Alle rheinland-pfälzischen Hochschulen können Supercomputer nutzen:

Uni Kaiserslautern arbeitet mit Siemens-VP100

20.02.1987

Stolzer Besitzer eines Supercomputers Im Wert von 16 Millionen Mark ist seit Juli 1986 das Regionale Hochschulrechenzentrum Kaiserslautern (RHRK). Der Vektorrechner VT100 von Siemens wurde jetzt offiziell in Betrieb genommen und ist als Landesvektorrechner von allen Hochschulen in Rheinland-Pfalz nutzbar.

Mit der Installation des Supercomputers am RHG' verbunden ist ein Kooperationsabkommen zwischen der Universität Kaiserslautern und der Siemens AG, Im Projektrahmen hat das Regionale Hochschulrechenzentrum Kaiserslautern die Aufgabe übernommen, die Kopplung des Vektorprozessors unter dem Betriebssystem VSP an Rechner der Siemens-Systemfamilie 7.5xx unter dem Betriebssystem BS2000 zu realisieren. Das RHRK verfügt über große Erfahrungen bei der Realisierung von Rechnerkopplungen und besitzt für den speziellen Fall ein fundiertes BS2000-Wissen.

Projektabschluß für 1988 vorgesehen

Der von Siemens zu übernehmende Part besteht in der Implementierung des hochvektorisierten Fortran 77/VP-Systems, einschließlich Compiler und Utilities, für Test und Tuning in BS2000. Außerdem hat das Unternehmen ein Fortran-Laufzeitsystem und eine Bibliothek mit mathematischen Fortran-Unterprogrammen bereitzustellen, damit der Anwender die Vektorleistung bestmöglich nutzen kann.

Der Vektorprozessor soll vom BS2000-Benutzer weitgehend in seiner gewohnten Benutzeroberfläche genutzt werden können. Dazu müssen alle Leistungen auf Kommandoebene verfügbar sein. Sie werden daher auf Basis der Kommandosprache SDF (System Dialog Facility) definiert.

Für die Laufzeit des Kooperationsprojekts "Einbindung der VP-Systeme in die BS2000-Umgebung" hat Siemens als Hilfs-Front-End-System eine unter dem Betriebssystem MSP laufende 7.860 bereitgestellt, um den Benutzern den sofortigen Zugriff zum Vektorrechner zu ermöglichen. Auch in der Zwischenphase kommen die Anwender zum überwiegenden Teil nicht mit MSP/VSP in Berührung. Sie arbeiten heute schon mit BS2000-Schnittstellen, die auch beim endgültigen Betrieb zum Einsatz kommen werden. Zwischen BS2000- und MSP-System wurde eine provisorische Schnittstelle (SNA-Transdata-Protokoll-Umsetzung) geschaffen.

Der Abschluß des Projekts ist für Ende 1988 terminiert. Die fertigen Softwarekomponenten sollen in die offizielle Produktpalette der Siemens AG übernommen werden. Der Münchener Elektronikkonzern kann dann unter dem Betriebssystem BS2000 ein Leistungsspektrum anbieten, das vom PC-2000 über die 7.5xx-Familie bis hin zum VP400 mit 1,14 Milliarden Gleitpunktoperationen in der Sekunde (Gigaflops) reichen wird.

Die Architektur

Der Siemens-Vektorprozessor VP100 basiert auf einer Pipelinearchitektur mit mehrfachen Pipelineeinheiten und besteht aus je einer Skalar- und Vektoreinheit. Eine Pipeline ist ein segmentiertes Rechenwerk, das Operationen überlappend ausführen kann. Vektoren sind abzuarbeitende Datenelemente gleichen Typs.

Die Zykluszeit der Vektoreinheit beträgt bei der VP100 14 Nanosekunden. Die mit der Zentraleinheit eines herkömmlichen Computers vergleichbare Skalareinheit kann bis zu 15 Millionen Instruktionen in der Sekunde ausführen. Das liegt im obersten Leistungsbereich von Universalrechnern. Als Programmiersprache für das VP100-System wird ausschließlich Fortran 77 benutzt (Siemens arbeitet an einem zusätzlichen Pascal-Vektorcompiler).

Die Siemens-Vektorprozessoren (es gibt noch ein kleineres und zwei größere Modelle) sind die ersten Supercomputer, bei denen sich Fortran-Programme von einem Computer bisheriger Bauart durch einfache Neuübersetzung auf einen Vektorprozessor übernehmen lassen. Für die volle Ausnutzung der Leistungsfähigkeit des Supercomputers ist weder eine maschinennahe Assembler-Programmierung noch eine Kenntnis der Vektorbefehle auf Assemblerbasis erforderlich.

