Zu viele unrealistische Versprechungen von seiten der Anbieter:

User scheuen das Experiment mit verteilten DBs

27.03.1987

CW-Bericht, Felicitas Kulling

Als Schlagwort hat der Begriff "verteilte Datenbanken" bereits eine gewisse Popularität erlangt. Über das Konzept eines solchen Systems und praktische Einsatzmöglichkeiten herrscht bei den Anwendern jedoch noch weitgehend Unklarheit. Hinzu kommt die Befürchtung. einem Marketing-Gag der Anbieter aufzusitzen.

Spätestens seit der 9370-Ankündigung der IBM bahnt sich gerade bei Großunternehmen ein Wandel der DV-Denkweise an: Gefragt sind nach Aussage von Stefan Reuter, Leiter Vertriebsunterstützung bei der Darmstädter Software AG, zunehmend kleinere und untereinander vernetzbare Computer. Ein wichtiger Aspekt hierbei sei die Informationshaltung auf den einzelnen Maschinen und der Zugriff auf Daten, die auf den verschiedenen Abteilungsrechnern benötigt werden.

Anwender können sich noch kein klares Bild machen

Die Gefahr, angesichts dieser Vielzahl von Faktoren und Komponenten den Überblick zu verlieren, scheint groß. Als Mittel, die diversen Rechner im Unternehmen zu einer organisatorischen Einheit zusammenzuschließen, propagiert die Software-Industrie ein neues DB-Konzept: die verteilte Datenbank.

Über Struktur und Einsatzmöglichkeiten eines solchen Systems herrscht jedoch bei den Anwendern vielfach noch Unklarheit. Konfrontiert mit diesem Begriff, versuchen sie, sich ein Bild davon zu machen, welchen praktischen Nutzen eine Distributed Data Base heute bereits bringt. Kommentiert Claus Gehner, Direktor für technische Unterstützung bei Oracle Deutschland: "Verteilte Datenbanken sind derzeit noch ein Schlagwort. Die meisten Leute haben keine klaren Vorstellungen, was sie in ihrem eigenen Unternehmen damit anfangen können."

Die Aufklärungsarbeit von seiten der Anbieter läßt indes, wie sogar manche Vertreter der DV-Industrie zugeben müssen, zu wünschen übrig. Bedingt durch die Wettbewerbssituation im äußerst lukrativen DB-Markt würden die User oft mit Versprechungen geködert, die sich heute noch nicht realisieren lassen. Als Resultat dieser Herstellerpolitik fühlten sich die potentiellen Kunden verunsichert . "Viele von ihnen fürchten" so konzediert Helmut Wilke, Geschäftsführer der Relational Technology GmbH aus Berlin, "einem weiteren leeren Marketing-Gag der DV-Inustrie aufzusitzen."

Bei den Usern, die sich auf Seminaren oder im Selbststudium bereits eingehender mit der Materie beschäftigt haben, nehmen die Bedenken noch weitaus konkretere Formen an. So sahen sich beispielsweise die meisten der auf der Hannover-Messe CeBIT präsenten DB-Anbieter mit Fragen nach der künftigen Gebührenstruktur für ein solches System sowie mit den Faktoren "Aktualität des Update" und "Datensicherheit" konfrontiert.

Viele Einsatzprobleme sind noch nicht gelöst

Selbst Big Blue, bislang noch nicht mit einem marktreifen Produkt in dieser neuen Arena vertreten, kann sich dieser Diskussion nicht entziehen. Axel Güth, Bereich Marketing IDV Software der IBM Deutschland GmbH, Stuttgart, gibt denn auch zu: "Natürlich macht es einen Unterschied, ob das verteilte System lokal im selben Gebäude installiert werden soll oder ob man über Postleitungen geht. Das ist wichtig für die Aspekte der Datensicherheit und der Kostenstrukturen. Ehe nicht ein gewisser Sicherheitsstandard gegeben ist, werden wir auch kein Produkt herausbringen. "

Ähnlich schildert Oracle-Direktor Gehner die Situation: "Die Beantwortung all dieser Fragen steht noch aus. Wir müssen beispielsweise darstellen, wie Datenschutz in einem solchen Netzwerk funktioniert. Es läßt sich aber überhaupt noch nicht absehen, wie ein netzwerkweites Accounting realisierbar wäre; denn das geht eindeutig über die Funktionsfähigkeit der Produkte hinaus, die wir derzeit anbieten." Eine echte Vernetzung mehrerer Hosts über Firmengrenzen hinweg sei zumindest vorläufig noch in die Kategorie "Zukunftsmusik" einzuordnen.

