IT-Innovationen/Eintagsfliegen und nachhaltige Trends unterscheiden

Vom Hype zum State of the Art

27.07.2001
In immer gleichen Wellen entwickeln sich Innovationen in der Informationstechnologie vom Modethema zum Standard. Oder sie fallen sang- und klanglos bei Kunden und Anwendern durch und vernichten dabei Millionen an Kapital. Für Unternehmen ist es deshalb schwierig, die richtigen strategischen Entscheidungen zu treffen. Von Lars Reppesgaard*

Erinnert sich noch jemand an Lou Bega und den "Mambo Nr. 5"? Einen Sommer lang brachte der deutsche Popstar Menschen dazu, ihre Hüften zum Mambo zu schwingen. Tanzlehrer erfreuten sich an überfüllten Kurse, etliche andere Sänger versuchten, mit ähnlichen Latinopop-Stücken auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Wer 1999 auf Mambo setzte, verdiente einen Sommer lang sehr viel Geld. Und heute? In diesem Sommer hört man wieder Madonna, die Sommernummer blieb Lou Begas einziger Hit. Mambo spielt keine Rolle mehr, der Hype ist zu Ende.

Lässt sich das, was in der Popmusik als Phänomen anschaulich und einfach zu illustrieren ist, auf den Bereich der Informationstechnologien übertragen? Andreas Steinle, Gesellschafter beim Hamburger Beratungsunternehmen Trendbüro, glaubt: Ja. Auch im IT-Bereich finden sich Senkrechtstarter wie Napster-Gründer Shawn Fenning und Modethemen wie Peer-to-Peer-Computing, die sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Und es gibt Entwicklungen wie WAP, die ohne tiefe Kenntnis des technologischen Potenzials und der Akzeptanz beim Anwender in einem System gegenseitiger Selbstbestätigung von Entwicklern, Investoren, Analysten und Journalisten hochgejubelt und ein paar Atemzüge später wieder fallen gelassen werden. Kurz gesagt: Es gibt ihn auch hier, den Hype.

Stille um viele NeuerungenMit tatsächlichen technischen Innovationen oder neuen Geschäftsmodellen hat das kollektive Hochjubeln von B-to-C, B-to-B & Co. wenig zu tun. Sind also nur sensationshungrige Medien und gierige Aktienzocker für die geplatzte New-Economy-Blase und andere Hypes verantwortlich? Das wäre zu einfach gedacht. Das Phänomen der Hypes und Modethemen gibt es in der IT-Welt auch ohne dass Börsenmilliarden umgesetzt werden. Ein Indiz dafür sind Top-Ten-Listen technischer Entwicklungen, die zum Beispiel die Gartner Group veröffentlicht. In ihnen finden IT-Profis die Entwicklungen wieder, die man nach Ansicht der Analysten im Auge behalten sollte. Um viele Neuerungen ist es still geworden, die es 1999, zu Zeiten des Mambo Nr. 5, auf die Gartner-Liste schafften. Spracherkennung, elektronische Bücher oder Avatare - sie alle haben die Erwartungen nicht oder noch nicht erfüllt. Der führende Hersteller für Spracherkennungssoftware, das belgische Unternehmen Lernout & Hauspie, beantragte in diesem Sommer gar Gläubigerschutz. Und selbst ein Branchenriese wie Cisco hat trotz seiner beachtlichen Marktmacht die Millionen, welche die Kalifornier in Voice-over-IP investierten, noch lange nicht wieder eingespielt.

Konsequentes "Management By Reality"Kaum ein Mensch liest elektronische Bücher, obwohl es viele professionelle Download-Angebote für sie gibt. Selbst Bestsellerautor Stephen King scheiterte mit einem Versuch, seine Romane in digitaler Form über das Internet zu vertreiben. Und noch heute werden wir fast nirgendwo im Netz von einem freundlichen Avatar begrüßt, der uns durch die Internet-Seiten eines Unternehmens führt. Im Gegenteil: Im März dieses Jahres trennte sich der Hamburger IT-Dienstleister PopNet, der lange auf die virtuellen Figuren gesetzt hatte, endgültig von seiner Entwicklungsabteilung Agentscape. "Die Realität der New Economy und die Wirklichkeit an den Kapitalmärkten erfordern verstärkt ein konsequentes "Management By Reality", kommentierte Thomas Rabe, Finanzvorstand der PopNet Internet AG, die Trennung. Im Klartext: Hinter der Aufregung um die Pixel-Gestalten steckte zu wenig Substanz, um mit ihnen Geld zu verdienen.