Vektorprozessor kommt Unianforderung entgegen

Martin Bürkle, der als stellvertretender Leiter des Regionalrechenzentrums für das Vektorrechnerprojekt verantwortlich ist, erläutert das Konzept von Siemens für die Einbettung der Vektorkapazität in die Rechenzentrumsumgebung: "Es handelt sich um eine Frontend-/Backend-Lösung, bei der die Vektorverarbeitung in der Regel im Stapelbetrieb erfolgt. Die heute erkennbaren Hauptanwendungen für die Vektorverarbeitung sind auf den Stapelbetrieb ausgerichtet. Vielleicht etwas überspitzt formuliert handelt es sich beim VP um eine RISC-Architektur. Das gilt sicher nicht in der reinsten Form des RISC-Ansatzes, der ja keine Gleitkommainstruktionen einschließt. Aber die Hauptkriterien treffen zu. Für RISC typisch sind die große Registerzahl, die Verarbeitung nur zwischen Registern, eigene Load/Store-Funktionen und insgesamt wenige Befehle."

Vor diesem Hintergrund kommt die Internstruktur des Vektorprozessors von Siemens den Benutzeranforderungen einer Universität sehr entgegen. Der Verkehr mit dem Hauptspeicher bleibt von der Verarbeitung völlig getrennt. Die Pipelines sind voneinander unabhängig und können daher auch dann die Spitzenleistung erreichen, wenn sie nicht mit den gleichen Daten arbeiten. Als weiterer Vorteil erfolgt der Rücktransport von in den Hauptspeicher genau wie das Laden der Vektorregister parallel zu anderen Berechnungen.

Die Uni Kaiserslautern und ihr Rechenzentrum

Im August 1970 als Doppeluniversität mit Trier gegründet, hat sich die seit 1975 eigenständige Universität Kaiserslautern in der Zwischenzeit zu einer vorwiegend technisch-naturwissenschaftlichen Hochschule mit rund 1200 Beschäftigten, davon knapp 120 Professoren, und mehr als 7000 Studenten sowie den folgenden neun Fachbereichen entwickelt: Mathematik (mit Wirtschafts- und Technomathematik); Physik (mit technischer Physik); Chemie (mit Lebensmittelchemie); Biologie; Informatik; Maschinenwesen; Elektrotechnik; Architektur/Raum- und Umweltplanung/Bauingenieurwesen; Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (mit Wirtschaftsingenieurwesen).

An zentralen Einrichtungen verfügt die Universität Kaiserslautern über ein Materialprüfamt, eine Universitätsbibliothek, eine Patentschriftauslegestelle und über ein Rechenzentrum, das Regionale Hochschulrechenzentrum Kaiserslautern (RHRK). Das RHRK wurde 1972 als eine Einrichtung des Landes Rheinland-Pfalz gegründet, und ist auch von den Hochschulen in Mainz, Trier und anderen Orten nutzbar.

Bis 1979 arbeitete das RHRK mit Rechnern TR 440 von Telefunken, die schrittweise durch BS2000-Systeme abgelöst wurden. Seit Oktober 1986 verfügt das RHRK über ein Doppelprozessorsystem 7.570 P mit 32 Megabyte Hauptspeicher. Die Zahl der installierten Bildschirme liegt bei mehr als 200 Geräten.

Der Bedarf an Vektorrechnerkapazität besteht bei der Universität Kaiserslautern schon seit längerer Zeit. Für verschiedene naturwissenschaftliche Projekte wurden Rechenzeiten an allen möglichen Anlagen innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik in Anspruch genommen. So haben ab 1984 Forschungsgruppen der Universität Kaiserslautern den Höchstleistungsrechner der Universität Karlsruhe mitbenutzt und fast ein Viertel der Gesamtkapazität der dortigen Cyber 205 beansprucht. Ein Sonderforschungsbereich im Bereich der Physikalischen Chemie belegte bereits ab 1983 Rechenkapazität auf einem Supercomputer in Los Alamos.

Im Bereich der Ingenieurwissenschaften war ein Ausweichen auf exertene Rechenkapazität nicht möglich. Die notwendig hochvolumige Datenübertragung wäre mit vertretbaren Leistungskosten und Antwortzeiten über die vorhandenen Postleitungen nicht durchführbar gewesen. Da die ingenieurwissenschaftlichen Aufgabenstellungen die Leistungsmöglichkeiten der Universalrechner des RHRK deutlich sprengten, konnten die Wissenschaftler nur einzelne Testrechnungen, nicht aber komplette Berechnungen durchfuhren.

