Technikgläubigkeit abbauen - DV-Zuverlässigkeit realisieren

11.12.1987

Dr. Ahmet Çakir, Mitglied der Geschäftsführung beim Ergonomic Institut für Arbeits- und Sozialforschung Forschungsgesellschaft mbH, Berlin

Der Börsencomputer als Beispiel für eine gefährliche Entwicklung der sogenannten Informationssysteme: Mehr als ein leichtes Erstaunen konnten die Kritiker damit den Computer-Gläubigen nicht entlocken. Man hat die Kritik nicht verstanden - wie sollte man auch? Sind Computer nicht schnell, zuverlässig, rationell, logisch und intelligent? Braucht nicht gerade die Börse Informationen, die schnell, zuverlässig und rationell bearbeitet und übermittelt werden? Nun kam das böse Erwachen: Der programmierte Börsen-Krach hat nicht nur immense Werte vernichtet, sondern wahrscheinlich bei vielen Entscheidungsträgern auch den Glauben an den Mythos vom zuverlässigen Computer. Dem nahezu blinden Vertrauen in die Technik kann jetzt eine ebenso unbegründete und gefährliche Ablehnung folgen.

Wo aber liegen die Gefahren, die die Kritik anführt? Und wieso ist die Ablehnung genauso gefährlich? Nach meiner Erfahrung und Vorstellung ist die größte Gefahrenquelle in beiderlei Hinsicht die maßlose Überschätzung der Technik zum einen sowie die ungenügende Beachtung ihrer Restriktionen zum anderen. Man ist zwar peinlich berührt, wenn das Wort "Elektronenhirn" fällt, doch die Schar derer, die unter "künstlicher Intelligenz" ein Mittel gegen natürliche Dummheit verstehen, ist nicht gerade klein. Daß die "Intelligenz" der 5. Generation der Computer immer noch kleiner sein wird als de von Nessie, die jährlich etwa zur gleichen Jahreszeit - um das Saisonloch in der Presse zu füllen - auftaucht, ist offenbar schwer zu verstehen.

Die Überschätzung beginnt schon beim Namen - der Begriff Signalübermittlung erscheint zu gering, es wird lieber von Informationsübertragung geredet. Datenverarbeitung ist nicht mehr in, ein Informationsverarbeitungssystem muß es schon sein. Wen kümmert's hierbei, daß "Information" weder übermittelt noch verarbeitet werden kann? Beides kann nur mit Daten geschehen, aus denen dann der Mensch oder die Menschen ihre Informationen ableiten. Was dem einen hochinteressant erscheint, bedeutet dem anderen eben nichts. Daten sind selektive Abbilder der Realität, Information ist ihre subjektive Bewertung. Überläßt man aber die Selektion wie die Bewertung einer Maschine, die den Preis von allem und den Wert von nichts kennt, ist der Zusammenbruch programmiert. Wie gehabt, wie vorhergesagt!

Reiben sich die Kritiker jetzt schadenfroh die Hände? Sicherlich nicht. Denn das Ziel einer ernst zu nehmenden Kritik kann nicht allein im Nachweis einer Fehlentwicklung liegen, sondern im Aufzeigen der wünschenswerten (Entwicklungs-)Richtung. Zwei Punkte besitzen hierbei für mich eine große Bedeutung: Technikentwicklung im Sinne organisations- und sozialförderlicher Auswirkungen sowie Technikentwicklung, die neue Wege und Formen der Arbeitsgestaltung fördert. Aus heutiger Sicht fehlt mir dazu die konkrete Utopie, in welche Richtung wollen wir? Ich kann mich hierbei oftmals nicht des Eindrucks erwehren, als würden die neu geschaffenen Systeme eher die Vergangenheit aufarbeiten, als der Gestaltung der Zukunft dienen.

Das heutige Verhalten der Gesellschaft in bezug auf die I&K-Techniken stellt sich in meinen Augen kein bißchen anders dar als vor dreißig Jahren hinsichtlich der Atomenergie. Man rief damals - unter dem Einfluß einer kleinen Gruppe von Interessenvertretern - das Atomzeitalter aus und gründete das Atomministerium. Heute redet man - wieder unter dem Einfluß einer kleinen Gruppe - vom Informationszeitalter, und der kräftigste Förderimpuls hierbei kommt vom selben Ministerium, daß jetzt Bundesministerium für Forschung und Technologie heißt. Im ersten Fall lautet die Verheißung "quasi kostenlose Energie", im zweiten Fall lockt der schnelle, billige Informationsfluß.

