Vernetztes Denken für eine gerechte Gesellschaftsordnung

22.11.1985

Dr. Alfred Büllesbach Landesbeauftragter für den Datenschutz Freie Hansestadt Bremen

Der Bundespostminister Dr. Christian Schwarz-Schilling stellte kürzlich die These auf, daß die Kommunikationsgesellschaft eine gerechtere Gesellschaft schaffen würde: "... das wichtigste Kennzeichen der Kommunikationsgesellschaft ist, daß sie über einen hohen Grad der Dezentralisierung und Individualisierung zu einer höheren Chancengerechtigkeit führt . . . "

Wenn wir die Diskussion um Chancengerechtigkeit gerade im Bildungsbereich aufnehmen, so zeigt die gegenwärtige Entwicklung, daß der Zugang zum Bildungssystem dort allerdings nicht mehr ohne weiteres eine Lebensperspektive eröffnet. Vielmehr findet mit der Einführung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eine Umstrukturierung statt, die neue Arbeits- und Sozialformen fordert und den herkömmlichen Qualifikationsbegriff in Frage stellt. So betrachtet, stellt die Entwicklung und Förderung der Informations- und Kommunikationstechnik eine lineare Fortentwicklung formal-rationaler Denkstrukturen dar.

Sowohl in der öffentlichen Verwaltung als auch in der privaten Wirtschaft hat sich aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen herauskristallisiert, daß Information Ware ist. Information wird Regelungsgegenstand durch den Gesetzgeber, sie ist Erscheinungsbild im täglichen Warenangebot. So gewinnt Information einen eigenen Stellenwert als Produktionsfaktor neben Arbeit, Kapital und Rohstoffen. Die vielfältigen Informationen für Planung, Statistik, Entscheidungen, für Alltagsbearbeitungsvorgänge haben eine Informationswelt entstehen lassen, die der automatisierten Informationsaufbereitung bedarf. Information ist deshalb nicht nur wichtige Handelsware geworden, sondern hat neue Erfassungs-, Verarbeitungs-, Absetzungs- und Verteilungssysteme geschaffen.

Die neuen Informations- und Kommunikationstechniken werden sowohl von der Wirtschaft als auch von den Regierungen fast aller westlichen Industrieländer als Basistechnologie für die Überwindung der Wirtschaftskrise und für einen neuen positiven gesellschaftlichen Strukturwandel angesehen.

Bei der Förderung stehen insbesondere Basistechniken wie Mikroelektronik, Sprech- und Bilderkennung, Produkte wie multifunktionale Terminals und Nachrichtenübertragungsnetze wie Digitalisierung, Glasfasertechnik, Breitbandvermittlung oder Satellitenübertragung im Vordergrund.

Charakteristisch für die Entwicklung sind vier zentrale Gesichtspunkte: Die Nutzung vorhandener Fernsprechnetze und deren systematischer Aufbau zu Universalnetzen mit einer Vielzahl neuer Nutzungsmöglichkeiten; die entsprechende Angebotsvielfalt und Einsatzvariation der verschiedenen Informations- und Kommunikations- (I.u.K.-)Produkte, etwa Mikrocomputer, Personal Computer, multifunktionale Terminals etc.; der umfangreiche Einsatz der Mikroelektronik in der gesamten Produktion und in allen Bereichen des menschlichen Alltagslebens sowie die Zunahme vielfältiger Software-Pakete zur Überwindung des sogenannten Software-Engpasses.

Die Entwicklung der I.u.K.Techniken ist schließlich gekennzeichnet durch Integration und Kombination bisher getrennter Techniken.

Die sind Hauptlinien einer Entwicklung, die zu neuen gesellschaftlichen Interaktionsformen, zu neuen Wirtschaftsstrukturen führt und die für die Organisation von Arbeit andere Beziehungsformen schafft, die auch private und familiäre Beziehungen neu prägen.

