EU-Verordnung setzt neue Maßstäbe

Was bei der Bildschirmarbeit gewährleistet sein muß

25.07.1997

Zur Beseitigung der Arbeitsplatzmängel bleibt den Betrieben Zeit bis Ende 1999. Wer wirklich etwas verändern will, muß aber gleich beginnen. Denn ein ergonomisch erstklassiger Stuhl beispielsweise wirkt nur dann rückenschonend, wenn die Sitzhaltung stimmt. Und die will gelernt und geübt sein.

"Wohlbefinden" heißt das große Ziel der Bildschirmarbeitsverordnung, die europäische Mindestanforderungen an Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit an Monitoren in deutsches Recht umsetzt. Durch eine optimale Gestaltung der Arbeitsmittel und -abläufe sollen Belastungen des Muskel- und Skelettapparates sowie der Augen verringert und psychische Beschwerden vermieden werden.

Der ganzheitliche zugrundeliegende Begriff vom arbeitenden Menschen und seiner Leistungsfähigkeit könnte Theorie bleiben, wenn der nahende Stichtag 21. August dazu führt, daß die Unternehmen die Pflichtfragen lediglich formal korrekt abhaken und die Bögen dann in der Ablage landen. Das befürchten externe und interne Berater, die derzeit in öffentlichen und privaten Unternehmen die Arbeitsplatzanalysen betreiben oder begleiten.

Die ganze Verordnung bleibt wirkungslos, urteilt die Spezialistin für Bildschirmergonomie, Hildegard Schmidt, wenn die Firmen nicht folgende vier Spielregeln einhalten: ausdrücklicher Wille zur Verbesserung der Büroarbeitsplätze, konstruktive Auswertung der Analyseergebnisse, vorbildliches Verhalten der Führungskräfte und Bereitstellen von (finanziellen) Mitteln zur Beseitigung von Mängeln.

Einen Schritt weiter geht Bettina Meys, Sportfachfrau bei der AOK in Nürnberg: "Entscheidend ist, daß gesundheitsfördernde Maßnahmen nicht nur initiiert, sondern über einen längeren Zeitraum konsequent durchgezogen werden. Falsche Bewegungsabläufe sind automatisiertes Verhalten - und das ist nur langfristig zu verändern." Dahinter steht die Erfahrung, daß viele Beschäftigte eine Scheu vor regelmäßigen Streck-, Dehn- und Bewegungspausen haben, wenn diese für Kollegen und Vorgesetzte nicht ebenso selbstverständlich sind.

Der Betriebsrat bei der Rechenzentrale Bayerischer Genossenschaften (RBG) in München-Dornach will die ergonomischen Ziele der Bildschirmverordnung in einer Betriebsvereinbarung konkretisieren. "Bisher mußte sich der Mensch an die Erfordernisse der DV-Geräte anpassen. Die Verordnung ist ein wichtiges Instrument, um das Verhältnis umzukehren", betont Betriebsratsvorsitzender Fritz Feigel. Das gelte für die ergonomische Gestaltung der Software ebenso wie für die Einrichtung von Mischarbeitsplätzen oder für die Bemessung der Personalstärke.

Verhaltensmängel/Verhaltensprävention: Diese beiden Begriffspaare umreißen das Aktionsfeld, das beackert werden muß, wenn sich Wohlbefinden am Arbeitsplatz als Basis für Leistungsfähigkeit einstellen soll. Was die "Verhältnisse" angeht, hapert es nach Expertenansicht am häufigsten an Beleuchtung, Arbeitsorganisation und personeller Ausstattung.

Nach Schmidts Beobachtungen führen Informationsflut, Arbeitsverdichtung und neue Computeranwendungen dazu, "daß für manche Beschäftigte die Arbeit spannender, aber in jedem Fall auch anstrengender wird". Wenn bei der Arbeitsplatzanalyse herauskommt, daß Herr Z. gar keine Gelegenheit hat, die starre Körperhaltung vor dem Monitor zu variieren oder Pausen einzulegen, muß der Arbeitgeber Abhilfe schaffen - etwa durch ein Mischarbeitskonzept.

Das kann bedeuten, daß die Arbeit qualitativ aufgewertet wird, daß sich ihr Umfang ändert, daß bestimmte Aufgaben reihum erledigt werden oder daß Arbeitsgruppen mehr Handlungs- und Entscheidungsspielräume bekommen. "Da geht es ans Eingemachte", urteilt die Ergonomieberaterin, denn die Betriebe lassen sich ihre Arbeitsorganisation ungern vom Gesetzgeber vorschreiben.

Die Beleuchtungsdefizite gehen meist auf architektonische Fehler zurück, hat Schmidt festgestellt. "Das Gebäude wird abgenommen, wenn noch niemand dort arbeitet. Die ästhetische Lichtwirkung ist entscheidend, nicht die Funktionalität." Johannes Laws, AOK-Fachmann für Gesundheitsförderung, hofft, daß die Vorschriften der Bildschirmverordnung ein Umdenken bewirken: "Die Architekten haben große Wissensdefizite, was Ergonomie betrifft", sagt er. "Bislang wurden die Beschäftigten bei der Gestaltung ihrer Arbeitsumgebung kaum einbezogen. Das kann sich jetzt ändern."

