Visionär mit Sehstörungen

29.08.2001
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Wolfgang Herrmann war Editorial Manager CIO Magazin bei IDG Business Media. Zuvor war er unter anderem Deputy Editorial Director der IDG-Publikationen COMPUTERWOCHE und CIO und Chefredakteur der Schwesterpublikation TecChannel.
Nach mehreren Standortschließungen hat die Web-Agentur I-D Media allen Beschäftigten in der Berliner Zentrale ein Abfindungsangebot unterbreitet. Bedenkzeit: zwei Tage. Weder zum Umfang des geplanten Personalabbaus noch zur "Einstellung aller nicht zukunftsträchtiger Geschäftsaktivitäten" macht das Unternehmen konkrete Angaben.

„Die Mitarbeiter nehmen für die I-D Media AG einen ganz besonderen Stellenwert ein. Sie waren und sind einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren in der Firmengeschichte.“ So steht es auf der Website von I-D-Media zu lesen. Die Art und Weise, wie sich der einst hochgelobte Internet-Dienstleister von Angestellten trennt, passt indes so gar nicht zu diesem Leitspruch und hat der Führungsriege um den von Analysten zum Visionär hochstilisierten Bernd Kolb herbe Kritik eingebracht.

Quelle: I-D Media
Quelle: I-D Media

Am 21. August erhielten alle 320 in Berlin Beschäftigten ein Abfindungsangebot, das auf den ersten Blick recht generös aussah: Mitarbeiter, die das Unternehmen freiwillig verlassen, sollten mit einer Abfindungssumme von zwei Bruttomonatsgehältern belohnt werden. Bei näherem Hinsehen hatte die Offerte allerdings mehr als einen Haken: Ganze zwei Tage Bedenkzeit räumte Kolb seinen Untergebenen ein. Ein Rücktrittsrecht von dieser Regelung, auch während der laufenden Kündigungsfrist, gibt es für die Mitarbeiter nicht, wohl aber für den Firmenvorstand. Der behält sich vor, entsprechende Anträge der Mitarbeiter bei Bedarf abzulehnen.

„Das ist eine ziemlich linke Tour“, kritisiert Olaf Hofmann von der Gewerkschaftsinitiative Connexx.av. „Der Geschäftsführung geht es darum, möglichst viele Beschäftigte kostengünstig aus dem Unternehmen zu entfernen.“ I-D Media habe das Angebot gemacht, ohne Zahlen zum geplanten Umfang des Personalabbaus zu nennen; zudem sei keinerlei Sozialauswahl getroffen worden. Einige Gruppen, etwa Mitarbeiter im Erziehungsurlaub, würden bei dieser Regelung überhaupt nicht berücksichtigt.

Unternehmenssprecher Sebastian Dietrich verteidigt das Vorgehen. „Das ist ein faires Angebot für die Beschäftigten.“ Die gesetzte Frist von zwei Tagen sei „üblich“. Natürlich müssten laufende Projekte weitergeführt werden, die Handlungsfähigkeit des Unternehmens und die Produktentwicklung gesichert sein. Man behalte sich deshalb vor, Anträge abzulehnen. Wie viel Personal I-D Media nun einsparen will, konnte Dietrich nicht sagen. „Wir haben dafür keine genaue Planung.“ Firmeninternen Gerüchten zufolge soll die Belegschaft in Berlin um mindestens 25 Prozent verringert werden.

Die Informationspolitik des einstigen Börsenlieblings war schon häufiger in die Kritik geraten. Ohne Vorwarnung und für die meisten Mitarbeiter völlig überraschend schloss I-D-Media im Juni seine Hamburger Niederlassung. 93 Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz, von der Betriebsaufgabe erfuhren sie zunächst per Adhoc-Mitteilung und später via E-Mail. Zum 30. September schließt das Unternehmen auch die Standorte in Stuttgart und Wien mit 15 und sechs Angestellten. Einzig die Niederlassung in London soll bestehen bleiben.

Berliner Mitarbeiter, die das Abfindungsangebot annehmen, müssen mit einer Sperrfrist von drei Monaten beim Arbeitslosengeld rechnen, gibt Hofmann zu bedenken. „Fair“ sei das Angebot nur für solche Beschäftigte, die sofort in einen neuen Job wechseln können und für den Rest der Kündigungsfrist freigestellt werden. Angesichts der kurzen Bedenkzeit dürfte dies nur für die wenigsten gelten. Mit den Angestellten in Stuttgart und Wien schloss I-D-Media dagegen Abwicklungsverträge, die keine Auswirkungen auf das Arbeitslosengeld haben.

Gewerkschafter Hofmann vermutet denn auch andere Beweggründe für das Vorgehen in Berlin: „Der Vorstand will Fakten schaffen. Am 30. September sind die Quartalsberichte fällig, und am 11. September soll ein Betriebsrat gewählt werden.“ Damit würden Verhandlungen über einen Sozialplan erforderlich. Mit dem eiligen Abfindungsangebot gehe es der Geschäftsleitung nicht zuletzt darum, Kündigungsschutzklagen zu vermeiden. Die ehemaligen Hamburger Beschäftigten planten ebenfalls die Wahl eines Betriebsrats. Dieser Umstand habe nicht unwesentlich zu der raschen Standortschließung beigetragen, sagte ein Ex-Manager von I-D Media der CW.

Dietrich möchte zu diesen Vorwürfen „ öffentlich gar nicht Stellung nehmen“. Man befinde sich in Gesprächen sowohl mit Mitarbeitern als auch mit Gewerkschaftsvertretern. Wie viele Beschäftigte das Abfindungsangebot angenommen haben, könne er nicht sagen. Im Übrigen handele es sich um eine interne Angelegenheit.

Dass I-D Media dringend sparen muss, ist dagegen schon seit längerem öffentlich bekannt. Im ersten Halbjahr 2001 brach der Umsatz von 39,8 Millionen im Vorjahr auf 29,4 Millionen Mark ein; der Betriebsverlust kletterte von 1,1 Millionen auf 15,7 Millionen Mark. Darin enthalten sind rund 2,7 Millionen Mark für die Standortschließung in Hamburg. Für das gesamte Geschäftsjahr rechnet man mit einem Umsatzrückgang „um 20 bis 35 Prozent“ und einem Betriebsverlust von 25 bis 35 Millionen Mark. Der Markt für Internet-Dienstleistungen habe sich „sehr negativ entwickelt“, sagt Dietrich.

Dennoch scheinen die Krisenpläne noch immer nicht vollständig zu sein. „Es ist kein unternehmerisches Konzept erkennbar“, moniert Hofmann. „Die Mitarbeiter sind total verunsichert.“ Sprecher Dietrich bestätigt zwar die geplante „Konzentration auf das Kerngeschäft“ mit E-Marketing-Lösungen - hier hat I-D-Media unter anderem die Internet-Plattform „Cycosmos“ und das Personalisierungs-Werkzeug „Cynigma“ im Portfolio. Doch was genau mit der „Einstellung aller nicht-zukunftsträchtigen Geschäftsaktivitäten“ gemeint ist, vermag auch er nicht zu sagen. „Das prüfen wir gerade.“ Der Blick in die Zukunft fällt Visionär Kolb offenbar schwer.