IT im Gesundheitswesen/Praxiscomputer übernehmen zusätzliche Aufgaben

Versichertenkarte als Vorbote des strukturellen Wandels

21.06.1996

Die Kernaufgabe der Praxis-PCs, nämlich die Abrechnung gemäß Bundesmantelvertrag, unterliegt der Prüfung durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Damit sind in diesem Teilbereich Standards gewährleistet. Nach einem ersten Blick auf die verwirrende Vielfalt der überall als Praxiscomputersystem angebotenen Programme wird deutlich, daß im wesentlichen doch jeweils die gleichen Basismodule enthalten sind.

Praxiscomputer unterscheiden sich also nur noch in Zusatzfunktionen. So kann jeder niedergelassene Arzt auch für seine spezifische Praxis- und Patientenstruktur ausreichend Unterstützung finden.

Bisher war als einziger Informationskanal der Weg zwischen Kassenärztlicher Vereinigung und Praxis - im Sinne der Abrechnungsdatenträger - präzise definiert: Man verschickte eine Abrechnungsdiskette. Jetzt ist mit der Versichertenkarte ein neuer Kommunikationsweg hinzugekommen. In Laborgemeinschaften hatten Modems schon länger ihren festen Platz.

Inzwischen zeichnet sich ab, daß jede Praxis über mehrere Informationsein- und ausgabemöglichkeiten verfügen muß. Daher hier der Versuch einer Standortbestimmung: Wo steht die Praxis-DV heute?

Diese Frage muß aus zwei Sichten beantwortet werden:

- Was wollen niedergelassene Ärzte?

Von der Praxis werden individuelle Problemlösungen gesucht, die eigene Strukturen abbilden.

- Was will die Kassenärztliche Vereinigung?

Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns will einen handhabbaren Informationstransfer im Gesundheitswesen etablieren und gewährleisten.

Diese Ziele scheinen einander auszuschließen, doch ist die Möglichkeit einer einheitlichen Strategie erkennbar. Dort, wo Datentransfer, -sicherheit, -integrität und die Systembedienung tangiert werden, sind Standards zu implementieren, doch sollten gleichzeitig Individualität und Vielfalt zur optimalen Aufgabenbewältigung erhalten bleiben.

Geht man von der allgemeinen Struktur einer Praxis aus, so gibt es für die Wartezimmer- und Terminverwaltung und die Informationsstruktur, die dahintersteht, einen Erfassungsblock mit Zeitreihen entsprechend den Terminen, ferner Personendaten sowie Ankreuz- und Auswahlfelder, also eine strukturierte Informationserfassung.

Der nächste Schritt führt zur Patientenkartei. Hier sind die ursprünglich klar strukturierten Informationen wie Vorname, Nachname etc. inzwischen einer Darstellung als Langtextinformationen mit einem wesentlich niedrigeren Strukturierungsgrad gewichen. Dauerinformation, Quartalsinformation und Tagesinformation lesen sich fast wie Fließtext. Trotzdem müssen einzelne Bereiche wie zum Beispiel "An- gina tonsillaris" aus der Anamnese in ihrem Informationsbezug strukturierbar erhalten bleiben. Das bedeutet eine Darstellung als Zwitter zwischen feldorientierter Information und Klartextinformation.

Aus dieser weniger gegliederten Information müssen sich strukturierte Informationen wiedergewinnen, etwa für den Ausdruck eines Rezepts.

Ähnliches gilt für Patienten-Stammdaten. Sie liegen fast immer feldorientiert vor. Heute kommen sie von der Versichertenkarte und werden als standardisierte feldbezogene Informationsgehalte abgespeichert. Trotzdem können alle diese Informationen zu einem Arztbrief in Klartextform zusammengeführt werden.

Warum sind diese Überlegungen wichtig? Wegen der Art und Weise, in der diese Daten und Informationen in die Systeme eingegeben werden. Beispielsweise kann der Input von der Versichertenkarte bei Hausbesuchen problematisch sein, auch wenn es inzwischen tragbare Lesegeräte gibt. Angenommen, der Arzt hat ein solches Gerät, liest mehrere Karten ein und spielt die Daten dann am Folgetag oder sogar erst nach einigen Tagen in den Praxisrechner ein, so stellt sich die Frage: Wann gilt die Karte als eingelesen? Hier beispielsweise gibt es noch Regelungsbedarf. Wichtig ist, daß von Anfang an von der Informationsakquise bis zur Weiterverarbeitung die Austauschwege durchgängig und standardisiert sind.

Der Datentransfer zwischen ärztlicher Praxis und Kassenärztlicher Vereinigung wird über Abrechnungsdatenträger (ADT) abgewickelt. Schnittstelle und Verfahren sind fest etabliert. Jeder Anbieter von Praxiscomputersystemen kennt sie. Das gleiche gilt für die Labordatenübertragung. Auch hier ist eine LDT-Schnittstelle definiert.

