Supply-Chain-Management (SCM)/Erfolgreicher Projektabschluss - wenn auch mit Hindernissen

VAW Aluminium peilt das Gesamtoptimum an

08.03.2002
Die VAW Aluminium AG, Bonn, ist etwas Besonderes - zumindest der Unternehmensbereich Rolled Products: Er gehört zu den wenigen deutschen Beispielen für den erfolgreichen Abschluss eines umfangreichen Supply-Chain-Management-Projekts. Allerdings wurde auch dort Lehrgeld gezahlt: Die Implementierung dauerte ein Jahr länger als geplant. CW-Bericht, Karin Quack

"Selbstverständlich kann ich Liefertreue mit hohem Bestand erkaufen", führt Hans-Achim Quitmann, Org./DV-Leiter im Business-Segment Rolled Products der VAW Aluminium AG, in das Problem ein, "aber damit binde ich eine Menge Kapital." Die Termine ein- und den Bestand klein halten, so lautete folglich die Devise, unter der sich der Hersteller von Alumium-Walzprodukten Anfang 1998 anschickte, seine interne Lieferkette neu zu organisieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Die kostspieligen Walzstraßen, von denen eine einzige schon mal mit einer halben Milliarde Euro zu Buche schlägt, sollten möglichst gut ausgelastet werden.

Im Wesentlichen wurden diese Ziele erreicht. Erste Schätzungen für das laufende Jahr gehen davon aus, dass sich die Bestände um ein Drittel verringern, die Maschinenauslastung - basierend auf dem Kundenbedarf - im hohen einstelligen Prozentbereich erhöhen und die Planungssicherheit deutlich verbessern wird.

Dieser Erfolg wäre dann das Ergebnis von vier Jahren harter Arbeit an einem integrierten Planungssystem. Es verknüpft die standortübergreifende Absatzplanung mit der operativen Fertigungsplanung an den VAW-Standorten in Grevenbroich und Hamburg sowie in Italien und Spanien. Im Kern basiert das System auf drei Produkten von i2 Technologies: dem "Master Planner", dem "Demand Fulfillment" und dem "Factory Planner".

Der Master Planner führt auf der Produktgruppenebene dreierlei Informationen zusammen: die Kapazitätsdaten, die er von den einzelnen Produktionsstätten erhält, den potenziellen Marktbedarf und die vom Management definierten Geschäftsregeln - beispielsweise, welche Produkte vom Standpunkt der Profitabilität bevorzugt zu behandeln sind. Hieraus bildet er den optimalen beziehungsweise bestmöglichen ("machbaren") Absatzplan, den er an das Demand-Fulfillment-Modul weiterleitet. Zudem werden die Daten für die Planung des Rohmaterialbedarfs verwendet.

Heute ginge die Produktwahl knapper ausInnerhalb der Produktionsstandorte sorgt der Factory Planner für die tagesaktuelle Ablaufplanung und eine möglichst hohe Maschinenauslastung. Wo sich der Master-Planner- und der Factory-Planner-Zyklus überschneiden, stößt noch ein dritter Planungskreislauf dazu: Er speist sich aus den betriebswirtschaftlichen Standardanwendungen - hier führt VAW gerade SAP R/3 ein - und versorgt seinerseits den Factory Planner und das Demand Fulfillment mit konkreten Kundenaufträgen.

Das Demand Fulfillment gleicht die Auftragsdaten mit den Informationen aus dem Master Planner ab, so dass VAW verbindliche, zumindest auf eine Woche genaue Lieferzusagen geben kann. Im Fachjargon heißt das Ziel "Available to Promise" oder kurz: ATP. Außerdem meldet das Softwaremodul seine Ergebnisse demnächst in die Auftragsverwaltung unter R/3 zurück, die als allein verbindlich gilt.

Das Projekt wurde selbstverständlich nicht von der Informationstechnik, sondern von den Planungsfachleuten des Business-Segments Rolled Products initiiert und vorangetrieben. Aber spätestens bei der Produktauswahl waren Quitmann und seine Mitarbeiter gefragt.