Wichtige Wirkungsprobleme dieser Entwicklungen liegen deshalb in der Digitalisierung des Denkens, der Veränderung der Sprache, der Software-Steuerung des Menschen und der Veränderung des Wertes und der Bedeutung menschlicher Arbeit; weiter zählen dazu die formale Vernetzung menschlicher Beziehungen, volkswirtschaftliche Marktveränderungen, die Gefahr der Desintegration großer Gruppen der Gesellschaft einschließlich der Gefährdung der sozialen Sicherungssysteme; schließlich ein Entstehen von Informationsungleichgewichten durch die Aufrechterhaltung von Informationsbarrieren entweder durch Verfügungsmacht oder durch zu hohe Zugangspreise.

Entwicklung und Wirkungsprobleme indizieren keineswegs ohne weiteres den Einstieg in die gerechtere Kommunikationsgesellschaft, wie Schwarz-Schilling annimmt, sondern schaffen zunächst eine Reihe weiterer Probleme für die menschliche Gesellschaft. Die Verhinderung solcher Wirkungen setzt voraus, daß die Einführung nicht im Wildwuchs stattfindet, sondern daß deren Folgen bewertet und abgeschätzt und schließlich sozial gestaltet werden.

Der Gesamtprozeß setzt aber Bewertungskriterien und Bewertungshorizonte voraus, die eine solche Entwicklung maßgeblich leiten. Solche Prinzipien sind für unsere Gesellschaft die Werte Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit. Diese Bewertungen gab es schon bisher, dennoch hat die intensive lineare Rationalisierung unserer Gesellschaft Probleme beschert, die wir gegenwärtig nur mit größten Schwierigkeiten lösen können. In einer Phase des historischen Wandels bedarf es deshalb auch einer neuen Perspektive. Für die menschliche Gesellschaft muß sich die Perspektive in dem Wert Gerechtigkeit manifestieren.

Wenn es richtig ist, daß die bisherigen Wirkungen deshalb zustande gekommen sind, daß unser Denken statisch und linear quantitativ statt qualitativ war, dann heißt es für die Fortentwicklung auch: dem Bereich der Gerechtigkeit einen neuen Wertungshorizont mitgeben. Der Begriff "Vernetzung" wird in der bisherigen Diskussion überwiegend als kritischer beziehungsweise beschreibender Begriff bei der Einführung von Informations- und Kommunikationstechniken verwendet.

Vernetzung darf nicht als formalrationale Kategorie der Gefährdung, sondern muß

als neue Methode kybernetischen, qualitativen, kommunikativ-rationalen, kurz "vernetzten" Denkens verstanden werden. Zu empirischen Grundlagen solchen Denkens gehören soziale und politische Fakten, psychologische Phänomene, ökologische Daten ebenso wie der Bezug zu kulturellen Werten. Probleme, die sich aus der Umwertung von Tätigkeiten, aus der Desintegration der Gesellschaft und aus dem Wandel geldlich entschädigter und organisierter Beschäftigungsverhältnisse in andere soziale Formen ergeben, setzen "vernetztes" Denken für eine gerechte Gesellschaftsordnung voraus. Identitätskrisen des Menschen, Zerstörung solidarischer Lebens formen etc. sind aufzuhalten, und neue Formen solidarischen Denkens sind zu schaffen.

Neue Ansätze dieses Denkens könnten sich in der Zusammenlegung bisher taylorisierter Arbeitsabläufe in ganzheitliche Arbeitsvorgänge ergeben. Die Betonung könnte zunehmend darauf liegen, daß Auswege aus der Identitätskrise des Menschen die Rückbesinnung auf die Arbeitszufriedenheit bedeutet und die Anerkennung als erlebte Bestätigung in seiner Arbeit mehr Wert beigemessen wird. Mehr Solidarität heißt aber auch: Konzepte zu entwickeln, die - etwa Arbeitslosen - ein menschenwürdiges Leben möglich machen.

Neben den wirtschaftsstrukturellen Veränderungen verlangt auch eine umfangreiche Veränderung unseres Denkens zu materieller Rationalität die Gestaltung der neuen Technik nach den Werten Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit, und menschenwürdiges Leben für alle, in Gemeinschaft und ohne Verlust der Autonomie zu erhalten und zu fördern.