Viel Licht und ein bisschen Schatten

28.05.2008
Von Hadi Stiel
Itil V3 ist eine Herausforderung, die sich nicht im Hauruck-Verfahren meistern lässt. Sie wird die meisten Unternehmen noch jahrelang beschäftigen.

Optimierte Geschäftsprozesse sind ohne eine passende IT-Organisation und Servicebereitstellung undenkbar. Die IT Infrastructure Library (Itil) soll IT-Planern und -Entwicklern helfen, beides auf Vordermann zu bringen. Besonders von der neuen Itil-Version 3 versprechen sich die Unternehmen viel.

Schon die Vorgängerversion 2 galt vielen Dienstleistern, Beratern, Integratoren, Herstellern und Providern als unverzichtbare Planungs- und Aufbauhilfe. Das Vorgehensmodell setzt sich aus Best Practices, also Anleitungen und Arbeitsanweisungen für die Planung und Konzeption eines durch Service-Management gestützten IT-Service-Auftritts, zusammen. Ziel war es, die wachsende IT-Komplexität unterhalb der Geschäftsprozesse in den Griff zu bekommen. "Diese Herangehensweise hat bisher zu Teilerfolgen geführt", berichtet Matthias Waterkamp, Abteilungsleiter beim Dortmunder IT-Dienstleister Materna.

Im Mittelpunkt der Version 2 (V2) standen die Betriebsprozesse innerhalb der IT-Abteilung. "Um diese Prozesse zu planen und zu formieren, hat das Gros der Unternehmen eine pragmatische Vorgehensweise gewählt und sich einzelne Bücher wie Service Support und Service Delivery herausgepickt", berichtet Waterkamp. Diese beiden Bände enthalten beispielsweise Best Practices für das Incident-, Problem- und Change-Management und den Service Desk.

Eine Gesamtsicht auf die Prozesse und ihr Zusammenspiel, also auf den kompletten Lebenszyklus der IT-Services, ist, so der Materna-Manager, aber erst mit der Itil-Version 3 (V3) möglich. Deshalb hätten die Prozessoptimierungsmaßnahmen innerhalb der IT bisher auch selten zu den erwarteten Ergebnissen geführt, sprich: zu wirtschaftlicheren Services in höherer Ausführungsqualität.

Bislang nur Störfall- und Problem-Management

Die "IT-Service-Management Executive-Studie 2007" von Materna belegt Waterkamps Einschätzung. Demnach können 71 Prozent der Befragten auf ein komplett implementiertes Störfall- und Problem-Management und 70 Prozent auf einen vollständig realisierten Service-Desk zurückgreifen. Auch das Change-Management ist in mehr als jedem zweiten Unternehmen eingeführt. Doch hinsichtlich der anderen Management-Disziplinen gibt es offenbar noch Realisierungslücken.

Genau diese Lücken kann Itil V3 schließen, so die Überzeugung von Uwe Flagmeyer, Manager Pre-Sales bei HP Software Deutschland: "Die neue Version lenkt den Blick nicht mehr, wie in V2, auf die Verbesserung der internen IT-Prozesse, sondern auf den kompletten Service-Lifecycle; dadurch können die Unternehmen das Service-Management ganzheitlich anpacken." Dank dieser Neuorientierung lasse sich mit Itil V3 auch die Zusammenarbeit zwischen der IT und den Geschäftsbereichen verbessern. Die Umsetzung sei dabei weniger ein technisches Problem als eine Herausforderung an die internen Prozesse des Unternehmens.

Wenn die Services und ihr Management strukturiert nach Itil V3 geplant, konzipiert und erbracht werden, stabilisieren sich die Geschäftsprozesse spürbar, beteuert Andreas Ziegenhain, Deutschland-Chef bei Siemens IT Solutions and Services (SIS). Er appelliert an die Entscheider, eine ganzheitliche Service-Management-Strategie über den gesamten Service-Lifecycle hinweg zu verfolgen.