Schleichwege zum Garten Eden, auch noch zum Null-Tarif! In beiden Fällen ist ein relativ unbedeutsamer Faktor des gesellschaftlichen Lebens - hier der Preis elektrischer Energie, da das Verarbeiten quantifizierbarer Daten - zum Mittelpunkt des weltweiten Geschehens hochstilisiert worden.

Die Gläubigen dachten und denken, daß sie von der Entwicklung profitieren werden, die Macher aber auch. Durch die geschickte Verknüpfung von unwiderlegbaren Tatsachen und Wunschvorstellungen schaffen die letztgenannten Metaphern, deren Verlockungen nicht nur schlichte Gemüter erliegen, sondern auch die Inhaber höchster politischer Gewalt. Sind wir Objekte einer uns fremden, technisch orientierten Logik oder Menschen, die sich eben dieser Logik bedienen, um eigene Ziele zu erreichen, die wir als konkrete Utopien formulieren?

Eine konkrete Utopie zum Beispiel wäre es, die informationelle Gleichstellung aller Betroffenen mit Hilfe neuer Techniken zum Ziel zu wählen und damit das zu realisieren, was die Technik anzustreben vorgibt. Die Realisierung einer ganzheitlichen Informationsverarbeitung, bei der das Quantifizierbare und Bewertbare gleichberechtigt sind, ist auch ein lohnendes Ziel. Heute können unsere Systeme Äpfel zählen und wiegen Man will aber auch wissen, ob und wie sie schmecken.

Wichtiger als die Realisierung konkreter Utopien stellt sich heute die soziale, organisatorische und technische Kontrolle bereits bestehender komplexer Datensysteme dar. Jeder halbwegs ausgebildete Ingenieur der Nachrichtentechnik weiß, daß dies auf prinzipielle Probleme stößt. Ungeachtet dessen wird aber der Aufbau noch komplexerer Systeme vorangetrieben. Nicht kontrollierbare technische Systeme mögen viele positive Eigenschaften besitzen und diese täglich aufs neue beweisen, das Prädikat "verläßlich" werden sie nie bekommen. Das aber ist die wichtigste Eigenschaft eines Arbeitsmittels, mit dessen Hilfe man Informationen gewinnen möchte. Die Grenzen des vom Menschen Beherrschbaren festzulegen und neue Technologien verläßlich zu gestalten - das hört sich zwar bescheiden an, ist aber wichtiger und schwieriger als der Aufbau von Supernetzen.

Die Überschätzung der Möglichkeiten der Technik einerseits, die mangelhafte Verläßlichkeit der unbeherrschten Systeme andererseits bergen die Gefahr in sich, daß schlechte Erfahrungen pauschaliert auf alle Computer bezogen werden. Auch auf die, die wir dringend brauchen, um neue Formen der Arbeitsgestaltung zu finden und die Arbeit in Verwaltung und Produktion zu humanisieren. Menschen, Organisationen, Gesellschaften aufgezwungen, um sie beherrschbar zu machen, stellen Computer und alle verwandten Techniken eine Gefahr dar; von Menschen, Organisationen und Gesellschaften als Werkzeug eingesetzt, um selbstbestimmte Informationsbedürfnisse zu befriedigen, gehören sie zu höchst willkommenen Errungenschaften - nicht nur der Technik.

Der Weg von der Industrie in die reale Informationsgesellschaft wird nicht von Techniken der Datenverarbeitung bestimmt, sondern von unserer Fähigkeit, diese in Organisationskonzepte einzubinden. Dabei muß der eklatante Widerspruch in der Einschätzung der Intelligenz von Maschinen und deren Benutzern beseitigt werden: Man sieht in Maschinen Qualitäten, die Menschen zustehen, während Menschen häufig in einer Form beschäftigt werden, die der Maschine angemessen wäre. Das zu ändern, erfordert die Definition von Zielvorstellungen. Wenn man der Technik Ziele stellt, vollbringt sie Wunder. Wenn man es unterläßt, wundert man sich, wohin sie führen kann.