Unabhaengigkeit ist unbequem, aber sinnvoll

03.02.1995

Hans-Peter Kroll, Geschaeftsfuehrer der Collogia Unternehmensberatung in Koeln

Auf der CeBIT werden auch in diesem Jahr die Anbieter um die Gunst der Anwender buhlen. Bequeme IT-Konzepte von der Stange sind Honigspuren, aus denen nicht selten Fliegenfaenger werden: Haelt der Kunde sich einmal daran fest, kommt er nicht mehr los. Angesichts wachsender Abhaengigkeit vieler Unternehmen von ihrer DV und des ausufernden Altlastenproblems stellt sich die Frage, ob Herstellertreue im IT-Geschaeft noch zeitgemaess ist. Die vielbeschworene Offenheit und Flexibilitaet mit Blick auf zukuenftige Entwicklungen sind in proprietaeren Welten kaum realisierbar. Innovationen werden verhindert.

Natuerlich ist eine absolute Autonomie weder moeglich noch sinnvoll, wenn man wirtschaftliche Betrachtungen einfliessen laesst. Auch ist es muessig zu diskutieren, ob nicht die eine Abhaengigkeit durch eine andere ersetzt wird. Sicher ist jedoch, dass heute keine IT- Architektur mehr formuliert werden kann, ohne Unabhaengigkeit zu einem wesentlichen Thema zu machen.

Es gibt drei Bereiche, in denen Anwender frei sein sollten:

-Die Hard- und Softwarekomponenten verschiedener Hersteller muessen austauschbar sein. Wenigstens eine Alternative sollte bekannt und mit wenig Aufwand einsetzbar sein.

-Neue Technologien kommen im Idealfall dann zum Zuge, wenn ihr Nutzen deutlich positiv bewertet wird. Ist diese Frage nicht zweifelsfrei beantwortet, muessen die betreffenden Komponenten gekapselt werden, ihr Einfluss ist auf ein Minimum zu reduzieren.

-Neue Software wird so erstellt und vorhandene Software so saniert, dass Wartung und Ausbau jedem qualifizierten Mitarbeiter nach einer kurzen Einarbeitung moeglich ist.

Wer glaubt, das Abhaengigkeitsproblem durch Outsourcing oder Standardsoftware zu loesen, irrt. Waehrend Outsourcing eine neue Abhaengigkeit schafft, verhindert Standardsoftware haeufig den entscheidenden, nur individuell zu programmierenden und zu integrierenden Wettbewerbsvorteil.

Unabhaengigkeit zu realisieren ist muehsam: Waehrend der Lieferant einer proprietaeren Welt die wichtigsten Aussagen zur IT- Architektur mitliefert, muss das unabhaengige Anwenderunternehmen die Verantwortung fuer Entscheidungen selbst uebernehmen. Dazu gehoeren die individuelle Einschaetzung des Marktes, die Erstellung eigener Konzepte und die Bereitschaft, Verantwortung zu uebernehmen.

Der Aufwand lohnt sich: Mehr Flexibilitaet und bessere Reaktionsmoeglichkeiten auf die sich aendernden Forderungen des Marktes sind nur durch eine eigenstaendige IT-Strategie zu erzielen. Die Frage nach dem richtigen Weg sollte deshalb danach beantwortet werden, inwieweit eine Softwarekomponente zur Steigerung der Wettbewerbsfaehigkeit des Unternehmens beitraegt.

Unabhaengigkeit ist aufwendig. Konzepte muessen erstellt, vorhandene Anwendungen restrukturiert, Altlasten saniert und durch Reverse- und Re-Engineering-Massnahmen in moderne Technologien migriert werden. Voraussetzungen sind ein klares Ziel und systematisches Vorgehen beim Aufbau der Informationsbasis. Ergebnis ist eine saubere IT-Architektur, in der Alternativen und Beschraenkungen festgeschrieben sind.

Bestandteile dieser IT-Loesung sind die Hardware- und die Software- Architektur, das Daten- und das Prozessmodell. Ausserdem ist eine konsistente und aktuelle Dokumentation auf konzeptioneller Ebene wichtig, um Altlasten ueber Bord werfen und neue Freiheitsgrade gewinnen zu koennen. Diese Dokumentation muss Teil der Entwicklungsumgebung sein, aus dem aktuellen System extrahiert und in einem offenen Repository abgelegt werden.

Wenn sich Anwender auf der CeBIT mit den Herstellern unterhalten, sollten sie sich nach der Portabilitaet von Anwendungen erkundigen und nach der Offenheit der angebotenen Loesung: Lassen sich die syntaktischen und semantischen Informationen im Repository der eigenen Software-Entwicklungsumgebung ablegen? Unterstuetzen die Architekturen Standards im Sinne der genormten Schnittstellen?

Integrationsfaehigkeit und Investitionsschutz werden durch Faktoren gewaehrleistet wie die

-Oeffnung proprietaerer Produkte durch Migration in neue Technologien (Objektorientierung, Client-Server),

-Ueberfuehrung und Rettung alter Datenbestaende in neue Welten sowie die

-Moeglichkeit zur kooperativen Integration von Drittsystemen ueber standardisierte Schnittstellen (OLE, DRDA, ODBC . . .).

"Time to market", verkuenden die Anbieter, wenn sie ihren Kunden in immer kuerzeren Zyklen neue Systemversionen vorstellen, die zwar leistungsfaehiger, aber auch teurer sind als ihre Vorgaenger. Wer ein Marktsegment zuerst besetzt und am schnellsten mit der naechsten Version auf dem Markt ist, macht das Geschaeft. Man sollte als Kunde daran denken, dass die Einfuehrung von Systemen in grossen Unternehmen oft um ein vielfaches kostspieliger ist als der Produktkauf selbst.