Thema der Woche

Warme Decken und viel Bargeld für den 1. Januar 2000

09.12.1998
Wenn am 31. Dezember 1999 um 24 Uhr die Zeiger um eine Sekunde vorrücken, geht der Krach möglicherweise erst so richtig los. Doch nicht wegen der Böller zur Begrüßung des neuen Jahrtausends. Ein ultimativer Crash könnte passieren, weil die Menschheit auf millionenfach tickenden Zeitbomben sitzt. Eingebettet in mehr oder weniger komplexe technologische Systeme, versehen Embedded-Chips genannte elektronische Bauteile wie Mikrochips oft unerkannt ihren Dienst - und sie sind überall.

Zappenduster war´s mit einem Schlag am 9. November 1965. Kein Licht, kein Fernseher, kein Radio ging mehr. Im Kühlschrank wurde langsam das Bier warm. In dieser Nacht kam zusammen, was zusammen gehört - neun Monate später manifest als weit überdurchschnittlicher Kindersegen auf Geburtsstationen in New Yorker Krankenhäusern.

Der Geburtensprung war das Ergebnis des bislang größten Stromausfalls in der Geschichte der USA. Eingang in die Bücher fand der Energie-GAU unter dem Namen "The Great Northeast Blackout". Rund 30 Millionen Menschen im Nordosten der USA, vergleichsweise knapp 40 Prozent der gesamten heutigen deutschen Bevölkerung, waren für bis zu 13 Stunden ohne Stromversorgung.

Was als Peanuts-Vorfall begann - eine einzige Übertragungsleitung des großen Kraftwerks an den Niagara-Fällen war ausgefallen -, wuchs sich zu einem kapitalen Desaster aus. Binnen Sekundenfrist war das Kraftwerk mit seinen 1800 Megawatt Leistung vom überregionalen Stromnetzverbund gekappt, weil die verbliebenen Leitungen wegen Überlastung schlapp machten. Das löste eine Kettenreaktion aus. Innerhalb kurzer Zeit brach das gesamte Stromnetz im Nordosten der USA zusammen. In Städten wie New York waren die Folgen dramatisch: Plünderungen und Einbrüche waren an der Tagesordnung.

Die Naturkatastrophe ist ein Vorgeschmack darauf, was passieren kann, wenn am 1. Januar 2000 die in Steuerungskreisläufen, Überwachungssystemen, Pumpen, Ventilen etc. arbeitenden Mikrochips der Wasser- und Elektrizitätswerke wegen der Jahr-2000-Problematik verrückt spielen. Was geschieht, wenn die Abwiegler in der nur noch kurz und bündig Y2K genannten Debatte doch nicht recht behalten sollten. Gerry Cauley, Y2K-Projekt-Manager des North American Electric Reliability Council (Nerc), dem Rat der US-Energieversorgungsunternehmen, mußte vor kurzem eingestehen, daß ein Sechstel der insgesamt 3000 Kraftwerke - 108 davon sind Atomkraftwerke - am Nerc-Y2K-Projekt nicht teilnehmen. Von den verbleibenden 2500 haben 35 Prozent noch nicht einmal eine Niederschrift für einen Y2K-Aktionsplan. Bei den Abhängigkeiten der landesweit verbundenen Kraftwerke eine beunruhigende Vorstellung.

Ein Fachmann wie der Programmierer René Brunner von der schweizerischen Megos AG, der auf seiner Y2K- Homepage vielfältige Links zum Thema anbietet, will nicht nur sein Geld von der Bank abheben. Er wird sich auch eine Notversorgung für "die Tage danach" zu Hause einrichten. Eines seiner vielen Pro- bleme: "Wo tue ich nur all das Wasser hin, das ich brauchen werde?"

