Volkszählung: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben

06.05.1983

Hans Gliss, Vorstandsmitglied der GDD, Bonn*

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner einstweiligen Anordnung, mit der der Vollzug der Volkszählung 1983 ausgesetzt wird, von unserer Gesellschaft Schaden abgewendet. Und das, obwohl nun Ausgaben in dreistelliger Millionenhöhe - die Kosten der Vorbereitung - in den Sand gesetzt wurden. Wäre nämlich die Volkszählung aller Mahnungen zum Trotz am 27. April 1983 durchgeprügelt worden, dann hätte sich die Bundesregierung, dies dürfte inzwischen gewiß sein, neben dem Risiko der verbreiteten Datensabotage durch sensibilisierte Bürger langfristig angelegte Folgeschäden eingehandelt: Das Vertrauensverhältnis gegenüber Politikern und Behörden wäre genauso betroffen gewesen wie das Ansehen der Informationsverarbeiter in Wirtschaft und -öffentlicher Verwaltung.

Erneut und gründlich nachdenken

Bemerkenswert am Urteil des Bundesverfassungsgerichts (vom 13. April 1983) ist, daß damit die anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen das Volkszählungsgesetz als rechtlich substantiiert anerkannt werden. Hätte nämlich das Bundesverfassungsgericht wenig Chancen für einen im Sinne der Antragsteller positiven Ausgang der Verfassungsbeschwerden gesehen, so hätte das Gericht die Aussetzung der Volkszählung schon wegen der ausgegebenen Millionen nicht beschließen können. Kein geringerer als der hessische Landesdatenschützer Prof. Spiros Simitis hatte bekanntlich den Paragraphen 9 des Volkszählungsgesetzes als verfassungswidrig bezeichnet, eine Haltung, der sich Bull am Tage der Verhandlung in Karlsruhe anschloß. Man wird also davon ausgehen dürfen ohne dem Bundesverfassungsgericht in irgendeiner Weise vorgreifen zu wollen -, daß der Gesetzgeber über die Volkszählung erneut und gründlich nachdenken muß. Und das ist das beste, was nach dem verfahrenen Stand der Dinge erwartet werden konnte.

Am 12. April 1983 hat Franz Kroppenstedt, Präsident des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausführlich begründet, warum die Fragen in den Volkszählungsbögen so und nicht anders selektiert und formuliert wurden. Es ist dies die beste Begründung, die ich von den Befürwortern der Volkszählung gelesen habe. Nur: Das alles hätte man im Vorfeld, bevor die ersten Fragebögen überhaupt gedruckt wurden, öffentlich darlegen müssen. Und es wäre Aufgabe der Bundesregierung gewesen, für eine sachliche Aufklärung zu sorgen und die Resonanzen zu bündeln.

Kroppenstedt weist in dem viel zu spät erschienenen Artikel darauf hin, daß die demographischen Angaben, die das Ergebnis von Volkszählungen darstellen, Basis für die verschiedensten Rechtsvorschriften, politischen Entscheidungen und öffentlichen Finanzplanungen sind. Insbesondere gehe es darum, strukturelle Unterschiede nach Regionen, Alters- und Berufsgruppen, nach verschiedenen Bildungs- und Einkommensschichten aufzuzeigen. Das ist plausibel, denn wenn man die Entwicklung der Wirtschaft sich nicht selbst überlassen will, wenn sozial Schwache besonders abgesichert, Förderungsbedürftige gefördert werden sollen, dann bedarf es hinreichend verläßlichen Datenmaterials, wenn Planung nicht zum Lotteriespiel ausarten soll. Daß es in vielen Bereichen trotz guten Datenmaterials immer wieder zu Fehlplanungen und zu Entwicklungen gekommen ist, die anders verliefen als sich die Planer dies vorgestellt hatten, spricht nicht unbedingt gegen Statistik an sich.

Es ist deprimierend, daß es den Verantwortlichen nicht gelungen ist, die Notwendigkeit einer demographischen Bestandsaufnahme überzeugend darzulegen. Im Vorfeld der Gesetzgebung hätte man für eine derartige Aufklärungsarbeit Zeit gehabt. Mehr noch: Man hätte durch eine in die Öffentlichkeit getragene Diskussion um die Notwendigkeit demographischer Erhebungen mit absoluter Gewißheit all die Argumente gehört, die in den letzten Wochen vorgetragen wurden. Daß dies zu einer Korrektur des Gesetzesvorschlags geführt hätte, dürfte außer Zweifel stehen.

