Version 2.0 der 3D-Scriptsprache

VRML trägt die virtuelle Realität in das WWW

06.09.1996

Viel Mut und Voraussicht bewies der Grafik-Workstation- Hersteller Silicon Graphics Inc. (SGI), als er trotz seiner Dominanz im High-end-Bereich bereits vor eineinhalb Jahren die Einführung eines einheitlichen 3D-Standards im World Wide Web (WWW) unterstützte. Mittlerweile entstand die VRML-Version-2.0, die auf Basis des SGI-Formats "Openinventor" dreidimensionale Objekte beschreibt und Hyperlinks ermöglicht.

Die wachsende Bedeutung der 3D-Scriptsprache für den Massenmarkt wird durch das Engagement Netscapes unterstrichen. Die Betaausführung des "Navigator 3.0" von Netscape wartet mit einer ganzen Reihe an eingebauten Plug-ins auf: Neben der Unterstützung der Multimedia-Streams "Liveaudio" und "Livevideo" bieten die Plug-ins "Live 3D" sowie "Quicktime VR" die Möglichkeit, innerhalb des Browsers räumliche Welten zu durchwandern und dreidimensionale Objekte zu betrachten.

Quicktime VR zum Beispiel aus dem Hause Apple ist vielen bereits von Multimedia-CDs bekannt. Mittels Fotos oder Computergrafiken können schnell visuell hochwertige 360-Grad-Visualisierungen erzeugt werden. Diese Technologie stellt keine Anforderungen an die 3D-Tauglichkeit von Grafikkarten, benötigt dafür aber riesige Datenvolumen und spielt daher zur Zeit für Online-Anwendungen noch keine ernstzunehmende Rolle. Doch Netscape hofft anscheinend auf eine sich rasch verbessernde Internet-Bandbreite.

Live 3D wird von der Firma Paper Inc. entwickelt, die vor einigen Monaten von Netscape aufgekauft wurde, und beeindruckt durch eine schnelle Visualisierung. Insbesondere zu vorigen Betaversionen ist ein großer Leistungsunterschied zu bemerken. Selbst ohne 3D- Grafikkarte stellt die Software VRML-Modelle mit bis zu 7000 Polygonen mit einer akzeptablen Frame-Rate dar, und auch Texturen zwingen Live 3D nicht in die Knie. Diese Performance- Verbesserungen ebnen den Weg für neue Anwendungsfelder. Informationen sind beispielsweise nicht nur in Form von Web- Seiten-Hierarchien darstellbar, sondern auch mittels virtueller Welten.

Im Gegensatz zu Homepages bieten die sogenannten "VRML-Homeworlds" eine attraktive 3D-Darstellung von Unternehmen und Produkten im Web. Die dreidimensionale Visualisierung lädt den Online-Besucher ein, die künstliche Welt wie in einem Spiel zu ergründen. Dadurch wird er zu Angeboten oder Produkten geführt, die ihm beim konventionellen Surfen entgangen wären. Das Labor für Virtuelle Interaktive Systeme (VIS-Lab) des Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) zeigt beispielsweise ein detailgetreues VRML-Modell der eigenen Räume auf dem Web-Server http://www.iao.fhg.de/VR/ . In der VIS-Lab-Homeworld sind viele Objekte mit Hyperlinks auf Informationsbereiche der Web-Site versehen. So kann der virtuelle Besucher per Doppelklick auf den Scanner mehr über die 3D-Digitizing-Projekte des IAO erfahren.

Schlechte 3D-Performance setzt VRML noch Grenzen Vor allem in den USA nutzen Anwender zunehmend 3D-Verfahren für virtuelle Ausstellungen und Konferenzen. Hierfür werden spezielle Multiuser-fähige VRML-Browser entwickelt, wie etwa "Cybergate" der Black Sun Interactive AG aus München http://www.blacksun.de . Gemeinsam mit Gleichgesinnten aus aller Welt können Online- Besucher unabhängig von ihrer physikalischen Position virtuelle Welten ergründen, sich gegenseitig in Form von 3D-Repräsentationen (sogenannte Avatars) sehen und auch miteinander plaudern.