Hysterie? Evelyn Schulz, Y2K-Beauftragte der SAP, hat sich zusammen mit ihrem Mann bereits ein Notstromaggregat bestellt. Edward Yardeni, Chefvolkswirt und geschäftsführender Direktor der Deutschen Morgan Grenfell, hat seine ohnehin düsteren Prognosen über eine im Zuge der Y2K-Problematik heraufziehende globale Wirtschaftskrise gerade erst noch einmal verschärft: Mittlerweile sieht er eine 70prozentige Wahrscheinlichkeit, daß die Welt wegen der Y2K-Probleme eine handfeste Rezession analog der Ölkrise von 1973 durchleiden wird: "Das wird ein Erdbeben, nur daß es überall stattfindet." Alan Greenspan, Chairman der Federal Reserve Bank in den USA, den manche für mächtiger als den US-Präsidenten halten, warnte, das Y2K-Problem könne die US-Wirtschaft nachhaltig beeinträchtigen.

Über die möglichen Auswirkungen im Zusammenhang mit der Datumsumstellung von Hard- und Software kann zwar auch heute lediglich spekuliert werden. Doch es gibt nur wenige, die etwa dem Präsidenten eines bekannten Bonner Bundesamtes zustimmen würden, die Y2K-Schwierigkeiten ließen sich auf die Problematik der Postleitzahlenumstellung reduzieren.

In immer kürzeren Abständen häufen sich nämlich die Warnungen, viele Unternehmen könnten sich nicht mehr rechtzeitig gegen eventuelle Havarien ihrer eigenen Technologiesysteme schützen. Insbesondere Deutschland schneidet im internationalen Vergleich nicht gut ab (siehe Seite 11). Studien der Gartner Group und von Cap Gemini lassen Schlimmes befürchten. In einer Untersuchung der OECD vom Oktober 1998 kommt Deutschland bezüglich seiner Vorbereitungen auf die Y2K-Umstellung gar nicht vor.

In Deutschland reagiert man auf solche Meldungen eher gelassen: SAP-Frau Schulz zitiert ein Treffen mit der im Saarland für Wirtschaft und Finanzen zuständigen Ministerin Christiane Krajewski. Deren Berater hätten das Jahr-2000-Thema bereits abgehakt. Ähnliche Erfahrungen machte die COMPUTERWOCHE in Bonn: Im Bundeswirtschaftsministerium, das die fachliche Zuständigkeit für die Y2K-Problematik zugewiesen bekam, versteht man die Aufgeregtheit nicht. Prinzipiell glaubt man sich gut gerüstet und erinnert an den Bericht der Bundesregierung zum Y2K-Thema vom Juli 1998; außerdem verrichteten die zuständigen Expertengremien erfolgreich ihre Arbeit. Zudem weisen die Beamten darauf hin, schon beim Treffen der Regierungschefs in Birmingham im April dieses Jahres habe das Y2K-Thema erste Priorität besessen. Insbesondere diesen Vermerk kontert ein CW-Gesprächspartner aus einem Bonner Bundesamt mit der Bemerkung, der Ex-Bundeskanzler Kohl habe "nicht die geringste Ahnung gehabt, worum es beim Jahr-2000-Problem überhaupt geht".

Worum es geht, wenn Mikrochips in Technologieanlagen wegen der Jahr-2000-Umstellungen nicht mehr ordnungsgemäß funktionieren, belegen einige Beispiele. Die Sydkraft AB, einer von zwei großen schwedischen Atomkraftwerkbetreibern, hatte in ihrem Kraftwerk in Oskarshamn einen Fehler aufgespürt, der die Kühlwasserzufuhr beeinträchtigt hätte. Den Mangel führte sie auf eine Datumseinstellung zurück, die sie im Test noch einmal simulierte. Ergebnis: Der Reaktor wurde sofort heruntergefahren. Zwar geht mit solch einem Vorgang keine konkrete Gefährdung einher, wie Anders Bjoerle, Sprecher der schwedischen Nuklearbehörde, meinte. Die Stromversorgung wäre aber erst einmal lahmgelegt.

