Geplatzte Projekte nagen am Image des einstigen Content-Pioniers

Vignette hat seinen Vorsprung verspielt

21.02.2003
MÜNCHEN (wh) - Für Vignette, den Veteranen im Markt für Web-Content-Management, wird die Luft dünner. Gescheiterte Projekte, zurückhaltende Kunden und der wachsende Konkurrenzdruck machen dem texanischen Softwarehaus zu schaffen.

In den Boomzeiten der New Economy galt Vignette als Mercedes der Branche. Ohne lästige Vorabstudien investierten Großkunden Millionen in ihre Web-Auftritte. Die Softwerker aus Austin, Texas, profitierten davon in besonderem Maße: Früher als die Konkurrenz hatten sie es geschafft, den Markt für Web-Content-Management (WCM) zu besetzen. Aus dem für den US-amerikanischen Online-Nachrichtendienst News.com entwickelten Redaktionssystem "Story Server" entstand 1996 das erste vermarktbare Produkt.

Doch seit dem Platzen der Internet-Blase blättert der Lack. Zu komplex, zu teuer, zu lange Projektlaufzeiten, urteilen heute nicht wenige Experten und IT-Verantwortliche über die Software des 1995 gegründeten Unternehmens. Allein im Geschäftsjahr 2002 halbierte sich der Umsatz von knapp 300 Millionen auf 155 Millionen Dollar bei weiterhin hohen Nettoverlusten (siehe Grafik "Geschäftsentwicklung..."). Seit Monaten dümpelt der Aktienkurs zwischen einem und zwei Dollar.

Wechsel im Management

Die schlechten Zahlen blieben für das Management nicht ohne Folgen. Im August 2002 löste der damalige Chief Operating Officer Thomas Hogan den langjährigen Unternehmenschef Greg Peters ab. Etwa zur gleichen Zeit musste Europa-Marketing-Chef Jens-Peter Heymann in der deutschen Niederlassung Platz machen für den ehemaligen Broadvision-Manager Thomas Gessner. Im Januar 2003 kündigte Vignette an, 20 Prozent der rund 1000-köpfigen Belegschaft abzubauen.

Wie so oft verweisen Firmenvertreter und Experten auf konjunkturelle Faktoren, verbunden mit branchenspezifischen Problemen: "Im Markt für Web-Content-Management findet eine heftige Konsolidierung statt", konstatiert etwa Felix von Bredow, Berater bei der Hamburger Project Consult. Mit Sicherheit würden noch einige Anbieter vom Markt verschwinden.

Beispiele gibt es genug. Erst kürzlich übernahm die Ixos Software AG den Schweizer WCM-Anbieter Obtree; der belgisch-französische Anbieter Reef stellte Insolvenzantrag. Etliche Vignette-Konkurrenten wie Hyperwave oder Day Software kämpfen ebenfalls mit Problemen, beobachtet Meta-Group-Analyst Jeff Mann.

Die Talfahrt Vignettes ausschließlich mit konjunkturellen Faktoren zu erklären greift dennoch zu kurz, denn der lange als "Erfinder des dynamischen Content-Managements" gepriesene Hersteller kämpft auch mit hausgemachten Problemen. Viel zu spät habe das Unternehmen die Öffnung und Modularisierung seines monolithischen Systems in Angriff genommen, monieren Kritiker. Zwar genießt die Content-Management-Technik weithin einen guten Ruf; wegen ihrer Komplexität war die Implementierung aber häufig zeitaufwändig und teuer.

So haben sich die Texaner mit einigen gescheiterten Großprojekten "den Markt in Deutschland etwas versaut", wie es Berater von Bredow ausdrückt. Ein prominentes Beispiel lieferte der Web-Auftritt von Bild.T-Online. Nach über einem Jahr Laufzeit beendete der Axel-Springer-Verlag die Zusammenarbeit mit dem Hersteller. Dieser habe es nicht geschafft, "das Produkt in der vereinbarten Zeit und in dem vereinbarten Umfang zu liefern", teilte das Hamburger Verlagshaus Ende 2001 mit. Ihre Auseinandersetzungen um die Ursachen des Scheiterns trugen Vignette und der Axel-Springer-Verlag vor Gericht aus. Nach einer Übergangszeit mit einem eigenentwickelten System engagierte Bild.T-Online schließlich den Hamburger WCM-Anbieter Coremedia, der die Content-Infrastruktur in einem halben Jahr komplett erneuerte.

