Neue Wege zum Computereinsatz in der Kunst

US-Multimedia-Regisseur setzt Computer als Theatermacher ein

27.03.1992

*Lothar Dörr ist freier Journalist in München

In San Franzisko sind Computer die Hauptakteure der "Virtual Sho - Invisible Site" des amerikanischen Künstlers George Coates, einem der Multimedia-Pioniere im Bereich des Theaters.

Der junge Mann trägt eine jener elektronischen Brillen, die wie gigantische Tauchmasken aussehen, so daß sein Gesicht kaum zu erkennen ist. Seine rechte Hand steckt in einem mit Sensoren bestückten elektronischen Handschuh, wie er bei "Virtual Reality" - Spielen, in der Computer eine künstliche Welt erzeugen, benutzt wird. Mit diesem elektronischen Handschuh deutet er auf einen riesigen Monitor, der plötzlich aus dem Nichts auftaucht und langsam vor einem dunklen Loch zu schweben beginnt. Der junge Mann steht von seinem Platz auf und geht langsam auf den Monitor zu, bis er ganz in ihm verschwindet. Damit beginnt eine Reise in eine fremde, phantastische, künstliche Welt, in der der Zuschauer zum Zeugen wird, wie sich die Gesetze von Raum und Zeit verändern und sich aufzulösen scheinen.

Der Computer wird Hauptakteur

Invisible Site heißt das Stück des amerikanischen Performance- und Multimedia-Künstlers George Coates. Am 22. Januar 1992 feierte es in San Franzisko seine Premiere. Presse und Publikum waren sich zumindest in einem Punkt einig: Das Stück markiert einen Meilenstein auf dem Weg zu einer völlig neuen Theaterform, die erstmalig den Computer zum Hauptakteur macht. Invisible Site trägt den Untertitel "Virtual Sho" und steht für eine im europäischen Theaterraum noch weitgehend unbekannte Form des Theaters und des Spielens. Das Neue und zugleich Revolutionäre daran ist das Zusammenspiel von Computer und Schauspielern auf der Bühne.

Das Theater von Coates nutzt die mannigfaltigen Möglichkeiten der neuen Generation von Multimedia-Computern, um die Akteure auf der Bühne in eine Phantasiewelt einzubinden, deren Bühnenbild und Dramaturgie der Computer bestimmt. Damit ist es dem amerikanischen Künstler auch gelungen, neue Einsatzbereiche und Anwendungsformen für die Generation der Multimedia-Systeme zu konzipieren .

Das Theater in der McAllister Street in San Franzisko ist in vielerlei Hinsicht kein normales Theater. Die Multimedia-Spielstätte der Gruppe "Performance Works" ist eine umgebaute Kirche, eingezwängt zwischen Banken und Verwaltungsgebäuden. Einzig der futuristische Neonstreifen auf der Außenseite des Gebäudes deutet darauf hin, daß sich hinter dem alten Mauerwerk etwas Besonderes verbirgt.

In schmalen Treppen geht es dann hoch in den ersten Stock, wo die Besucher freundlich empfangen werden und wo sie das wichtigste Requisit des Abends erhalten: eine 3D-Brille.

Denn hier beginnt eine Reise in eine phantastische dreidimensionale Welt, die künstlich und wirklich zugleich ist und deren Hauptakteure keine Schauspieler sind, sondern Maschinen: Multimedia-Maschinen mit speziellen Softwareprogrammen zeichnen nicht nur für das Bühnenbild und die Reise in die dritte Dimension verantwortlich, sie agieren vielmehr wie die Schauspieler auf der Bühne und erschaffen jeden Abend die "Virtual Sho" von Coates.

Damit die riesige grüne Heuschrecke quer über die ganze Bühne laufen oder ein einzelnes Auge mit einem Durchmesser von zwei Metern die Schauspieler bei jeder ihrer Bewegungen beobachten kann, mußte Coates mit seinem Team einen speziellen Vorhang entwerfen. Die Herausforderung bestand darin, daß er einerseits transparent genug sein mußte, damit die Zuschauer hindurch sehen konnten, aber andererseits so stabil und hell, daß er die auf ihn projizierten Bilder reflektieren konnte. Eine solche spezielle Leinwand gab es nicht zu kaufen, und so machte sich Coates daran, seine eigene Idee umzusetzen. Das Ergebnis ist ein 12 x 18 Meter großer, synthetischer, lichtdurchlässiger Silbervorhang, den die Zuschauer kaum wahrnehmen.

Auf diese Leinwand werden mit speziellen Projektoren Computerbilder projiziert. Durch die polarisierten 3D-Brillen, die die Zuschauer während der Vorstellung tragen, entsteht der Eindruck, daß die Schauspieler sich innerhalb der Computerbilder bewegen und agieren. Der gesamte Bühnenraum erscheint dreidimensional und verstärkt den Eindruck, daß die Schauspieler wirklich in einer künstlich erzeugten virtuellen Wirklichkeit spielen.

Im Gegensatz zum Bühnenbild des traditionellen Theaters oder zu Dia-Projektionen stehen die Computerbilder der Virtual Sho in einem interaktiven Dialog mit den Akteuren. Ändert der Schauspieler seine Aktionen auf der Bühne, so verändert der Computer die imaginäre Bilder-Landschaft im Echtzeit-Modus. Genau dies sei das revolutionäre Moment des Multimedia-Theaters, betont Coates: "Die sogenannten Special Effects unserer Bühnendramaturgie sind nicht auf einem Videoband oder einem Film gespeichert und werden parallel abgespielt, sondern Ingenieure im Computer-Regiezentrum spielen sie über den Computer live ein und passen sie dem Bühnengeschehen an. Diese Mischung aus Computergrafik, Animationsequenzen und 3D-Bildmotiven in Verbindung mit dem Spiel der Schauspieler hat es in einem Theaterstück vorher noch nicht gegeben."