Unterschiedlich strukturierte Anwenderwünsche

Die bis heute bekannten Benutzeranforderungen der rheinland-pfälzischen Hochschulen lassen sich in naturwissenschaftliche und ingenieurwissenschaftliche Anwendungen einteilen. Für naturwissenschaftliche Aufgabenstellungen charakteristisch sind extrem rechenintensive Jobs mit relativ wenigen Eingangs- und Ausgangswerten. Sie können über die heute verfügbaren Übertragungswege der Post mit vertretbarem Zeit- und Kostenaufwand abgewickelt werden und sind problemlos durch "entfernte' Anwender, wie sie vor allem die Universität Mainz stellt, nutzbar.

Die naturwissenschaftlichen Anwendungen erfordern in aller Regel keine wesentlichen Vor- und Nacharbeiten auf dem Rechner. Sie sind auch nicht interaktiv. Vielmehr laufen fest vorplanbare größere Rechenpakete mit Milliarden von Gleitkommaoperationen ab. Es ändert sich deshalb bei der Vektorisierung von Programmen nichts am bisherigen Modus, bei dem Rechenpakete im Dialog gestartet und die Ergebnisse im Dialog übernommen werden. Die eigentliche Verarbeitung läuft im Stapel.

VP 100: Neue Dimension der Rechnernutzung

Ingenieurwissenschaftliche Aufgabenstellungen für den Vektorrechner können derzeit praktikabel nur von örtlichen Benutzern gelöst werden. Das Volumen der Eingangs- und Ausgangswerte ist so erheblich, daß eine Datenfernübertragung sinnvoll nur über Lichtwellenleiter realisierbar ist. An der Universität Kaiserslautern bieten sich zahlreiche Ansatzpunkte für die intensive Nutzung des neuen Supercomputers. Das gilt unter anderem für Forschungsschwerpunkte in den Gebieten Mikroelektronik, Materialwissenschaften, Biotechnologie, Laserphysik, Technomathematik, Informationstechnik, Abgastechnik sowie Expertensysteme.

Kaiserslauterns Universitätspräsident Dieter Maaß, als Professor für Informatik und Leiter des RHRK absoluter Fachmann in Sachen Höchstleistungsrechner, sieht im Vektorrechner VP 1 00 eine neue Dimension der Rechnernutzung. Betont Maaß: "Die durch den Einsatz eines solchen Supercomputers erzielbaren Ergebnisse werden auf die gesamte wissenschaftliche Welt ausstrahlen, in der Grundlagenforschung ebenso wie in allen wissenschaftlichen Sparten, in denen numerische Höchstanforderungen gestellt werden." An der Universität Kaiserlsautern bereits realisierte Vektorrechner-Anwendungen betreffen unter anderem wissenschaftliche Aufgabenstellungen der theoretischen Festkörperphysik, in Untersuchungen über den Aufbau von Molekularteilchen und der Analyse von Beschleunigungsdaten sowie der Simulation dreidimensionaler Magnetfelder und in Berechnungen der Stabilität von Hochleistungslasern.

Der Vektorrechner VP100 am RHRK war am 14. Juli 1986 betriebsbereit. Heute ist der Supercomputer nahezu ausgelastet. Selbst über das Wochenende werden rund 90 Prozent der verfügbaren Rechenkapazität belegt. Praktisch kann jedes in Fortran 77 für ein BS2000-System geschriebene Programm auch auf dem Vektorrechner ablaufen.

Das Regionale Hochschulrechenzentrum Kaiserslautern läßt, um eine effektive Belegung des Supercomputers zu sichern, allerdings nur Programme zu, die auf einem Universalrechner mindestens eine Stunde laufen würden.

"Umbruch in naturwissenschaftlicher Forschung"

Die in der Laufzeit eines Programms meßbare Leistungssteigerung ist enorm. So wird eine bestimmte Rechenaufgabe der elektrotechnischen Fakultät auf dem Vektorrechner rund 120mal schneller ausgeführt als auf dem neuen Universalrechner.

Im Rahmen eines wissenschaftlichen Kolloquiums zum Thema Supercomputer, das am Tage der offiziellen Inbetriebnahme des Vektorrechners in der Universität Kaiserslautern stattfand, bezeichnete Professor Schilling von der Bergischen Universität Wuppertal Supercomputer als mächtige Werkzeuge, die zu einem Umbruch in den naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden führen könnten. Die Hochschulen stünden am Beginn einer neuen wissenschaftsgeschichtlichen Ära, bei der bisherige Näherungsverfahren durch Rechnersimulationen abgelöst würden. Supercomputer ermöglichten zudem die Behandlung bisher unzugänglicher Probleme.

*Ulf Bauernfeind ist freier Fachjournalist in Leinsweiler.