Seit mindestens zwei Jahren drängt die SAP AG mit eigenen Planungswerkzeugen auf den Markt. Doch als VAW Aluminium die Entscheidung für die technische Basis seiner Supply-Chain-Planung traf, hatte das größte deutsche Softwareunternehmen außerhalb der ERP-Welt erst Ansätze zu bieten. Und als VAW die drei deutschen Walzwerke des US-amerikanischen Mitbewerbers Reynolds übernahm, erreichten die vernetzten Prozesse des Aluminiumkonzerns einen Grad an Komplexität, der "ein Verbesserungspotenzial" der Logistikprozesse offenbarte, wie Quitmann es ausdrückt. Die i2-Produkte setzten sich damals nicht nur gegen das erst rudimentär verfügbare "Advanced Planning and Optimization" (APO) der SAP, sondern auch gegen die Angebote zweier Mitbewerber durch, die der IT-Experte nicht namentlich nennen möchte. Heute würde die Wahl seiner Ansicht nach "knapper ausgehen". SAP habe mittlerweile technisch aufgeholt und könne den Vorteil der Integration mit dem ERP-System für sich reklamieren.

Doch: Im produktionsnahen Bereich plant VAW derzeit sowieso nicht, auf das SAP-Angebot zurückzugreifen. Wie Quitmann erläutert, soll die Produktionsplanungs-Komponente "PP" lediglich bei der Stammdatenverwaltung Anwendung finden. Der Produktionsfortschritt lasse sich mit Hilfe des SAP-Werkzeugs kaum abbilden, denn die Metallbearbeitung verlaufe anders herum, als es der stücklistenbasierte SAP-Ansatz vorsehe: Dort setzen sich Produkte aus unterschiedlichen Teilen zusammen; hier werde ein einziges Ausgangsprodukt zu unterschiedlichen Formen veredelt.

Keine Standardlösung für FunktionsaufteilungIhr Rechenzentrum sowie den Netzbetrieb und den PC-Support hat die VAW Aluminium AG vor einigen Jahren der IBM anvertraut. Für große Projekte wie die R/3-Einführung kauft sie ebenfalls externes Know-how ein. Deshalb beschäftigt der Konzern selbst nur wenige IT-Spezialisten. Etwa 20 Mitarbeiter unterhalten ein SAP-Kompetenzzentrum. Kleine Supportteams kümmern sich um die Unterstützung der jeweiligen Shop-Floor-Systeme. Für die Implementierung des Factory Planner standen, so Quitmann, drei bis vier eigene Leute zur Verfügung. Sie müssen jetzt noch dafür sorgen, dass sich die i2-Komponenten mit der SAP-Software verständigen können.

Diese Integration stellt nach den Erfahrungen des Org./DV-Managers sehr unterschiedliche Anforderungen an das Team. Zwischen dem ATP-Modul (Demand Fulfillment) und der Auftragsdatenbank gebe es sauber definierte Schnittstellen, weshalb die Verbindung keine wesentlichen Probleme bereite. Den Factory Planner mit R/3 zu verbinden sei ungleich schwieriger, weil es für die Aufteilung der Funktionen keine Standardlösung gebe. Das Konzept für diese Kopplung hat VAW selbst entwickelt.

Eine weitere wichtige Aufgabe im Umfeld der Systemeinführung musste das Unternehmen ebenfalls selbst leisten: die Nutzer ins Boot zu holen, ihre Vorstellungen abzufragen und möglichst auch umzusetzen, auf diese Weise ihre Zustimmung und ihre Mitarbeit zu gewinnen, sie schließlich auf den Einsatz der neuen Werkzeuge vorzubereiten, kurz: alles das, was neudeutsch "Change-Management" heißt. "Wir haben das System in enger Zusammenarbeit mit den Anwendern entwickelt, die es einsetzen", beteuert Quitmann, "und wir sind sehr weitgehend auf ihre Wünsche eingegangen."

Der Kunde als Co-EntwicklerNicht zuletzt deswegen hat das Projekt etwa ein Jahr länger gedauert als ursprünglich vorgesehen. Eigentlich waren dafür knapp drei Jahre eingeplant, es sollte also Ende 2000 abgeschlossen sein. Tatsächlich läuft der Planungsverbund für die VAW-Walzwerke seit Ende vergangenen Jahres produktiv (derzeit aber noch ohne SAP-Anbindung).

