Bisherige Beratungskonzepte eignen sich vor allem für Großfirmen

Taugt SAP R/3 auch für den Mittelstand?

22.08.1997

1992 kamen auf ein Großunternehmen rund 1000 kleinere und mittlere Firmen. Der Mittelstandsmarkt ist riesig. Die Kundenbasis der SAP AG in diesem Marktsegment läßt sich jedoch nur erahnen, da es hierüber keine veröffentlichten Zahlen gibt (siehe Abbildung). In einem Interview mit der COMPUTERWOCHE (Nr. 13 vom 28. März 1997, Seite 9) sagte Vorstandsmitglied Hasso Plattner, daß weltweit etwa 50 Prozent der damals 9000 SAP-R/3-Installationen von Unternehmen mit weniger als 350 Millionen Jahresumsatz eingesetzt werden. Stellt man Plattners Aussage die Definition des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn gegenüber, derzufolge Unternehmen zum Mittelstand zählen, solange die Zahl der Beschäftigten unter 500 und der Umsatz unter 100 Millionen Mark pro Jahr liegt, so wird deutlich, daß die SAP AG den Mittelstandsmarkt bisher allenfalls gestreift haben kann.

Die bisherigen SAP-Kunden setzen sich überwiegend aus Großunternehmen und aus Tochterfirmen von Konzernen zusammen. Beide Unternehmenstypen sind durch lange Entscheidungswege, hohe Arbeitsteilung sowie durch die Einbettung in konzernweite Regelungen und Konzepte gekennzeichnet. Die SAP entwickelte ihr R/2-System ausschließlich für diese Klientel.

Dieser Ursprung des R/2-Systems wird auch heute noch in R/3 deutlich. Nur nach dem Besuch von umfangreichen Schulungen und durch eine leistungsfähige Beratung ist es möglich, R/3 so einzustellen, wie es gebraucht wird. Zwar wurde durch die grafische Oberfläche die Bedienung des Systems vereinfacht, doch sind die Masken auch heute noch weitgehend für Großunternehmen mit einer vielfältigen und arbeitsteiligen Organisation konzipiert.

Auch die SAP-Beratung hat sich durch langjährige Projekterfahrung eher auf die genannten Merkmale eines Großunternehmens eingestellt und Consulting-Konzepte entwickelt, die eine aufwendige Projektorganisation mit vielen Modulberatern und internen Projektmitarbeitern beinhalten.

Das gegenwärtige SAP-Beraterprofil ist durch eine sehr starke Modulorientierung und ein Splitting von konzeptionellen Fähigkeiten, Integrationsaspekten und tiefgehenden R/3-Systemkenntnissen gekennzeichnet. Zur Verfügung stehen entweder Berater mit sehr detaillierten Modulkenntnissen, die aber Schwierigkeiten haben, die konzeptionellen und modulübergreifenden Anforderungen zu erfüllen. Oder man findet Berater, die sich zwar konzeptionell und modulübergeifend auskennen, aber sobald Anforderungen konkret umzusetzen sind, auf die Modulspezialisten verweisen.

Die genannten Vorgehensweisen und SAP-Beraterprofile berücksichtigen nicht die Voraussetzungen und Möglichkeiten eines mittelständischen Unternehmens. Solche Firmen zeichnen sich im Gegensatz zu den bisherigen SAP-Kunden tendenziell durch geringe Arbeitsteilung, hohes Kostenbewußtsein, kleine Budgets, schnelle Entscheidungsfindung, geringere Komplexität sowie klare Vorstellungen über Ziele und Gestaltung der zukünftigen Abläufe aus. Kleinere und mittlere Firmen verstehen die DV als Dienstleistung und Service, Großunternehmen begreifen sie eher strategisch.

Die weniger ausgeprägte Arbeitsteilung bei Mittelständlern hat auch eine geringere Anzahl an Organisationseinheiten zur Folge. Dadurch haben die Mitarbeiter einen guten Überblick über die tägliche Arbeit. Bei einer Reorganisation der Geschäftsprozesse entsteht weniger Kompetenzgerangel als in Großfirmen. In bezug auf ein SAP-Einführungsprojekt sind solche Voraussetzungen günstig, um Entscheidungen zu beschleunigen. Die Zahl der Entscheider ist kleiner, und sie sind direkter an den in Frage stehenden Abläufen beteiligt. Freilich sind sie gerade dadurch stark in die tägliche Routinearbeit eingebunden.