Die Reise in die künstliche Welt

Invisible Site ist ein Virtualreality Spiel und wurde erstmals in Auszügen im Juli 1991 auf der amerikanischen Computer- und Grafik-Fachmesse Siggraph '91 aufgeführt. Die Idee, eine virtuelle Theater-Show zu realisieren, hatte Coates schon vor einigen Jahren. Aber erst als Hard- und Softwarefirmen wie Silicon Graphics, Kinetic Effects, Digital Computer, Intel und Apple seine Multimedia-Visionen unterstützten und ihm die notwendigen Produkte und den Support zur Verfügung stellten, konnte Coates mit seinen Mitarbeitern seine Idee von einem "Live-Multimedia Theater" umsetzen.

Herzstück für die Bühnenbild-Effekte von Invisible Site ist eine

150 000 Dollar teure Hochleistungs-Workstation VGX von Silicon Graphics. Ein System dieses Typs wurde übrigens auch für die Spezialeffekte im Arnold-Schwarzenegger-Film "Terminator 2" verwendet.

Da es schwer war, geeignete Software zu finden, die in der Lage war, die Phantasiewelten von Invisible Site umzusetzen, schrieben die Programmierer der Unternehmen, die Coates unterstützen, ihre Programme teilweise um. In nur fünf Wochen Probezeit konnte das Stück aufgrund der Zusammenarbeit von Programmierern, Technikern, Schauspielern und Musikern umgesetzt werden.

Computer liefert das Bühnenbild

Neben dem Silicon-Graphics-System setzt Coates zusätzlich einen Macintosh Ilfx ein sowie Softwareprodukte von Kinetic Effects und Macromind Paracomp. Programmierer, Wissenschaftler und Künstler halfen bei der Entwicklung der notwendigen Applikationen für die virtuelle Show Invisible Site.

"Wir wollten die Kraft des Mediums Films mit den besten Elementen von Live-Performance-verbinden", erklärt Coates die Zielsetzung seiner virtuellen Show. "Die Schauspieler agieren auf der Bühne, aber wir haben die Kamera, mit der wir ihren Bewegungen folgen können. Für den Zuschauer sieht dies so aus, als würde beispielsweise der Schauspieler einen langen Korridor hinunterlaufen. In Wirklichkeit bewegt er sich auf der Stelle, während die Bilder gleichsam nach hinten fliegen. Der Computer liefert uns das Bühnenbild, und spezielle 3D-Projektoren werfen das computergesteuerte Bild auf die Leinwand. Der Zuschauer, der während der Aufführung eine 3D-Brille trägt, sieht aber weder den Computer noch die Projektoren oder die Leinwand er glaubt, daß der Schauspieler den Korridor wirklich entlangläuft."

Invisible Site spielt auf ironische Weise mit dem Begriff der Virtual Reality, der in der Computerszene zur Zeit die Runde macht. In der künstlichen Wirklichkeit setzen die Spieler einen speziellen Helm auf, und die Computer simulieren eine Wirklichkeit, die nur der Spieler sehen kann. Als weiteres Werkzeug dient ein Electronic Glove, ein Handschuh der über Sensoren mit der künstlichen Welt verbunden ist. Dinge, die es in Wirklichkeit nicht gibt, sondern nur vor dem Auge des Spielers projiziert werden, können so gegriffen oder weggenommen werden.

Invisible Site ist eine Satire auf die Leute, die in ihrer künstlichen elektronischen Welt aufgehen und sich dort verlieren.

In eine scheinbar friedliche künstliche Welt, in der eine Frau aus ihrer elektronischen Datenbank ein Single-Rendezvous auswählt, um elektronischen Sex zu genießen, dringt ein feindlicher Hacker ein, der sich als Rimbaud ausgibt, mit seinem System und zwingt den -Akteuren seinen elektronischen Willen und seine künstliche Welt auf. Aus dem elektronischen Sex wird nichts, statt dessen wird die Frau gezwungen, in die Rolle der Medea zu schlüpfen. Die Texte von Invisible Site basieren auf den Briefen und Gedichten des französischen Poeten Artur Rimbaud, auf "Medea" von Euripides und auf William Shakespeares "Sturm".

Neben speziellen Computergrafiken und -animation setzt Coates für sein surreales Bühnenbild auf Fotografien, die vom Computer gestalterisch umgewandelt wurden, die Projektoren auf den Vorhang werfen.

Fotografen und Filmleute waren tagelang für ihn unterwegs, um etwas zu fotografieren oder zu filmen, von dem sie nicht wußten, was es letztlich sein sollte. "Ich wollte das Außergewöhnliche, Dinge, Personen, Landschaften, die mit der Kamera vorher in dieser Art und Weise noch nicht festgehalten wurden", betont Coates. "Ich hatte keine Ahnung was dies sein könnte, aber mein Team fotografierte alles, was ihnen vor die Linse kam. Als wir dann die Bilder in den Computer spielten und uns überlegten, was wir damit für unser Stück anfangen konnten, war dies überaus spannend und für viele sicherlich auch überraschend."

Coates verbindet die verschiedenen Welten des Films, des Theaters und der Live-Performance mit den Möglichkeiten der High-Tech-Welt. Dabei geht es dem Künstler nicht um die Technik, sondern um die Wirkung auf die Zuschauer.