Weitblickende Akademiker gegen Technokraten

11.01.1980

Dipl.-Ing. Dr. Helmut Schauer, Technische Universität Wien, österreichischer Vertreter im TC 3 (Technical Committee on Computer Education)

Die folgenden Überlegungen durch zahllose Diskussionen am Rande von Tagungen entstanden - haben zumindest bei mir dazu geführt, die gesellschaftlichen Auswirkungen der Informatik in einem neuen Licht zu sehen. Alle Überlegungen fußen auf der Beobachtung, daß die technologische Entwicklung ein Eindringen des Computers in viele unserer Lebensbereiche erwarten läßt, das in seinen Auswirkungen die industrielle Revolution des neunzehnten Jahrhunderts bei weitem übertrifft.

Insbesondere die Schnelligkeit dieser Entwicklung stellt unser gesamtes traditionelles Ausbildungssystem in Frage: War es bisher üblich, einen Beruf fürs Leben zu erlernen, so wird es bereits die kommende Generation als selbstverständlich ansehen, ihren Beruf mehrmals zu wechseln. Das nötige Pachwissen muß dabei in einer berufsbegleitenden Ausbildung vermittelt werden, während sich die Aufgaben der Schule auf die Vermittlung allgemeingültiger Grundlagen, der Motivation wie auch der Fähigkeit zu eigenständiger Weiterbildung beschränken. Die Verlagerung von Ausbildungs- zu Bildungsschwerpunkten im Schulunterricht steht auch in Einklang mit der Rolle, die der Schule bei der Vorbereitung zur Bewältigung des vermehrten Freizeitangebotes zukommen wird. Daß neben humanistischen auch ingenieurmäßig konstruktive Denkweisen geschult werden müssen, steht sicherlich außer Zweifel. Bereits diese Aspekte würden die Einführung eines integrierten Informatikunterrichtes der keineswegs mit einem "Programmierkurs" verwechselt werden darf, sondern vielmehr abstraktes Gestalten, Modellbildung, Abwägen von alternativen Lösungswegen, exaktes sprachliches Formulieren, zum Inhalt haben muß.

Die Erziehung zum "Individuum" - im Sinne von Bertrand Russell als Gegensatz zum "nützlichen Bürger" - scheint mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Aufgabe einer universitären Informatikbildung muß es ein, den Technokraten herkömmlicher Prägung verantwortungsbewußte und weitblickende Akademiker entgegenzustellen, die genügend flexibel sind die Auswirkungen technologischer Entwicklungen abzuwägen, bevor sie eingetreten sind. Daß sich die fachliche Ausbildung nicht ausschließlich am gegenwärtigen Bedarf der Industrie orientieren darfs versteht sich von selbst. Aus dieser Sicht muß auch die Frage der "Berufsethik" diskutiert werden, die einen akademisch gebildeten Informatiker - ähnlich wie der "Hippokratische Eid" einen Arzt - dazu verpflichtet, die Auswirkungen seiner Tätigkeit auf die Menschheit zu verantworten. Nicht zuletzt trägt ja gerade der Computereinsatz häufig dazu bei, die Verantwortlichkeit; vieler Entscheidungen an anonyme Planer zu delegieren. Der Versuch der British Computer Society, ethische Richtlinien im "Code of Practice" und "Code of Conduct" festzulegen, ist hier richtungweisend.

Eine andere Vision begründet sich auf der enormen Hebelwirkung, die von dem "intellektuellen Werkzeug" Computer ausgeht: Da es mit Hilfe des Computers gelingt, viele bislang Menschen vorbehaltene Tätigkeiten zu automatisieren, können unterschiedlichste Entscheidungen, die von einer Vielzahl von Menschen individuell getroffen wurden, in Hinkunft in einigen wenigen Schlüsselpositionen konzentriert werden. Gleichzeitig bietet der Computereinsatz diesen wenigen Entscheidungsträgern einen Informationsvorsprung, der es für die Gesellschaft immer schwieriger werden läßt, diese Machtkonzentration zu kontrollieren. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die Erziehung zu politischer Reife ein Anliegen, mit dem unsere Schulen mehr und mehr konfrontiert werden müssen.

