Technikentwicklung ist das Ergebnis gesellschaftlicher Machtkämpfe

23.05.1980

Dr. Werner Langenheder, Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung, GMD, St. Augustin, Teil II

So wichtig es ist, Personen- und Interessengruppen zu identifizieren, die die weitere Entwicklung und den Einsatz neuer Informationstechnologien beeinflussen und so notwendig es ist, die sozialen Auswirkungen der bereits eingesetzten beziehungsweise demnächst einsetzbaren Techniken zu erforschen, so unzureichend wäre es, sich auf die Bearbeitung dieser beiden Problemfelder zu beschränken. Die eigentliche Aufgabe, vor der wir stehen, ist nämlich nicht die nachträgliche Erforschung bereits eingetretener oder bevorstehender Auswirkungen, sondern die Suche nach Strategien zur Entwicklung besserer Techniken oder ganz allgemein besserer, gegebenenfalls auch nicht-technischer Lösungen. Die Bearbeitung der ersten beiden Problemfelder ist dabei vor allem auch als Voraussetzung und als Ergänzung bei der Bearbeitung des dritten Feldes zu sehen.

Was ist bessere Technik?

Die Forderung nach besserer Technik beziehungsweise allgemein besserer, auch nicht-technischer Lösungen wirft sofort die Frage auf, besser für wen, für die Hersteller technischer Systeme für die Systemeigner, für die Systementwickler, für die Systembenutzer oder für alle Betroffenen im weitesten Sinne? Nach dem bisher Gesagten kann die Antwort nur lauten: Für alle von dieser Entwicklung direkt oder indirekt betroffen Gruppen, zu denen selbstverständlich auch die Systemhersteller, die Systementwickler und die Systemeigner gehören können (der Ausdruck "betroffen" wird hier also in einem erheblich erweiterten Sinne verstanden).

Diese Forderung wirft aber gleich eine ganze Reihe weiterer Probleme auf: Wer ist betroffen? In welchem Ausmaß sind die verschiedenen Personen und Personengruppen betroffen? Woher wissen diese Personen was für sie besser und was schlechter ist? Falls die verschiedenen Personen und Personengruppen unterschiedliche oder gar widersprüchliche Vorstellungen haben, wie sind diese Vorstellungen zu gewichten und vor allem, wer entscheidet über deren Verwircklichung? Aber selbst wenn alle diese Fragen zufriedenstellend beantwortbar sein sollten: Würde das wirklich bessere technische Systeme, würde das wirklich bessere Lösungen zur Folge haben? Daß das nicht notwendiges sein muß, ja, daß das sogar eher unwahrscheinlich ist, läßt sich an zahlreichen Beispielen mißglückter Architektur und Stadtplanung belegen: Was in der Planungsphase bei allen Beteiligten noch vielfache Begeisterung auslöste, erwies sich einige Zeit nach der Fertigstellung nicht selten als wahrer Alptraum.

Für die Wirkungsforschung (in der GMD) ergeben sich aus diesen Überlegungen vor allem zwei Schlußfolgerungen:

1. Es sind Strategien zu entwickeln und zu erproben, die sicherstellen, daß alle von einer bestimmten Technikentwicklung und dem Einsatz dieser Technik wesentlich betroffenen Personen und Personengruppen an den dabei ablaufenden Entscheidungsprozessen angemessen beteiligt werden.

2. Es sind Voraussetzungen zu schaffen oder zumindest aufzuzeigen, die es ermöglichen, eine bereits eingeschlagene Entwicklungsrichtung, die sich nachträglich als weniger positiv oder gar als negativ erweist, jederzeit und vor allem rechtzeitig wieder zu verlassen und gegebenenfalls auch rückgängig zu machen.

Die erste Forderung schließt als wichtige Strategie die partizipative Systementwicklung mit ein. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Praxis sprechen wir jedoch nicht bereits dann von Partizipation wenn die Betroffenen im Rahmen von "user involvement" einbezogen werden, um lediglich die Inhalte von Arbeitsaufgaben oder deren Abläufe zu ermitteln, also damit auch andere als die Entscheider an der Informationsgewinnung über die Organisation zu beteiligen. Auch soll nicht schon dann von Partizipation die Rede sein, wenn die Betroffenen lediglich angehört werden und ihnen gegebenenfalls glaubhaft (jedoch letztlich unverbindlich) versichert wird, ihre Wünsche und Vorstellungen würden bei der Systementwicklung ernsthaft geprüft und nach Möglichkeit berücksichtigt werden. Diese Art von "Partizipation" löst wahrscheinlich keines der genannten Probleme, sie könnte sogar eher zu einer langfristig noch weiteren Verhärtung der Fronten beitragen.

Ernstgemeinte Partizipation

Partizipation, wenn sie wirklich ernst gemeint ist, setzt vielmehr Möglichkeiten aktiver Interesseneinbringung der Betroffenen in den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß voraus. Die Interesseneinbringung muß geregelt werden, daß heißt. verfahrensmäßig gesichert und den Betroffenen vermittelt werden. Die Möglichkeiten einer Interesseneinbringung reichen von Argumentations- und Diskussionsmöglichkeiten bis hin zu formellen Mitbestimmungsmodellen und sind in ihren Restriktionen und Potentialen Gegenstand der Forschungs- und Entwicklungsarbeit der Wirkungsforschung.

Notwendige Voraussetzung solcher Partizipation ist eine Schulung der Betroffenen, so daß diese erstens in der Lage sind, die sie betreffenden wesentlichen Zusammenhänge zu durchschauen, daß sie zweitens die von ihnen zu bedienenden technischen Systeme beherrschen und nicht umgekehrt von diesen beherrscht werden und daß sie drittens selbst beurteilen können, woran sie sich beteiligen sollen.

Zu den verschiedenen möglichen Strategien der Interessenberücksichtigung (vor allem auch der Interessen der bisher weniger beteiligten Benutzer und Betroffenen) einschließlich partizipativer Strategien in dem von uns definierten Sinne liegen bereits Erfahrungen sowohl aus der Bundesrepublik Deutschland als auch in noch größerem Umfang aus dem Ausland (vor allem aus Skandinavien) vor. Diese Erfahrungen und die daraus entwickelten Konzepte und Strategien gilt es aufzugreifen, zu prüfen und in konkreten Anwendungsfeldern einzusetzen. um sie weiterzuentwickeln und zu erproben.

Hinter der zweiten Forderung verbirgt sich erstens die Forderung nach mehr Flexibilität bei der Entwicklung und dem Einsatz von Technik. Es verbirgt sich dahinter aber vor allem auch zweitens die Forderung, daß der Mensch nicht zum Opfer einer nicht gewollten Technikentwicklung werden darf oder mit anderen Worten, daß die Technik dem Menschen und nicht umgekehrt der Mensch der Technik dienen soll.