Das Pharmazieunternehmen Smith Kline Beecham machte die unangenehme Erfahrung, daß gleich nicht immer gleich ist: Es kaufte zwei vermeintlich identische Maschinen, die die Medikamentenproduktion überwachen und aufzeichnen sollten. Ein Gerät bestand die testhalber simulierte Datumsumstellung auf den 1. Januar 2000 problemlos, die mit scheinbar identischen Chips ausgestattete zweite Maschine aber nicht! Als Smith Kline Beecham die Seriennummern der Embedded-Chips überprüfte, fand es heraus, daß die Bauteile von verschiedenen Herstellern stammten. Zusätzliches Problem: Dokumentationen für Embedded-Chips sind in aller Regel nicht ausführlich genug. Ohne Tests geht somit gar nichts. Das Smith-Klein-Beispiel zeigt darüber hinaus, daß Stichproben allein überhaupt keine Y2K-Sicherheit gewährleisten.

Zwei der drei größten Automobilhersteller der USA, General Motors (GM) und das jetzt mit Daimler-Benz fusionierte Chrysler, hatten ebenfalls unliebsame Erlebnisse mit der Jahr-2000-Umstellung: Als GM auf seinen Robotersystemen in den Produktionshallen die Zeitumstellung probte, legten die computerisierten Helfer schlagartig die Arbeit nieder. GMs Chief Information Officer Ralph Szygenda spricht von "katastrophalen Problemen", die der Konzern in seinen 117 Unternehmensniederlassungen in 35 Ländern unter Kontrolle bekommen müsse. Zwischen 400 und 550 Millionen Dollar hat das Unternehmen hierfür veranschlagt. Ungelöst bleibt dabei noch das Problem Hunderter von Zulieferern, von deren Y2K-Tauglichkeit GMs Wohl und Wehe ebenfalls abhängt.

Konkurrent Chrysler schloß zu Testzwecken ein komplettes Werk, um sämtliche Uhren auf den ersten Tag im Jahr 2000 umzustellen. Das Resultat sorgte nicht für Beifallsstürme: Niemand konnte die Fabrik mehr betreten, keiner konnte sie verlassen. Das Sicherheitssystem war zusammengebrochen. Seine Arbeiter hätte Chrysler übrigens auch nicht mehr bezahlen können: Die über Zeitsysteme gesteuerten Stechuhren funktionierten ebenfalls nicht mehr.

Als das Elektrizitätswerk von Hawaii in Honolulu sein Energie-Management-System (EMS) auf Y2K-Tauglichkeit überprüfte, bekam es bei der Datumsumstellung prompt Schwierigkeiten. Spezialisten stellten fest, daß Kunden entweder überhaupt keinen Strom erhalten hätten oder solchen mit einer viel höheren Spannung als üblich. Hausgeräte wären regelrecht verbrutzelt.

Besonders absurd ist auch der Fall eines britischen Lebensmittelgroßhändlers, bei dem einkommende Waren palettenweise durch ein automatisiertes System in die Lager verfrachtet werden. Barcode-Lese-Automaten registrieren die Verfallsdaten der angelieferten Waren. Weil aber in großen Mengen gelieferte Dosentomaten das Verfallsdatum 2005 besaßen, interpretierte der Barcode-Automat dies als 1905. Die vermeintlich etwas ältlichen Liebesäpfel zog das automatisierte Lagerhaltungssystem prompt wieder aus dem Verkehr und beförderte die Frischware auf den Abfall. Kommentar des Dosentomatenlieferanten: "Wir hatten uns schon gewundert, was für einen rasanten Absatz an Tomaten ihr in der letzten Zeit hattet."

In einem Londoner Krankenhaus verschob ein Computer eigenmächtig eine Operation auf einen späteren Termin. Das System gab an, das Hospital halte nicht mehr genügend Tupfer für den Eingriff vor. Tupfer besitzen ähnlich Lebensmitteln ein Verfallsdatum. Im vorliegenden Fall war dies ein Datum im Jahr 2001, das der Computer wieder als 1901 mißinterpretierte.

Nicht mehr witzig fanden es die Bewohner der australischen Stadt Coffs Harbour, als in ihrem Wasserklärwerk die Uhren testhalber ebenfalls auf den 1. Januar 2000 gestellt wurden. Wieder mißinterpretierte das Computersystem das Datum. Folge: Es veranlaßte, daß die zur Reinigung des Wassers benutzten Chemikalien in einer extrem hohen Dosis beigemischt wurden. Experten meinten, die Menge hätte ausgereicht, die gesamte Stadtbevölkerung ins Jenseits zu befördern.