Die Bedeutung der Lifecycle-Betrachtung untermauert auch eine Studie von International Data Corp. (IDC). Dadurch könnten die Ausfallzeiten von Systemen und Netzen um 50 Prozent reduziert, die Produktivität innerhalb der IT-Organisation und über die Geschäftsprozesse hingegen um mehr als 30 Prozent gesteigert werden. Auch Gartner verweist auf die Vorteile des neuen Itil-Konzepts. Das Beratungsunternehmen schreibt der strukturierten und am Service-Lebenszyklus orientierten Herangehensweise eine geringere Zahl von IT-Fehlinvestitionen und Projektrisiken zu.

Planung und Realisierung in wohldurchdachten Schritten

Ziegenhain warnt allerdings davor, den Bogen zu überspannen und mit der neuen Itil-Version alles auf einmal bewerkstelligen zu wollen. "Das große, ehrgeizige Servicebild erreichen die Unternehmen in der Regel nur in mehreren Etappen." Zunächst einmal ständen die Prozessverantwortlichen vor der Herausforderung, die Neuerungen in V3 zu verstehen, deren Nutzen für das Unternehmen zu bewerten und die Veränderungen schrittweise einzuführen.

Für die notwendigen Investitionen müsse zudem ein nicht unerhebliches Budget bereitgestellt werden, erinnert der SIS-Geschäftsfüher. Mit der Betrachtung kompletter Lebenszyklen und der Umsetzung aller dafür notwendigen Service-Management-Disziplinen wüchsen selbstverständlich die Kosten. In Betracht zu ziehen seien auch die organisatorischen, personellen und technologischen Rahmenbedingungen für die Umsetzung eines Gesamtvorhabens nach Itil V3: "Das spricht ebenfalls für eine Planung und Realisierung in wohldurchdachten Schritten." Anderenfalls entstünden kostentreibende und produktivitätszehrende Reibungsverluste.

Die Softwareanbieter kleben noch an der alten Version

Marcus Behrendt, Practice Chairman Germany beim Beratungs- und IT-Dienstleistungsunternehmen Logica, stößt ins gleiche Horn. Auch er warnt die Entscheider davor, dem V3-Modell zu schnell zu viel aufzubürden. "Die neue Version beschreibt ein ehrgeiziges Ideal", konstatiert er. Wer es erfolgreich umsetzen wolle, müsse sich vor einigen Hindernissen in Acht nehmen. Beispielsweise hätten bislang nur wenige Anbieter von Service-Management-Lösungen den Lifecycle-Gedanken produkttechnisch nachvollzogen. Viele von ihnen klebten - technisch gesehen - noch an der alten Itil-Version.

"Selbst wenn die neuen Itil-Strukturen und -Empfehlungen technisch schon umgesetzt worden sind, sollte das Unternehmen nicht zu früh zu den Service-Management-Tools greifen", rät Behrendt den Anwendern. Auf jeden Fall müsse zuerst das Business-Modell stehen, um davon das Geschäftsprozess-Soll ableiten zu können. In Anlehnung daran könne das Unternehmen dann das richtige Maß an Services bestimmen und konzipieren sowie die IT-Organisation passend aufstellen.

Erst wenn das komplette Anforderungsprofil steht, sollten die Hersteller von Service-Management-Systemen über eine detaillierte Ausschreibung mit ins Boot geholt werden, empfiehlt Behrendt. Auf diese Weise bringe das Unternehmen die Hersteller dazu, sich mit den technischen Lösungsvorschlägen an ihrem Anforderungsprofil zu orientieren. Im umgekehrten Fall laufe der Anwender Gefahr, seine Serviceauf- und Bereitstellung durch die jeweilige Machart der Service-Management-Produkte einzuschränken und sich zu stark an den jeweiligen Hersteller zu binden: "Auf diese Weise würde das Unternehmen kaum die gesteckten Ziele erreichen."

Darüber hinaus berge die Bindung an ein bestimmtes Produkt die Gefahr hoher Folgekosten, so Behrendt weiter: "Es gibt mit Itil einen De-facto-Standard für die Planung und Konzeption, aber es gibt keine De-facto-Standard für Itil-Produkte." In welcher Version auch immer: Itil trifft keinerlei Aussagen zur technischen Umsetzung.