Es hat also etwas für sich, betont nüchtern vermeintliche und tatsächliche Neuerungen zunächst aus der Ferne zu betrachten, wie es Hannes Pfister tut. Der Leiter des Bereichs Informationssysteme bei Lufthansa Technik in Hamburg sagt: "Wir sind im positiven Sinne ein konservativer Betrieb mit Distanz zu den neuesten Trends." Aufgabe von Lufthansa Technik ist die Reparatur und Wartung von Flugzeugen - kein sehr dynamischer Markt. "Wir müssen uns zum Glück nicht alle zwei Monate auf einen neuen Kundenkreis ausrichten", sagt Pfister. Rund 600 Fachbetriebe bieten weltweit Dienstleistungen um dieses Produkt an, rund 1200 Fluglinien sind die potenziellen Kunden. Abwarten, Abwägen, ob sich aus einer neuen Anwendung oder einem Softwaremodell ein konkreter Business Case entwickeln lässt, der dem Unternehmen oder den Kunden Geld bringt, ist deshalb für Pfister die richtige Strategie. Bei den vier genannten Technologien dürfte das wohl kaum der Fall sein.

Der TrendEinfach abzuwarten ist angesichts eines technologischen Hypes allerdings nicht immer die richtige Strategie - vor allem wenn man um die Technologieführerschaft auf einem Gebiet kämpft. Einige hochgejubelte Entwicklungen haben die IT-Landschaft schließlich tatsächlich nachhaltig verändert. Beispiel Java: Zwei Jahre lang hatten die Entwickler von Sun Microsystems vor sich hin gewerkelt, bis im Winter 1995 die ersten Demoversionen der objektorientierten Programmiersprache veröffentlicht wurden. Dem Unternehmen, das zu dieser Zeit mit der Entwicklung seiner Workstations in einer Sackgasse geraten war, wurde dadurch kurzzeitig von der IT-Fachwelt das Potenzial zugesprochen, Microsoft als wichtigstem Softwareunternehmen den Rang abzulaufen. Das schreibt der amerikanische Computerjournalist Gary Rivlin in seinem Buch "The Plot to get Bill Gates". "Ein Artikel auf der ersten Seite der San Jose Mercury News veränderte alles", zitiert er Kim Polese, die damalige Marketing-Managerin des Java-Entwicklungsprojekts. Innerhalb einiger Wochen griffen mehr als 100 Zeitungen das Thema auf. "Ein fundamentaler Durchbruch in der Geschichte der Technologie, der Microsofts Softwarevorherrschaft in Frage stellt", urteilte das Magazin Forbes# über die Programmiersprache. Die Softwareentwickler zogen nach: In Java zu programmieren wurde zum Trend. Mit dieser Sprache können Profi- und Unterhaltungsanwendungen für Handys oder Handheld-Computer gleichermaßen wie für Großrechner und PCs entwickelt werden. Java bedeutete zwar nicht Microsofts Ende. Doch mit seiner Hilfe lernten Figuren im Internet laufen, blinken nun Aktien- oder Nachrichtenticker auf den Homepages, um Surfer mit Echtzeit-Informationen zu versorgen. Java gehört heute zum Alltag im IT-Geschäft. Profis verlassen sich darauf, dass ihre Projektpartner mit dieser Technologie umgehen können.

Einen ähnlich großen Wurf versucht Sun derzeit mit der Entwicklung von JXTA als künftiges Betriebssystem für alle erdenklichen Formen des Peer-to-Peer-Computing (P-to-P) zu landen. Bislang besteht JXTA aus rund 25000 Zeilen Code, die sich auf Handys wie auf Servern unterbringen lassen. Der Code basiert auf dem Dokumentenauszeichnungsstandard XML (Extensible Markup Language). Mit ihm sollen Entwickler Suchwerkzeuge und andere P-to-P-Anwendungen entwickeln können. Erste Geräte, auf denen JXTA läuft, werden allerdings frühestens im April 2002 auf den Markt kommen. Siegfried Steiner, Chief Technical Officer des Softwareunternehmens Jatelite in München, hat Verständnis dafür, dass die von Scott McNealy geleitete Company wie viele IT-Unternehmen Neuentwicklungen möglichst früh und mit viel Theaterdonner garniert hochjubelt. "Das gehört einfach zum Geschäft. Und es geht oft nicht anders, als dass ein wichtiger Trend mit einem Hype beginnt. Sonst würde womöglich gar niemand bemerken, dass es eine Neuerung gibt."

Nicht allein JXTA, sondern die gesamte P-to-P-Technologie, auf die sich auch sein Unternehmen spezialisiert hat, ist für Steiner ein Beispiel für ein Modethema: "Napster hat dafür gesorgt, dass sich viele überhaupt für P-to-P interessieren." Ohne die Millionen Musikfans würde die Tatsache, dass intelligente Clients Serverfunktionen in einem Netz mit übernehmen, möglicherweise nach wie vor nur in technischen Journalen als eine von vielen guten Ideen diskutiert werden, die Tag für Tag durch die IT-Szene geistern. So aber ist P-to-P voll im Trend. Die First Union Bank setzt als erstes Wall-Street-Unternehmen P-to-P-Software von Datasynapse ein, um Rechnerleistung auf Mitarbeiter-PCs für Finanzkalkulationen zu nutzen. Firmen wie Groove Networks versuchen, P-to-P-Funktionalitäten wie den durch Napster populär gewordenen Datenaustausch zwischen PCs, das File Sharing, so sicher zu machen, dass es auch für die Industrie interessant ist. Groove schafft über das Internet virtuelle Arbeitsplätze, auf denen Konzepte oder Konstruktionspläne gemeinsam bearbeitet werden.