Darüber hinaus erwies sich auch die Abbildung der Prozesse als unerwartet aufwändig. Laut Quitmann hat VAW kräftig daran mitgewirkt, die Demand-Fulfillment-Komponente zu dem zu machen, was sie heute ist. So sei es ursprünglich nicht möglich gewesen, die Kundenebene zu strukturieren. "Viele der Ideen, die heute dort verwirklicht sind, stammen von uns", versichert der IT-Manager. An anderen Stellen hätten sich die VAW-Vorstellungen auch nach "langen Diskussionen über die Funktionalität" nicht umsetzen lassen, was Workarounds "mit teilweise unschönen Nebenwirkungen" erforderlich gemacht habe.

Trotzdem will Quitmann keineswegs ausschließen, dass er sich heute wieder für eine Zusammenarbeit mit i2 entschließen würde. Angesichts der SAP und ihrer Marktmacht habe es "einen gewissen Charme", wenn zwei Softwarelieferanten einen "Überlappungsbereich" aufwiesen. Zudem bekennt sich der IT-Manager zur Eigenverantwortung des Kundenunternehmens. "Wir haben den Aufwand unterschätzt." Wie schwierig es sein würde, das Softwaresystem an die eigene Planungsphilosophie anzupassen, habe sich erst im Projektverlauf herausgestellt.

Auch wenn die Lernkurve steil gewesen sein mag - die wesentlichen Ziele sind erreicht. Heute können sich die zehn VAW-Mitarbeiter, die in der zentralen Planung tätig sind, innerhalb des Systems einen Gesamtüberblick über die prognostizierte Nachfrage, die Produktionskapazitäten und die Maschinenauslastung, den Materialbestand beziehungsweise -bedarf und die Lieferfähigkeit verschaffen. Auf diese Weise verhindern sie, dass lokale Optimallösungen zu Lasten des Gesamtoptimums gehen und die Balance zwischen Bestand, Liefertreue sowie Maschinenauslastung gestört wird.

Im Laufe dieses Jahres will VAW im spanischen Walzwerk Inasa die SCM-Software von i2 erstmals zusammen mit SAP R/3 produktiv nutzen. Die anderen Standorte sollen diesem Beispiel bald folgen.

Schwer was los bei LeichtmetallNahe der niederrheinischen Kleinstadt Grevenbroich erstreckt sich das Kaltwalzwerk der VAW Aluminium AG. Ein eigener Autobahnabschnitt mündet vor den Toren des Fabrikkomplexes, an dem 1800 Menschen ihrer Arbeit nachgehen. Er streift den offenen Rachen des Braunkohletagebaus Garzweiler, am weiten Horizont winken müde die Qualmwolken der Verstromungsanlage - eine Landschaft für Industrienostalgiker.

Aber die VAW Aluminium AG ist alles andere als ein Relikt aus dem vorletzten Jahrhundert. Nicht zuletzt der steigende Aluminiumbedarf der Automobilindustrie sorgt für ein florierendes Geschäft. Mit den Geschäftseinheiten Primary Materials, Rolled Products, Flexible Packaging und Automotive Products zeigt der Konzern nicht nur in Grevenbroich, Neuss und Hamburg, sondern in zehn europäischen und in sieben asiatischen Ländern sowie in den USA, in Kanada, Mexiko, Brasilien, Australien und Guinea Präsenz.

Die bislang noch nicht börsennotierte AG beschäftigt weltweit rund 16000 Mitarbeiter und setzte im ersten Halbjahr 2001 fast zwei Milliarden Euro um, was einem Wachstum von mehr als sieben Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Das Segment Rolled Products hatte daran einen Anteil von knapp zwei Fünfteln. Das Ergebnis vor Zinsen und Steuern stieg sogar um etwa 18 Prozent auf 195 Millionen Euro. Für das Gesamtjahr prognostizierte VAW - trotz der weltweiten Konjunkturabschwächung - ein Ergebnis, das "nennenswert" über dem des Jahres 2000 liegt. Damals wurden als Umsatz 3,7 Milliarden Euro und als Nettogewinn 182 Millionen Euro verbucht.

Trotz dieser beeindruckenden Zahlen will die derzeitige Muttergesellschaft Eon die VAW Aluminium AG verkaufen. Als neuer Eigentümer steht der norwegische Konzern Norsk Hydro so gut wie fest.

Abb: Integrierte Planung

Das System vereint drei verschiedene Planungszyklen in sich. Quelle: VAW Aluminium