Der Mensch nimmt seine Umwelt räumlich wahr und speichert Informationen dreidimensional. Daher ist die Darstellung von Web- Inhalten in 3D eine weitere Verbesserung der Mensch-Maschine- Schnittstelle und besitzt somit ein großes Potential, Wissen und Informationen auf natürliche und intuitive Weise zu vermitteln. Die Anwendung von VRML wird bereits in verschiedenen Bildungsbereichen erforscht und verspricht eine effizientere und schnellere Wissensvermittlung.

Ein weiterer Anwendungsbereich, der am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart erprobt wird, ist das Facility-Management (FM). Die Wartung und Verwaltung von Gebäuden wird mit Hilfe von VRML-Visualisierungen der Objekte verbessert: Fehlentscheidungen des Personals werden seltener, die Orientierung ist einfacher, und die Einarbeitungszeit läßt sich reduzieren. Das oben bereits beschriebene VRML-Modell des VIS- Labors ist beispielsweise mit Netzverkabelungsplänen versehen sowie mit kleinen Java-Applets verbunden, die die momentane Auslastung und Konfiguration jeder einzelnen Workstation ausgeben. Ein Doppelklick auf einen bestimmten Computer startet das Applet und lädt eine dynamisch erzeugte Web-Seite mit den ermittelten Daten. VRML kombiniert mit Web-Applikationen stellt somit ein wirkungsvolles und intuitives Werkzeug für die externe Gebäudebewirtschaftung dar.

Produktpräsentationen mittels VRML ermöglichen auch eine bessere Darstellung von Form und Design. Der Betrachter kann Produkte von allen Seiten ansehen und somit die ästhetische Qualität besser wahrnehmen als durch eine statische Abbildung. Mit der durch in VRML 2.0 integrierten Funktionalität kann der Web-Besucher beispielsweise im Online-Katalog Produktfarben ändern und damit das 3D-Modell des Produkts seinen Vorstellungen entsprechend anpassen.

Einen interessanten VRML-Einsatz bietet die Firma Tagetes Refill- Service http://www.tagetes.com aus Stuttgart, die Tintenpatronen recycelt und im Internet vertreibt: Die angebotenen Patronen werden in Form von VRML-Modellen visualisiert. Der Kunde kann seine gewünschte Patrone vor der Online-Bestellung von allen Seiten betrachten und somit sicherzugehen, das richtige Produkt zu bestellen. "Wir setzen VRML auf unserem Webserver ein, um den Anteil von Fehlbestellungen zu reduzieren. Unsere Kunden können sich so vergewissern, daß sie auch wirklich die passenden Patronen ordern", erläutert Tagetes-Geschäftsführer Thomas Dahm. Dank effizienter Modellierung sind die VRML-Modelle mit durchschnittlich 4 KB halb so groß wie eine entsprechende GIF- Abbildung.

In bezug auf die beschränkte 3D-Grafik-Performance von durchschnittlichen Desktop-Computern sowie die teilweise mangelnde Internet-Bandbreite sind der Komplexität von VRML-Applikationen noch Grenzen gesetzt. Es gibt jedoch einige Schrauben, an denen gedreht werden kann, um VRML auch heute schon einzusetzen.

Was die langen Ladezeiten im Internet betrifft, ist die häufig ablehnende Haltung gegenüber VRML aufgrund der hohen Datenvolumen selten berechtigt. Die Abbildung verdeutlicht, daß komprimierte VRML-Modelle um einiges kleiner ausfallen können als vergleichbare Quicktime-VR-Movies oder -Animationen und sogar noch weniger Bytes benötigen als ein Snapshot der 3D-Welt. Neben effizienter 3D- Modellierung helfen auch Algorithmen zur Polygonreduktion sowie Kompressionsverfahren, um die Dateigröße eines VRML-Modells auf bis zu zehn Prozent des ursprünglichen 3D-Rohlings herunterzuschrauben.

Mit Blick auf das Potential von VRML 2.0, investieren zur Zeit eine große Zahl amerikanischer Firmen vor allem in das Marktsegment Entertainment. Spiele werden vielleicht in Zukunft nicht mehr gekauft, sondern als eine Art Dienstleistung in Anspruch genommen. Als Benutzerschnittstelle für Anwendungsprogramme dürfte VRML künftig außerdem im System- und Netz-Management, der Maschinensteuerung im CAD/CAM-Bereich oder virtuellen Messen oder Einkaufszentren Schlagzeilen machen.

*Jens Dauner arbeitet freiberuflich im Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart.