Von intelligenter zu kluger Technologie

29.05.1987

Oskar Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes Saarbrücken

Niemand wird bestreiten, daß die derzeitige Veränderung unserer Technostruktur einer epochalen Revolution gleichkommt, die wichtige gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen haben wird. Noch können wir diese Folgen nicht exakt abschätzen. Einige allgemeine Tendenzen aber sind zum heutigen Zeitpunkt durchaus absehbar. Die steigende "Intelligenz" der neuen Computer geht einher mit der steigenden Komplexität von kleinen technischen Systemen. Experten sagen voraus, daß die Produktion und die Verteilung von Gütern sowie die Verwaltung von technischen und sozialen Systemen künftig weitgehend von immer kleineren, immer komplexeren technischen Einheiten geleistet werden wird. Damit verbunden sei die Möglichkeit einer zunehmenden Dezentralisierung von Produktion, Verteilung und Verwaltung sowie die Möglichkeit einer wachsenden Autonomie von kleinen Produktions-, Verteilungs- und Verwaltungseinheiten. Wenn solche Aussagen in der Tendenz richtig sind, dann muß eine vorausschauende Technologiepolitik, die sich vor allem den Ausbau einer mittelständischen Wirtschaftsstruktur zum Zukunftsziel gesetzt hat, auch konsequent die Grundlagenforschung auf dem Gebiet solcher Hochtechnologien unterstützen.

Natürlich weiß auch die saarländische Landesregierung um den Januskopf der modernen Technologien. Doch selbst die schärfsten unter den ernstzunehmenden Kritikern der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gehen nicht soweit, die Notwendigkeit der Grundlagenforschung in diesem Bereich anzuzweifeln. Um so mehr ist Verantwortungsbewußtsein bei der Anwendung vonnöten. Denn es steht außer Frage, daß die Menschen technisch mehr können, als sie derzeit gesellschaftlich, politisch oder ethisch zu bewältigen in der Lage sind. Daraus folgt der Imperativ, nicht alles zu machen, was technisch machbar ist. "Das Risiko des Zuviel ist immer gegenwärtig", sagt Hans Jonas. "Das richtige Maß finden heißt, sich an der richtigen Stelle mäßigen."

Im vergangenen Jahr hat Edzard Reuter darauf hingewiesen, daß man die technische Wirklichkeit weder mit angstvoll aufgerissenen noch mit begeistert glänzenden Augen je wird zutreffend erkennen können. "Vor allem müssen wir Realisten sein", sagt er. "Wir dürfen nie vergessen, daß wir dafür zu sorgen haben, die Folgen von Fehlentwicklungen gering zu halten. Das erfordert kleine Schritte statt großer Sprünge, um bei Bedarf korrigieren zu können. Vorsichtiges Vorangehen, gepaart mit geistiger Offenheit, der Wille, sich dem schwierigen Versuch auszusetzen, das ist das einzige Verfahren, mit dem wir der Vernunft Geltung verschaffen können. Zugleich müssen wir freilich im Auge behalten, daß die Chance des Fortschritts vertan wird, wenn wir ihm seine kritische Masse nehmen: Es gibt ein Zuwenig, das ein Garnichts bedeutet."

Wir dürfen nie vergessen, daß die Technik, historisch gesehen, ein Instrument der Befreiung des Menschen aus den Fesseln der Natur war. Die Technisierung war der einzige Weg, um den Hunger und die gesellschaftliche Armut zu überwinden. "Ihn rückgängig zu machen", sagt Karl Jaspers, "hieße das Dasein bis zur Unmöglichkeit erschweren."

Wenn wir die Zukunft bewältigen wollen, gibt es keine Alternative zur Weiterentwicklung der Technik. Es kommt nur darauf an, die Technik den Menschen anzupassen, nicht die Menschen der Technik. Die grundsätzliche Frage, die jeder zu stellen hat, der Sinn oder Unsinn der technischen Entwicklung beurteilen will, lautet demnach nicht: "Was soll der Mensch tun?", sondern sie lautet: "Was soll der sein?" Nur ein fest umrissenes Menschenbild kann uns das menschliche Maß für die Technik liefern. Wir brauchen nicht nur intelligente Technologien, wir brauchen mehr, wir brauchen vor allem "kluge" Technologien, so hat es Josef Weizenbaum, einer der Großen der amerikanischen Computerwissenschaft, vor einem Jahrzehnt bereits formuliert. "Kluge" Technologien, das sind Technologien, die das Leben und die Würde der Menschen nicht bedrohen.