Aber die Aussichten stehen ja gut, daß eine Korrektur des Volkszählungsgesetzes demnächst aus Karlsruhe angeordnet wird. Wenn dieser Fall eintritt, kann man - von vergeudeten Millionen einmal abgesehen - insgesamt sehr zufrieden sein. Denn es haben alle Beteiligten gelernt. Vor allen Dingen hat der in Sachen der Datenverarbeitung weitgehend unbedarfte Bürger den Datenschutz als ein Rechtsgut einzuschätzen gelernt, über dessen Bedeutung er vorher vielleicht keine rechte Ahnung hatte. Datenschutz war für die meisten Bürger eine Frage der Direktwerbung ("Wo haben die nur meine Anschrift her?"). Dies hat sich jetzt gründlich geändert. Der GDD-Stand auf der Hannover-Messe war umlagert von Interessenten, die Einzelheiten zur Volkszählung hören wollten.

Die Diskussion hat dem Einzelnen gezeigt, wie schnell man seinen Datenschatten zeichnen kann, und daß es sich lohnt, bei all den Fragen als Betroffener zurückzufragen: "Wozu braucht Ihr das überhaupt?"

Geheimer Algorithmus

Zwei Dinge werden bei einer Änderung des Volkszählungsgesetzes dringend erforderlich sein:

- die Entkoppelung von demographischen und administrativen Zwecken;

- die Gewährleistung einer anonym organisierten Momentaufnahme. Dabei geht es insbesondere um die Trennung von statistischen und personenbezogenen Daten bereits während der Erhebung, und um die unverzügliche Vernichtung der Belege nach Aufnahme der Daten auf magnetische Datenträger. Ferner sollte man sich Verfahren einfallen lassen, die eine Verwertung dieser Datenträger ausschließlich in den statistischen Ämtern sicherstellen. Werden die Daten beispielsweise nach ihrer Aufnahme oder sogar während der Aufnahme kryptographisch behandelt, dann ist ihre Verwertung außerhalb der statistischen Ämter technisch nicht möglich, solange es gelingt, den Verschlüsselungsalgorithmus geheimzuhalten. Das von den amtlichen Datenschutzbeauftragten und den Statistischen Landesämtern stets gelobte Statistikgeheimnis fände in einem solchen Verfahren seinen technischen Niederschlag.

Vielleicht lassen sich auch einige der von den Planern gewünschten Angaben auf anderem Wege, zum Beispiel durch Auswertung bereits vorhandener Dateien gewinnen. Vielleicht stellt sich bei kritischer Betrachtung auch heraus, daß die ein oder andere Statistik doch nicht ganz so notwendig ist, wie sie von einzelnen Behörden dargestellt wird. Aber da habe ich wenig Hoffnung man muß nur mal in ein altes Geschichtsbuch sehen, um festzustellen, daß sich Planer, Statistiker und Verwaltungsvollzug mit einer bis ins einzelne gehenden allgemeinen Datenerhebung eigentlich nur in guter deutscher Tradition befinden: "Die den Deutschen eigentümliche Ausführlichkeit und Systemsucht bildete jene künstliche Bürokratie oder Herrschaft der Schreibstube aus, die im Namen der strengsten Gesetzlichkeit einen vielleicht härteren Druck ausgeübt hat, als je das rohe Faustrecht. Bald wollte man aus reinem Gerechtigkeitsgefühl oder aus väterlicher Fürsorge, von oben aus dem Ministerium herab alles wissen und alles leiten, bis in die geringste Bauernstube hinab; bald nötigten die Geldbedürfnisse auch die kleinsten Quellen des Privateinkommens kennenzulernen, zu bewachen und zu besteuern; bald war es systematischen Köpfen bloß um die Ordnung, um die Vollständigkeit der Einregistrierung zu tun, als ob das ganze Staatsleben nur in ihren Tabellen existiere, und endlich kam durch die zunehmende politische Aufregung die Polizeigewalt in Flor, die das Aufspüren und Beaufsichtigen bis ins Extreme trieb." (Wolfgang Menzel: Geschichte der Deutschen, J. G. Cotta'sche Buchhandlung, Erstausgabe 1821.)

*GDD = Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherung e. V.