Bereits Anfang 2001 hatte der Allianz-Konzern ein rund zehn Millionen teures Projekt auf Basis der Software "Vignette 5" gekippt. Und erst kürzlich wurde bekannt, dass Vignette auch beim Online-Portal Hamburg.de gegen Coremedia den Kürzeren gezogen hat. Laut Projektleiter Torralf Köhler sei der Anpassungsaufwand für die Vignette-Software erheblich gewesen, vorerst verwende man aber aus "historischen Gründen" WCM-Systeme beider Anbieter. Selbst beim Vorzeigekunden Volkswagen ist Vignette nicht mehr unumstritten. Die Konzerntochter Seat jedenfalls setzt für den Online-Vertrieb auf die Coremedia-Plattform.

Von den Versäumnissen der Texaner profitieren derzeit vor allem kleine und flexible Anbieter, die von Anfang an auf Standards wie XML oder Java gesetzt haben. Zwar gibt es auch Gegenbeispiele wie die Vignette-Großabnehmer Daimler-Chrysler, ZDF oder den Mitteldeutschen Rundfunk, der sein Online-Portal auf Basis von Vignette "V5" aufbaute (siehe CW 5/03, Seite 32). Doch die Probleme mit komplexen Installationen und langen Projektlaufzeiten sind keine Einzelfälle, ist in der Branche zu hören. Hinzu kommen erhebliche Wartungskosten, die sich anteilig aus den ohnehin hohen Lizenzpreisen errechnen.

"Das waren berechtigte Vorwürfe", konzediert denn auch Michael Wolf, seit Juli 2002 Vignette-Vertriebschef für Zentraleuropa in der deutschen Niederlassung. Allerdings habe sich mit der neuen Version "V7" vieles geändert. Sie sei modularer aufgebaut, offener und zu einem deutlich niedrigeren Einstandspreis zu haben.

Migrationsprobleme

Wolf räumt aber auch Migrationsprobleme mit früheren Versionen ein. Der Umstieg von V5 auf V6 sei oft "eine richtige Leidensgeschichte" gewesen. Doch Vignette habe seine Lektion gelernt. Mit neuen "Out-of-the-Box-Systemen" lasse sich ein System innerhalb von 30 Tagen einrichten, verspricht der Manager. Im November letzten Jahres hat Vignette im Rahmen seines V7-Portfolios drei vorkonfigurierte Applikations-Suites vorgestellt, die eine rasche Einführung ermöglichen sollen.

Ohnehin seien große oder gar unternehmensweite WCM-Projekte heute selten, erklärt Wolf. "Die Kunden kaufen nicht mehr die ganze Speisekarte für die nächsten fünf Jahre." Insgesamt würden die Vorhaben kleiner, wiesen aufgrund des gewachsenen Know-hows aber zugleich einen höheren Reifegrad auf.

Ob sich das Blatt für Vignette wendet, hängt nicht zuletzt vom Erfolg in anderen Marktsegmenten ab. Ende letzten Jahres übernahmen die Texaner den Portalsoftware-Anbieter Epicentric. Dahinter steht die Hoffnung, mit Hilfe integrierter Softwarepakete Firmenkunden umfassender zu bedienen. Allerdings stieß Vignette damit seine Partner Bea, Sun und IBM vor den Kopf, die ihre eigenen Portal-Server mit WCM-Software von Drittanbietern bündeln. Hinzu kommt, dass gerade die großen Portalanbieter, darunter auch SAP, ihre Systeme um WCM-Funktionen erweitern.

Vertriebs-Manager Wolf gibt sich dennoch optimistisch. Vignette habe auch in Deutschland die Kosten gedrückt und etwa ein Büro in Hamburg geschlossen. Hierzulande beschäftige das Unternehmen derzeit noch "zwei Dutzend" Mitarbeiter, vor zwölf Monaten waren es rund 50. Bereits in der zweiten Jahreshälfte werde man wieder Personal einstellen.

Abb: Geschäftsentwicklung im Jahresvergleich

Im Bilanzjahr 2002 hat sich Vignettes Umsatz halbiert. Quelle: Vignette