Zum Wohlbefinden gehört, daß die individuelle Leistungsfähigkeit angemessen berücksichtigt wird, daß Qualifikation und berufliche Anforderung zusammenpassen und daß die Arbeitszeit ausreicht. An diesem Grundgedanken der Verordnung setzen die RBG-Betriebsräte Feigel und Reinhard Amann an, wenn sie ein qualifiziertes Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmervertretung bei der Personalbemessung fordern.

Diesen Anspruch enthält auch ihr Vorschlag für die Betriebsvereinbarung (BV), über die bei dem DV-Unternehmen mit 890 Beschäftigten gerade verhandelt wird. Dieses Recht wird auch in der Musterbetriebs-Vereinbarung "Bildschirmarbeitsplätze" angemahnt, die Feigel und Amann für ihre Kollegen aus dem Organisationsbereich der Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen entworfen haben.

Ein wichtiger Punkt darin ist die Software-Ergonomie. "Es ist oft haarsträubend, mit welchen Programmen sich die Mitarbeiter in vielen Firmen herumschlagen müssen. Da entsteht viel Frustration und psychische Belastung," berichtet Amann. Deshalb heißt eine Forderung in der Musterbetriebs-Vereinbarung: "Die Software muß benutzerfreundlich sein und gegebenenfalls dem Kenntnis- und Erfahrungsstand der Arbeitnehmer/innen angepaßt werden können."

Damit kommt auch das Verhalten der Beschäftigten ins Spiel. Betriebsräte und externe Gesundheitsberater wissen ein Lied davon zu singen, wie uneinsichtig und unsensibel Arbeitnehmer oft mit ihren Ressourcen umgehen. AOK-Beraterin Meys berichtet, daß "die Menschen viel über ergonomische Standards wissen. Aber das Umsetzen im Alltag fällt schwer". Für sie und ihren Kollegen Laws ist Japan in diesem Fall Vorbild, weil sich dort das Grundverständnis - "ein bewegter Arbeitsplatz ist ein gesunder Arbeitsplatz" - durchgesetzt hat.

"Gutes Verhalten ist ein Prozeß", ergänzt Ergonomietrainerin Schmidt. Wenn der Betrieb Frau X einmal zur Rückenschule schicke, erfülle er zwar die gesetzlichen Vorgaben. Richtig wirkungsvoll werde das Gelernte aber nur durch kontinuierliches Üben. Anlaß und Raum könne zum Beispiel ein "Gesundheitszirkel" schaffen, der in der Abteilung eingerichtet wird.

Wohlbefinden ist ein subjektiver Maßstab. Checklisten, die gleiche ergonomische Normen für alle aufstellen, haben wenig Sinn. Vielmehr geht es um sinnvolle Verhaltensspielräume, meint AOK-Mann Laws: "Wer anfängt, auszuprobieren, welcher Stuhl, welches Licht und welche Anordnung der Arbeitsmittel ihm guttut, ist auf dem richtigen Weg." Ähnlich schätzt Meys die Wirkung ein, wenn die vorgeschriebenen Arbeitsplatzanalysen den Anlaß liefern, über Kommunikationsschwierigkeiten in einer Abteilung zu reden oder darüber, wie störend alle die fahlgrauen Wände empfinden. Das Benennen von Problemen und das gemeinsame Nachdenken über Lösungen fördere bereits das Wohlbefinden, sagt Meys. Und der Arbeitgeber profitiere von höherer Leistungsfähigkeit und niedrigerem Krankenstand.

Die beste Betriebsvereinbarung, die kooperativste Firma und die ergonomischsten Arbeitsgeräte helfen freilich nichts, wenn, so die Erfahrung der Betriebsräte, die Einsicht der Beschäftigten fehlt.

Ergonomie-Infos

Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung informiert auf Diskette, CD-ROM und in einer Broschüre über sichere und gesunde Arbeit am Computer. Den Hintergrund bildet die nationale Umsetzung der europäischen fünften Einzelrichtlinie zur Bildschirmarbeit 90/270/EWG in der seit dem 20. Dezember 1996 gültigen Bildschirmarbeitsverordnung.

Mit Hilfe der Broschüre oder der Software kann jedermann den eigenen Arbeitsplatz nach ergonomischen Gesichtspunkten unter die Lupe nehmen. Auf der CD-ROM sind nicht nur Fragen und Kommentare zu finden, sondern auch Lösungsvorschläge, ein Experten-Check und natürlich der Verordnungstext, alles zum Ausdrucken und zur Weiterverwendung im betriebsinternen Verbesserungsprozeß.

"Der Bildschirm-Arbeitsplatz", Broschüre, kostenlos, Bestell-Nr. 170; CD-ROM, Schutzgebühr, Bestell-Nr. A 175; Disketten, Schutzgebühr, Bestell-Nr. A 176, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung,Referat Öffentlichkeitsarbeit, Postfach 500, 53105 Bonn,Faxbestellung: 0180 / 5 15 15 11,E-Mail infobma.bund400.de,Internet: http://www.bma.de

CW-Service

Ab der nächsten Ausgabe beantwortet Ihnen die CW alle wichtigen Fragen zum Thema Bildschirmergonomie. Darüber hinaus werden wir in jeder Ausgabe eine Frage, die uns besonders interessant erscheint, samt Antwort abdrucken. Der Service ist kostenlos. Die Anfragen können per Fax 089/360 86-109 oder per E-Mail 100433.3037compuserve.com geschickt werden. Darüber hinaus wird die Ergonomie-Verordnung in der nächsten Ausgabe voraussichtlich Gegenstand eines "Themas der Woche".

*Helga Ballauf ist freie Journalistin in München.