Durch die fortschreitende Automatisierung werden jedoch auch Quantität und Qualität vieler Arbeitsplätze beeinflußt. Werden durch die Automatisierung auch vereinzelt neue interessante Tätigkeitsbereiche geschaffen, so gehen auf der anderen Seite meist unverhältnismäßig mehr traditionelle Arbeitsplätze verloren oder werden solcherart umgestaltet, daß sie von ungelernten Arbeitskräften ausgefüllt werden können. Dieser Trend

drückt sich bereits in einem prozentuellen Rückgang von Facharbeitern zugunsten von Akademikern einerseits und angelernten Hilfskräften andererseits aus. Damit wird jedoch - überspitzt ausgedrückt - eine Situation geschaffen, in der wenige hochqualifizierte Spezialisten den Computereinsatz planen - während der Rest der Menschheit (sofern er nicht in der Landwirtschaft oder im Dienstleistungsgewerbe beschäftigt ist) untergeordnete Tätigkeiten ausführt oder arbeitslos ist. Diese Überlegung gilt sowohl in nationaler als auch in internationaler Sicht. Auf die Gefahren, die eine solche tiefe Kluft zwischen diesen Bevölkerungskreisen mit sich bringt, braucht wohl nicht gesondert hingewiesen werden.

Bereits jetzt befinden wir uns in einer Situation, in der weder die Manager als Vertreter großer Unternehmungen noch die Politiker als Vertreter der Bevölkerung die Auswirkungen der von ihnen in bezug auf einen Computereinsatz getroffenen Entscheidungen abschätzen, geschweige denn beeinflussen können, da kaum einer der Verantwortlichen in dieser Problematik ausgebildet wurde. Dem Informatikunterricht in der Schule wird damit eine gesellschaftspolitisch bedeutsame Rolle zuteil, egal, ob es gilt, im Sinne der Chancengleichheit ein Computer-Analphabetentum zu vermeiden, oder ob es darum geht, die zukünftigen Experten aus einem möglichst großen intellektuellen Rerservoir zu rekrutieren. Wichtiger als die Heranzüchtung von Computerspezialisten scheint mir jedoch zu sein, daß durch eine breite Informatikausbildung die zukünftig von den Elektronikauswirkungen Betroffenen einer kritischen Betrachtung fähig werden.

Bis vor kurzem schien mir tatsächlich der einzig gangbare Ausweg aus dieser Situation über das Bildungswesen, insbesondere den Schulunterricht zu führen: Hat erst einmal die kommende Generation bereits in der Schule Einblick über die hilfreichen wie auch gefährlichen Auswirkungen des Computereinsatzes gewonnen und stehen den solcherart sensibilisierten zukünftigen Entscheidungsträgern genügend objektiv ausgebildete Experten zur Hand, so gelingt es sicherlich, den für unsere Gesellschaft negativen Auswirkungen des Computers zu entgehen. Heute ist mir jedoch bewußt, daß die technologische Entwicklung viel zu rasant erfolgt, um sie durch eine Evolution der Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Wenn wir warten, bis die nächste Generation die Zügel in die Hand nimmt, ist es leider zu spät.

So sehr der evolutionäre Weg zu begrüßen ist, er muß durch flankierende Maßnahmen begleitet werden, die verhindern, daß die heute gestellten Weichen unsere Zukunft irreversibel beeinflussen. Mein Appell ergeht daher an alle, denen die Gefahren bewußt sind, in - ihrem Wirkungskreis die Entwicklung kritisch zu verfolgen, meinungsbildend zu agieren und gegebenenfalls Druck auszuüben, um "menschengerechten" Alternativen vor "maschinengerechten" Lösungen den Vorzug zu geben.

Insbesonders der Working Conference über "Post-secondary and vocational education in data processing - the needs of Commerce, Industry and Administration im April dieses Jahres in Amsterdam, des Symposiums "lnformatik in der Schule" im Mai in Passau, sowie der zweiten IFIP Konferenz "Human Choice and Computers" im Juni in Baden bei Wien.