Vorsichtig zeigt sich hier auch die Applied Data Research GmbH (ADR). Dazu Dieter Göbel, Vertriebsleiter Deutschland: "Der Weg über Postleitungen wirft ganz sicher größere Probleme auf. Daran sind schon ganz andere Sachen kaputtgegangen."

Mindestens so gravierend wie diese technisch orientierten Bedenken fallen nach Erfahrung von RTI-Geschäftsführer Wilke auch menschliche Faktoren ins Gewicht. Kein Kunde wolle der erste sein, der sich auf ein solches Experiment einläßt. Die Furcht, falls es bei der praktischen Arbeit mit dem System Schwierigkeiten gibt, bei den Kollegen und bei der Unternehmensleitung einen Image-Verlust zu erleiden, sei einfach zu groß. "Das durchaus vorhandene Interesse an den verteilten Datenbanken", so Wilke weiter, "schlägt sich deshalb nicht ohne weiteres in einer Kaufentscheidung nieder "

Relationales Modell dient als Basis

Eine Diskussionshilfe, darin sind sich die Anbieter einig, könnte ein Regelwerk ähnlich dem von Ted Codd aufgestellten relationalen Modell darstellen. Ansätze zu einem solchen Leitfaden sind bereits vorhanden: IBM beispielsweise hält es für wichtig, daß die Codd'schen Definitionen für RDBMS-Systeme nicht korrumpiert werden. Ziel, so meint Axel Güth, müsse es sein, diese Regeln vor allem unter dem Aspekt der Transparenz und Komplexität noch wesentlich zu erweitern.

Auch Oracle-Direktor Claus Gehner verweist in diesem Zusammenhang auf die Erfahrungen des Marktführers: "Eine Reihe von Forderungen an verteilte Datenbankarchitekturen resultiert aus dem R/Star-Projekt von Big Blue. Darauf basieren unsere Implementierungen." Zwei grundlegende Postulate seien besonders wichtig: einmal die "Losation Transparency", die gewährleisten soll, daß sich die Anwender nicht darum kümmern müssen, auf welcher Maschine bestimmte Informationen geführt werden. Zum anderen ist die "Site Autonomy" relevant, also die Festlegung der Unabhängigkeit eines jeden Knotens im Netzwerk.

Definitionsansätze haben erst geringe Popularität

Ein vergleichbares Konzept stammt aus der Feder von Michael Stonebraker, Professor an der University of Berkeley und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Relational Technology. Seine sechs Regeln, die sich auf die Bereiche Retrieval, Update, Schema, Performance, Transaktion sowie Copy beziehen lassen sich ebenfalls unter dem Oberbegriff "Transparenz" zusammenfassen.

In der Praxis allerdings sind diese beiden Definitionsansätze vorläufig kaum bekannt - für Claus Gehner eine Parallele zu der Situation vor vier Jahren, als es um die RDBMS-Diskussion ging: "Damals mußten wir den Kunden noch sehr ausführlich erklären, was das relationale Modell überhaupt ist. Kaum jemand konnte sich darunter konkret etwas vorstellen. Inzwischen hat sich das geändert; die meisten Leute wissen ziemlich genau, was sie mit einem solchen System machen können."

Überbewertung von Regeln birgt auch Gefahren

ADR-Vertriebsleiter Göbel hingegen stört sich daran, daß die Diskussion wieder einmal an einigen großen Namen der Softwarebranche aufgehängt werden könnte:"Man muß ja nicht unbedingt Meister Codd auf den Plan rufen, damit er einen solchen Leitfaden strickt. So etwas sollte personenunabhängig durchgezogen werden."

Ungeachtet aller positiven Aspekte warnt auch RTI-Chef Helmut Wilke vor der Überbewertung einer solchen Guideline. Seiner Ansicht nach wurde eine solche Haltung sehr leicht dazu führen, daß sich die unrealistischen Vorstellungen der Anwender noch verstärken. Denn kein gegenwärtig verfügbares Produkt könne all die in der Theorie aufgestellten Forderungen erfüllen, genausowenig, wie dies bei den relationalen Systemen gegeben sei.