Durch die neuartigen Speichermedien könnte der Computer vom Universalrechner mit festem, eingegebenem Programm zu einer selbständig entscheidenden sich selbst programmierenden Maschine werden. Solche höchst komplexen Computerprogramme wären in der Lage, das Wissen menschlicher Experten zu speichern und an den Benutzer weiterzugeben. Die Maschine soll dem Benutzer auch dann alle möglichen Lösungen seiner Problemstellungen aufzeigen können, wenn er ihr seine Befehle und Fragen weder in einer besonders maschinengerechten noch in einer logischen oder konsistenten Formulierung stellt.

Da Benutzer und Maschine in der natürlichen menschlichen Sprache kommunizieren sollen, erfordern solche "Expertensysteme" sowohl ein semantisches Verständnis und eine korrekte Deutung des Sinngehalts der Benutzereingabe als auch eine dem Expertenwissen vergleichbare Fakten- und Theoriekenntnis. Vorausgesetzt, es gelänge, ein "Expertensystem" auf solche Art "intelligent" zu machen, so stellt sich immer noch die Frage, wie man es in dem oben definierten Sinn "klug" macht. Was bleibt uns anderes übrig, als diese intelligenten Maschinen gleichsam voll außen her, mittels kluger Verwendung durch die Menschen, "klug" zu machen. Hierbei ist auch die Humanwissenschaft gefordert.

In dem Buch "Technik, Medizin und Ethik" schreibt Hans Jonas: "Daß Technik ethischen Erwägungen unterliegt, folgt aus der einfachen Tatsache, daß die Technik eine Ausübung menschlicher Macht ist, das heißt eine Form des Handelns, und alles menschliche Handeln moralischer Prüfung ausgesetzt ist."

Die notwendige Folgenabschätzung der Technik darf sich nicht in sozialpolitischem oder wirtschaftlichem Kalkül erschöpfen, sie muß heute mehr denn je eine ethische Dimension bewahren. Allein aus der Philosophie und der Ethik läßt sich das Grundmaß für eine humane Technologie gewinnen. Die Technik darf nicht das Leben, die Freiheit oder die Würde der Menschen bedrohen, sie darf zwischenmenschliche Beziehungen nicht verdrängen. Alle menschlichen Faktoren, die mit Emotionen, die mit gegenseitigem Respekt, mit Verständnis oder mit Zuneigung zusammenhängen, können und dürfen durch kein noch so intelligentes Computersystem ersetzt werden. Hier sind nach meiner Auffassung den überzogenen Erwartungen an die "künstliche Intelligenz" Grenzen gesetzt. Natürlich darf die Maschine menschliche Arbeitskraft ersetzen, darf mithelfen, unsere tägliche Arbeit sicherer und effektiver zu machen.

Was für die körperliche Arbeit gilt gleichermaßen für die Kopfarbeit. Bestand das Wesen der ersten industriell-technischen Revolution darin, daß die körperliche durch die mechanische Kraft ersetzt wurde, so besteht die heutige darin, daß die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen von Automaten ergänzt und sogar ersetzt werden. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, sofern gewährleistet wird, daß die durch den Einsatz von Automaten erzielte Produktivitätssteigerung nicht zu Lasten jener Gruppe von unmittelbar betroffenen Arbeitnehmern geht, sondern allen gerechterweise zugute kommt. In einer Zeit wachsender Arbeitslosigkeit darf eine zukunftsorientierte Technologiepolitik nicht mehr die Einsparung des Produktionsfaktors "menschliche Arbeit" als dominierendes Ziel verfolgen.

Die Technik soll teilweise die körperliche oder geistige Arbeitskraft des Menschen ersetzen, sie darf aber nie den Menschen selbst ersetzen, sie darf auch nicht seine schöpferischen Fähigkeiten lähmen, ihn zur geistlosen Maschine degradieren. Im Gegenteil: Die Technik soll eingesetzt werden, um den Menschen von ermüdender, erniedrigender, geisttötender, sich stets wiederholender Routinearbeit zu befreien. Wenn die Technik der Zukunft sehr viel intelligenter sein wird, dann sollte sie auch sehr viel "klüger" werden. Sie muß sich von den Menschen beherrschen lassen und nicht selber den Menschen beherrschen. Sie soll der sozialen Kontrolle unterworfen sein, damit sie sozial verträglich bleibt. Wenn aber die Technik selber nicht klug sein kann, dann müssen es die Menschen sein, die sie anwenden.

Auszug aus der Regierungserklärung vor dem Landtag des Saarlandes am 6. Mai 1987 zur Forschungs- und Technologiepolitik.