Was in knapp 390 Tagen in Städten wie New York oder London grimmige Wirklichkeit werden könnte, hat die britische Corporation 2000 in zwei Studien hochgerechnet, die aus dem Herbst 1997 datieren. Nur 50 Prozent der Energieversorgung wird danach in der US-Metropole in den ersten zehn Tagen verfügbar sein, Krankenhäuser werden vier Wochen lang nur noch Notfälle aufnehmen können, Telekommunikationsunternehmen während der ersten anderthalb Wochen nur noch mit einem auf die Hälfte reduzierten Dienstleistungsangebot aufwarten können. Das Transportwesen auf Schienen, Straßen und in der Luft kommt nach diesen Hochrechnungen für bis zu 30 Tage zum Erliegen. London, bilanziert die Corporation 2000, werde noch härter betroffen sein. Kleiner Nebeneffekt des Y2K-Problems: Flüge von Heathrow und Gatwick könnten bereits ab Mitte Dezember 1999 allein deshalb komplett storniert werden, weil Versicherungen für eventuell auftretende Vorfälle im Zusammenhang mit der Y2K-Umstellung keine Risikodeckung mehr übernehmen.

Auch wenn die Studien bereits 1997 veröffentlicht wurden, sind sie doch nicht Schnee von gestern. Das Berner Kraftwerk hat dieser Tage veröffentlicht, es könne möglicherweise ab dem 1. Januar 2000 die umliegenden Hospitäler nur noch mit erheblich reduzierter Energieleistung versehen.

Die Stadtwerke Hannover haben zwar im März 1998 prinzipiell Entwarnung gegeben. Doch Jürgen Rehmer, Leiter der Abteilung Prozeß-DV, bleibt skeptisch. Die eigenen Tests gäben keine Informationen über andere normalerweise angeschlossene Rechner der Stadt und der Kraftwerksbetreiber. Ergo also auch keine Auskunft über die Stabilität der Schnittstellen.

In der Anhörung vor einem Senatskomitee des US-Bundesstaats Ohio vorige Woche malte der Auditor Jim Petro ein mögliches Chaosszenario an die Wand: Sozialfürsorge und Arbeitslosenhilfe könnten nur noch verspätet ausbezahlt werden, kommunale beziehungsweise staatliche Dienstleistungen wie Steuerberechnungen und -erhebungen zum Erliegen kommen, 911-Notrufnummern ebenso wie Verkehrskontrollsysteme unterbrochen sein. Die republikanische Senatorin Janet Howard kommentierte sarkastisch: "Wir sind regelrecht in Panik verfallen, um unsere Computer noch rechtzeitig auf Vordermann zu bringen."

Und auch die CIA macht sich so ihre Gedanken: Die US-Regierung, besorgt wegen mangelhafter Y2K-Vorkehrungen in asiatischen und europäischen Ländern, verschickte Telegramme an ihre Botschafter weltweit: Sie sollten ausländische Regierungen auffordern, ihre Y2K-Vorbereitungen offenzulegen. Offensichtlich rechnet die US-Regierung aber nicht mit viel Widerhall. Anders ist es wohl nicht zu erklären, daß das CIA-Hauptquartier seine Agenten weltweit angewiesen hat, für den 1. Januar 2000 warme Decken und ausreichend Bargeld bereitzuhalten.

Verschachteltes Problem: Wie eine russische Matrioschka-Puppe bauen sich _DZ:

mehrere Black-boxes zu einem Embedded-System auf. Die Schwierigkeit für einen \Anwender, der solch ein System auf seine Y2K-Tauglichkeit überprüfen will (und muß!), besteht darin: Mehrere in sich gestaffelte Softwarecodes und -Bibliotheken vom Anwender wie von Herstellern und Subherstellern müßten offengelegt werden. Eine fast unmögliche Aufgabe.Quelle: IEE