert ploetzlich froehliche Urstaend. Quasi im Windschatten des Internet-Booms laufen indes die professionellen Online-Dienste, denen von so manchem WWW-Freak schon das Sterbegloeckchen gelaeutet wurde, zu neuer Hoechstform auf. Welches Online-Medium ist es denn nun, lautet daher die immer wichtiger werdende Frage - fuer Anbieter wie Konsumenten. Und mit ihr stellt sich auch die nach einem voellig neuen Marketing im Cyberspace, von dem man bis dato nur weiss, dass in Sachen Kontakt zum Kunden nichts mehr so sein wird, wie es war.

Scott McNealy, President und CEO von Sun Microsystems, muesste es eigentlich wissen - ist sein Unternehmen doch einer der wichtigsten Internet-Hardware- und Software-Lieferanten. "Das Internet ist nur der Feldweg; die Autobahnen hingegen werden von den Telecom-Firmen, Kabelfernseh- und Satellitenanbietern gebaut", ist als Aussage des Frontmanns der kalifornischen Unix-Company verbuergt. Was den Beobachter natuerlich sofort die Ueberlegung anstellen laesst, warum Sun Microsystems dann das Equipment-Geschaeft fuer die "Mutter aller Netze" so sehr forciert. Meint McNealy etwa die Tatsache, dass in den USA inzwischen eine Reihe von TV- Gesellschaften mit Unterstuetzung der einschlaegigen Industrie daran arbeiten, bestehende Kabelnetze fuer das Internet zu nutzen? Oder treffen vielleicht doch eher Prognosen wie die von Alexander Letts, Chef der Beratungsgesellschaft SMI Group, zu, wonach der "grosse Dampfer des Online-Geschaefts noch nicht einmal das Reissbrett verlassen hat"?

Wie so oft hilft wohl auch hier zunaechst die Auseinandersetzung mit Prognosen weiter. Zum Beispiel mit der schon bekannten, aber nicht ganz serioesen, dass irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft - das derzeitige Wachstum des Internets vorausgesetzt - so gut wie jeder Erdenbuerger eine persoenliche E-Mail-Adresse haben muesste. Allerdings ist es schon bezeichnend fuer den derzeitigen Run aufs Internet, dass sich niemand ernsthaft die Frage stellt, wie das funktionieren soll, wenn 50 Prozent der Weltbevoelkerung heute noch nicht einmal ueber einen Telefonanschluss verfuegen. Mit der anderen Haelfte lassen sich auch gute Geschaefte machen, sagen sich offensichtlich die meisten derer, die hier einen neuen Milliardenmarkt wittern. Wobei dies im uebrigen gar nicht nur fuer Nordamerika gilt, sondern auch fuer die in Sachen Info-Society angeblich so rueckstaendige Bundesrepublik. Eine fuer die Deutsche Interessengemeinschaft Internet (DIGI) erstellte interne Referenzliste von Firmenkunden der deutschen Internet-Service- Provider liest sich jedenfalls fast wie das "Who is who" deutscher Unternehmen, die sich nun als Anbieter auf der Infobahn verdingen wollen.

Den jetzt schon fast zwei Jahre anhaltenden Boom des Internets richtig einzuordnen, macht aber auch eine zweite, viel realere Erkenntnis so schwierig: Ungeachtet zum Teil gegensaetzlicher Prognosen gelang es naemlich den professionellen Online-Diensten, ihre Position im Markt nicht nur zu halten, sondern auszubauen. Ueber den Erfolg von Datex-J ist schon alles gesagt und geschrieben worden; aber auch in den USA konnten die dortigen Anbieter allein im vergangenen Jahr mehr als 1,7 Millionen neue Abonnenten werben - was einer Zuwachsrate von ueber 40 Prozent entspricht. Tendenz weiter steigend, heisst es zudem in einem Bericht des Information & Interactive Services Report (IISR), wonach Ende Maerz in den USA 7,3 Millionen Kunden einen Online-Dienst abonniert hatten - zum Grossteil Privatleute uebrigens. Und so schnell, wie derzeit das Wachstum bei Compuserve, America Online, Prodigy & Co. verlaeuft, korrigieren auch die Marktforscher reihenweise ihre Prognosen: Trotz der wachsenden Verbreitung des Internets ist die Nachfrage nach Online-Diensten ungebrochen, heisst es ploetzlich unisono (siehe Kasten).

Dass dies alles nur ein Vorgeplaenkel dessen ist, was im sogenannten "heissen Herbst" auf die Branche, besser gesagt auf die Online- Kundschaft, zukommt, predigen derzeit landauf, landab die Marketiers der (kuenftigen) Anbieter. Die ganze Welt wartet auf (oder fuerchtet sich vor!) dem Microsoft Network, Europa darf immer noch auf die Premiere von Europe Online hoffen, und der deutsche Markt wird zusaetzlich, dank der Hilfe von Bertelsmann, mit America Online sowie mit einem erneuten Relaunch von Datex-J beglueckt, das ab der Funkausstellung Telekom Online heissen soll. Weit wichtiger als das Schattenboxen der kuenftigen Wettbewerber ist aber deren strategische Ausrichtung: weg von der Fixierung auf die Geschaeftskunden, (noch mehr) hin zum Massenmarkt der privaten Consumer.