P-to-P als Teil des AlltagsDer US-Pharmakonzern GlaxoSmithKline hat bereits 10000 Groove-Lizenzen erworben, das Rüstungsunternehmen Raytheon und die amerikanische Militärforschungsagentur Darpa testen derzeit die Software. "In einigen Jahren wird P-to-P schlicht Teil bestimmter Rechnerarchitekturen sein. Wir werden so wenig darüber diskutieren, wie wir es heute über Clients und Server tun", vermutet Erik Oldekop, Leiter der TEC-Advanced Technology Group der Deutschen Bank in San Francisco. Auch Siegfried Steiner glaubt: "Zurzeit erweckt P-to-P den Anschein eines Hypes. Aber es wird sich bald als Standard etablieren, über den man nicht weiter redet."

Dann wären JXTA und P-to-P dort angekommen, wo Java bereits ist. Es ist nicht nur bei Jatelite ein Teil des IT-Alltags, über den keiner mehr viele Worte verliert und dessen Funktionalitäten man als gegeben hinnimmt. Der Erfolg des Dokumentenstandards XML ist ein aktuelles Beispiel für eine Entwicklung, die Hype- und Trendzeiten gerade hinter sich hat und zum State of the Art geworden ist. Mit Hilfe dieser Beschreibungssprache verstehen Computerprogramme automatisch, welche Bedeutung ein Datensatz hat und wie sie ihn verarbeiten sollen. Noch vor zwei Jahren nannten die meisten der von Activemedia befragten IT-Manager die Vereinheitlichung von Datenstrukturen mit Hilfe von XML als Grundvoraussetzung für den Erfolg des B-to-B-Geschäfts. Obwohl sein Erfolg noch von gewichtigen anderen Faktoren abhängt, ist klar, dass XML das Vereinheitlichungswerkzeug ist, auf das alle Entwickler automatisierter Geschäftsbeziehungen setzen. Peter Bernard, Sprecher des Münchner B-to-B-Softwareunternehmens Ariba Deutschland, nennt XML "einen Meilenstein in der Geschichte des Internet".

Wetten gewinnenDer Standard beruht auf einem Vorschlag des World Wide Web Consortiums. Das Internet-Normierungsgremium hatte im Februar 1998 einen Entwurf US-amerikanischer Programmierer in einer nur 26-seitigen Spezifikation der IT-Welt zugänglich gemacht. Auf dieser Basis entwickelt heute ein Gros der Softwareunternehmen. Seine Programme von der Spezial-XML für Kontaktanzeigen über XMCL für Medieninhalte bis hin zum FinXML der Finanzbranche und zur VoxML der Spracherkennungsunternehmen gibt es mittlerweile weit mehr als 200 - immerhin miteinander kompatible - Spielarten des Standards. Parag Patel, Vice President International Market Development des auf XML-Programmierungen spezialisierten Softwareunternehmens Bowstreet in London: "Die Gesellschaft ist immer mehr in Bewegung. Auf diese Entwicklung ist XML eine Antwort." Für diese These spricht, dass XML-Spezialisten wie Bowstreet heute gute Geschäfte machen. "XML war vor drei Jahren eine Wette, und die haben wir gewonnen", sagt Patel.

Wie aber kann ein Unternehmen antizipieren, ob eine als Modethema populäre Entwicklung sich als langlebiger Trend und schließlich als notwendiger Standard erweißt? Wie früh lässt sch ablesen, von welchen technologischen Möglichkeiten Investoren lieber die Finger lassen sollten? Welche Wette auf die Zukunft ist die richtige?

Das Institut für Innovative Marktforschung und Informationsmanagement GmbH (InMaFo) bietet ein direktes Consulting im Bereich Innovationsforschung an. Die Münchner helfen Entscheidern durch mehrtägige Workshops mit geschlossenen Benutzergruppen zu erkennen, welche Neuerungen für Anwender wichtig sind. "Unternehmen neigen dazu, das, was technisch machbar ist, auch zu realisieren", glaubt der geschäftsführende Gesellschafter von InMaFo, Gert Autz. "Es gilt aber immer abzuprüfen, ob potenzielle Kunden mit den Produkten auch etwas anfangen können. Das technisch Machbare per se für eine Innovation zu halten, ist ein Fehler. Die technische Machbarkeit von UMTS steht zum Beispiel nicht in Frage. Unklar ist aber, ob es Bedürfnisse erfüllt."

*Lars Reppesgaard ist freier Journalist in Hamburg.