In vier von fünf Unternehmen fehlen die Voraussetzungen

Vor allem sollten die Anwenderunternehmen die organisatorischen Voraussetzungen nicht aus den Augen verlieren, mahnt Robert Heinrich, Partner und Chefberater Services bei Ernst & Young. Unter Umständen können sie sich sonst alle Itil-V3-Überlegungen sparen: "Solange die Verantwortungsbereiche für Netzwerk, Applikationen und Telekommunikationsschnittstellen innerhalb der IT noch geteilt sind, lohnen solche Überlegungen kaum." Genau das sei allerdings heute in 80 Prozent der Unternehmen der Fall. "Die Betrachtung kompletter Service-Lebenszyklen ruft förmlich nach einer umfassenden IT-Organisation, die mit ihren Gesamtleistungen die Geschäftsprozesse von Ende zu Ende wirkungsvoll stützt", erläutert Heinrich.

Eine solche umfassende Serviceaufstellung sei außerdem notwendig, um ständig am Ball zu bleiben, gibt der Ernst & Young-Partner zu bedenken: "Ausgehend von den Geschäftsprozessen müssen permanent Veränderungstendenzen ermittelt und auf die komplette IT abgebildet, Anpassungen vorgenommen sowie Nutzen und Aufwand einzelner Services einander gegenübergestellt werden."

Auch die kostenstellenbezogene Serviceabrechnung funktioniere nur dann zufriedenstellend, wenn die IT-Abteilung als Einheit auftrete und sich für die bereitgestellten Services in der Gesamtverantwortung sehe, ergänzt der Chefberater. Darüber hinaus dürften die Unternehmen nicht vergessen, dass mit einem Itil-V3-konformen Serviceauftritt und der Geschäftsprozessoptimierung auch die IT-Komplexität und die Abhängigkeit von der Informationstechnik wachse. "Beides in Gang zu bringen und permanent am Laufen zu halten, das ist in Zeiten des IT-Fachkräftemangels alles andere als einfach. So gesehen, ist Itil V3 ein hohes Ziel, das das Gros der Unternehmen noch Jahre beschäftigen wird."

Services als Schlüsselrolle zwischen IT und Business

Dennoch ist es für die Unternehmen unausweichlich, ihre Geschäftsprozesse zu optimieren und Auf- beziehungsweise Bereitstellung ihrer Services diesen Prozessen anzupassen. "Der Wettbewerbs- und Kostendruck und die zunehmende Online-Fähigkeit geschäftlicher Ablaufketten zwingt sie dazu", konstatiert James Bushery, Marketing- und Sales-Manager bei Blue Elephant Systems, Stuttgart. "Die IT-Services wachsen damit buchstäblich in eine Schlüsselrolle zwischen IT und Business hinein."

Diese Schlüsselrolle könnten die IT-Services aber nur dann ausfüllen, wenn ihr kompletter Lifecycle von Anfang an bedacht werde. "Die Servicestrategie steht nicht nur am Anfang des Service-Managements. Sie muss über den Lebenszyklus und das komplette Serviceportfolio gemanagt werden", erläutert Bushery. Eine solche Strategie sei auch aus dem Blickwinkel von Rentabilität und IT-Governance wichtig.

Ob das gesamte Vorhaben vom Erfolg gekrönt ist, hängt nach Ansicht des Blue-Elephant-Managers auch von der Unternehmensleitung ab. Sie müsse eine Kultur der ganzheitlichen Sichtweise schaffen: "Ohne die permanente Direktion und Kontrolle von ganz oben, auch gegen interne Widerstände, werden selbst Itil V3 und die besten Service-Management-Tools nicht zum Ziel führen." (qua)

Hier lesen Sie ...

warum der Umstieg auf Itil V3 auf jeden Fall sinnvoll ist; weshalb die Anwender trotzdem nichts überstürzen sollten; was sie vorher erledigen müssen.