Denn nicht nur, aber vor allem auch der vermeintliche kuenftige Online-Guru Bill Gates hat laengst die Zeichen der Zeit und damit die Bedeutung kuenftiger Zielgruppen erkannt: Kinder, Schueler, Studenten und dann vielleicht auch noch mittelstaendische Unternehmen. Telelearning, Teleshopping und Telebanking heissen die bekannten Anwendungsszenarien - die in Zukunft mehr denn je auch via Internet moeglich sein werden. Lediglich drei Prozent (rund 1,1 Millionen) der Internet-Anwender waren IDC zufolge Ende 1994 mit einem vollen WWW-Zugriff ausgestattet , der die Nutzung interaktiver grafischer Oberflaechen erlaubt. Das soll sich aber innerhalb der naechsten vier Jahre deutlich aendern (siehe Abbildungen). Gleiches gilt fuer den Anteil der Privatkunden im Internet, der laut IDC bis 1999 im Jahresdurchschnitt um 60 Prozent wachsen und dann mit geschaetzten 82 Millionen Abonnenten bei rund 40 Prozent liegen duerfte.

Kommerzialisiertes Internet kontra professionelle Online-Dienste scheint also das ewig junge Thema der naechsten Jahre zu bleiben, mit allen Facetten denkbarer unterschiedlicher Meinungen. "Was will ich mit dem Pazifik, wenn ich nur am Bodensee interessiert bin", gab da schon vor einigen Monaten der in Sachen Online-Kultur (und Europe Online) sehr engagierte Muenchner Verleger Hubert Burda zum besten. Schuetzenhilfe erhaelt Burda natuerlich von Leuten wie Btx-Veteran Eric Danke, dessen gut 800000 Benutzer den Dienst zu 85 Prozent fuer das Home-Banking verwenden und die nach einem Ausflug ins World Wide Web dem Telekom-Manager zufolge gerne wieder in Bereiche zurueckkehren, "die ihnen einen definierbaren Mehrwert bringen".

Dies wiederum scheint aber nichts an der Tatsache zu aendern, dass sich nicht nur die Verantwortlichen fuer den Datex-J-Dienst, sondern laengst auch alle anderen etablierten Anbieter in den vergangenen Monaten gezwungen sahen, im Rahmen ihrer Services den vollen Zugang zum Internet zu gewaehren, was im uebrigen dem Geschaeftserfolg alles andere als abtraeglich war. Allein der auf Nordamerika beschraenkte Online-Dienst Prodigy konnte nach der Bekanntgabe eines "Fensters zum Internet" binnen zwei Wochen mehr als 140000 Neukunden hinzugewinnen. Fuer Donatus Schmid, Produkt- Manager der deutschen Sun Microsystems GmbH, ist daher die kuenftige Rolle der Online-Professionals klar: Sie werden die "Programmzeitschriften fuers Internet" sein.

Bleibt aber noch zu klaeren, wie - wo auch immer - in Zukunft erfolgreiche Online-Geschaefte zu machen sind. Denn dass die Erfahrungen kommerzieller Anbieter im Internet derzeit noch alles andere als (wirtschaftlich) erfolgversprechend sind, ist trotz aller Euphorie ein offenes Geheimnis. Die Frage, wie bringe ich meine Information, meine Botschaft und letztlich natuerlich mein Produkt an den gewuenschten Adressaten im Netz, zog sich da beispielsweise wie ein roter Faden durch die Vortraege eines Com- Munic-Internet-Kongresses. Veranstaltungen wie diese haben Hochkonjunktur - und natuerlich Marketing-Experten wie Peter Kabel, Geschaeftsfuehrer von Kabel New Media. Dieser plauderte denn auch bei besagtem Event aus dem Naehkaestchen und vor allem von Coca Cola als Beispiel dafuer, wie es mit dem Internet nicht funktioniert: "15 Minuten, bis die Home-Page aufgebaut ist, dann darf man seinen Namen registrieren lassen. Von so etwas lassen sich nur hartgesottene Markenfreunde nicht abschrecken."

Wie kann man es besser machen? Wer Produkte oder Dienstleistungen ueber die neuen Online-Medien absetzen will, muesse, so Kabel, seiner Klientel zunaechst ein serioeses Angebot zur Kommunikation unterbreiten. Wer hingegen mit den Methoden des traditionellen Marketings operiere, habe nichts vom Wesen der Cyberspace- Kundschaft begriffen. "Erlebnis-Welt und Kommunikation" sind dabei fuer den Muenchner Marketing-Experten die neuen Schluesselbegriffe - will heissen: immer mehr Abonnenten von Online-Diensten werden in Zukunft erst den Kontakt mit dem Hersteller sowie Informationen zum Produkt suchen. Das Wichtigste aber, das es nach Ansicht von Kabel fuer die Marketiers in der digitalen Online-Welt zu beachten gilt, hat fast schon etwas Philosophisches an sich: "Der einzelne Konsument sitzt am Druekker und filtert Informationen aus. Er allein entscheidet, was zu ihm durchdringt."