Sehr bald schon wird ein Punkt erreicht sein, wo Datentransfer

- zu und von Krankenhäusern,

- aus Mailboxen,

- von medizinischen Chipkarten,

- zwischen Praxen und

- über viele andere Informationswege in die ärztliche Praxis Einzug halten werden. Es entsteht also ein Geflecht unterschiedlicher Kommunikationswege, die jeweils einzeln funktionieren, aber auch gleichzeitig in der Praxis als Informationsverbund funktionieren müssen.

Was bedeuten diese Überlegungen für Praxiscomputersysteme? Jeder Anbieter sollte versuchen, den Datenaustausch aller dieser Stellen einheitlich zu gestalten. Proprietäre Systeme würden die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Stellen unmöglich machen. Hier ist die Kassenärztliche Vereinigung gefordert, praktikable und wirkungsvolle Standards zu schaffen, die auch folgende Sicherheitsaspekte berücksichtigen müssen:

- Vertraulichkeit: "Mithören" muß unmöglich sein. Hier müssen entsprechende Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden. Dies gilt natürlich insbesondere für die klassischen Übertragungswege, beispielsweise die Datenübertragung mittels Modem.

- Integrität: Jeder Empfänger muß sich darauf verlassen können, daß übermittelte Daten so ankommen, wie sie abgeschickt worden sind, also vollständig und unmanipuliert.

- Authentizität: Der Empfänger muß sich ferner darauf verlassen können, daß die Daten, die er erhält, auch wirklich zu demjenigen gehören, von dem er sie erwartet. Für die therapeutische Konsequenz ist ausschlaggebend, daß man von einem Labor unter Standardisierungsbedingungen erhobene Werte bekommt.

- Unwiderrufbarkeit: Die Mitteilungen des Absenders müssen nachprüfbar und bindend sein. Hier werden elektronisch Aufträge vergeben. Es darf nicht dazu kommen, daß diese abgestritten werden können.

Diese vier Sicherheitselemente kann man also im weitesten Sinne unter dem Begriff Datenschutz und Datensicherung subsumieren. Ein Beispiel soll erläutern, warum diese speziellen Komponenten so wesentlich sind, aber dennoch leider immer noch unterbewertet werden:

Jemand sucht in einer Arztpraxis nach Patienten, die HIV-infiziert sind und bei einem Rüstungsbetrieb arbeiten, um sie danach zu erpressen.

Bisher, in der Praxiskartei, waren derartige Daten nicht nur durch räumliche Gegebenheiten geschützt, sondern auch durch ihre Struktur. Ein Einbrecher würde sich sehr schwertun, in der Kartei genau diesen Personenkreis herauszufinden.

Bei einer Praxis-DV ist das anders. In dem Moment, wo jemand eine Kopie der Praxisfestplatte zieht und die Patientendaten mitnimmt, kann er eine solche Analyse in aller Seelenruhe durchführen. Die Daten sind meist strukturiert, und der Angreifer hat sehr schnell festgestellt, in welchen Feldern die Arbeitgeberbezeichnung steht und wo die Diagnosemerkmale zu finden sind. Er wird auf Knopfdruck ein Profil erstellen und die Namen der gesuchten Patienten herausfiltern.

Mit der Einführung der elektronischen Medien haben die Datenschutzaspekte also auch in der Arztpraxis eine ganz neue Wertigkeit bekommen.

Was gibt es im Bereich der Praxiscomputer inzwischen an speziellen Branchenstandards und Schnittstellen? Zum ersten gibt es bereits den ADT (siehe oben) in der Fassung 10/93, der jetzt auch die Daten der Versichertenkarten abbildet, und den Datentransfer zwischen Arztpraxis und Kassenärztlicher Vereinigung beschreibt.

Es existiert ferner für den Datentransfer zwischen Alt- und Neusystemen der sogenannte Behandlungsdatenträger (BDT). Für die Labordatenübertragung hat man den bereits erwähnten LDT, der zur Zeit überarbeitet und erweitert wird. Ferner dient eine Patienten- Stammdaten-Schnittstelle (PATS) der Erfassung personenbezogener Daten aus der Versichertenkarte. Es gibt darüber hinaus eine Kostenträger-Stammdatei (KTSD), die standardisierte Kassendaten übermittelt. Es wird daran gearbeitet, die Gebührenordnung einschließlich eines Regelwerks bundesweit standardisiert an alle Systemanbieter und damit auch an niedergelassene Ärzte zu übermitteln. Schließlich hat die KV Bayerns letztes Jahr die Arbeiten für ein Arztverzeichnis auf Datenträger beendet.

Diese Standards müssen natürlich bundesweit gelten.

Angeklickt

Was den Krankenhäusern recht ist, ist Arztpraxen und Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) nur billig, wenn auch nicht unbedingt trivialer. Die Vielzahl der Anbieter, der am Diagnose- und Therapieprozeß beteiligten Menschen und Institutionen mit ihren jeweils unterschiedlichen Interessenslagen macht die Kommunikation komplex. Wie überall ist die Standardisierung schwierig, sowohl auf der technischen als auch auf der menschlichen und politischen Ebene. Hier ein knapper Überblick zur organisatorischen Verbindung zwischen den diagnostizierenden, therapierenden, analysierenden, rechnungstellenden und verrechnenden Instanzen.

*Christoph Goetz ist Projektleiter EDV in der Arztpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns in München.