Mittelständler sind kostenbewußt. Für Projektarbeit, die sich nicht unmittelbar mit den Kunden oder Produkten beschäftigt, steht nur wenig Zeit und Geld zur Verfügung. Erfahrungsgemäß ist bei R/3 mit Einführungskosten von rund 30000 bis 80000 Mark pro Benutzer zu rechnen. Solche Summen werden Mittelständler in der Regel nicht akzeptieren.

Ein weiterer Aspekt ist die Bedeutung der DV-Unterstützung in mittelständischen Unternehmen. Sie spielt eine eher untergeordnete Rolle. Der Anwender erwartet von seinem Standardpaket, daß es ihm bei der täglichen Routine hilft. Für die Marktstellung des Unternehmens sind die Produkte, die Dienstleistung und die persönlichen Beziehungen viel wichtiger.

Um den Anforderungen kleinerer und mittlerer Betriebe gerecht zu werden, muß sich die Beratungsleistung von Anbietern drastisch ändern. Sie darf sich nicht an umfangreichen Analysen des Ist-Zustandes und der Entwicklung von Papierkonzepten orientieren, sondern muß den direkten Weg in die Umsetzung ansteuern. Hierbei müssen für einen Kernprozeß die Schritte Analyse, Konzeption und Umsetzung iterativ durchlaufen werden. Der Berater hat das Gesamtsystem im Auge zu behalten, um jederzeit die Auswirkungen für andere Prozesse und Module verdeutlichen zu können.

Die skizzierte Vorgehensweise erfordert einen neuen Typ von SAP-Beratern. Sie müssen analytisch und konzeptionell sattelfest sein, dazu aber auch zumindest ausgewählte Modulblöcke des R/3-Systems, also zum Beispiel Basis, Rechnungswesen, Logistik und Personalwirtschaft, im Detail kennen. Unverzichtbar sind anwendbare Kenntnisse darüber, wie sich die kombinierte Integration mehrerer Module gestaltet.

Hierdurch entsteht ein Widerspruch. Einerseits steigen die Anforderungen an den Berater und damit im Prinzip auch die Tagessätze. Andererseits verfügt der Mittelstand nicht über so üppige Budgets wie die Großunternehmen. Um Kosten reduzieren zu können, gibt es zwei Möglichkeiten: zum einen kürzere Beratungszeiten, zum zweiten niedrigere Tagessätze (derzeit ist ein erfahrener SAP-Berater kaum unter 1800 Mark pro Tag zu bekommen). Wer sich auf Aufträge aus dem Mittelstand konzentrieren will, muß mit Sicherheit beide Wege beschreiten.

Ob die Beratungsbranche das mittelfristig tun wird, ist allerdings zweifelhaft. Durch den internationalen Erfolg von R/3 haben Großfirmen nach wie vor starken Bedarf an entsprechenden Beratern. Solange sich daran nichts ändert, ist nicht zu erwarten, daß sich die Beratungsbranche an neue Herausforderungen heranwagt, die auch noch geringere Gewinnmargen erwarten lassen. Zwar gehen kleine und große Beratungshäuser zunehmend Partnerschaften ein, inwieweit sich dies jedoch positiv auf die SAP-Beratung auswirken wird und wie lange diese Kooperationen betrieben werden, läßt sich noch nicht beurteilen.

Wie SAP die R/3-Einführung vereinfachen will

- Mit Release 3.x wurde die "Business Reengineering Workbench" mit Daten-, Organisations- und Prozeßmodellen eingeführt. Das Tool soll die Komplexität des Systems reduzieren und das Customizing vereinfachen. Das System soll sich anhand der Vorgehens- und Prozeßmodelle einstellen lassen.

- Für den Mittelstand soll R/3 branchenorientiert voreingestellt ausgeliefert werden.

- Um den reibungslosen Betrieb eines R/3-Systems sicherzustellen, sind bisher mindestens zwei ausgebildete DV-Mitarbeiter erforderlich. Vor allem die in kurzen Abständen folgenden Releases und Put-Levels sowie die hohe Fehlerquote bei den ersten Put-Levels machen viel Arbeit. Der Aufwand wird um so größer, je mehr SAP-Module im Einsatz sind, da nicht einzelne Module, sondern immer nur das vollständige R/3-System aktualisiert werden kann. SAP kündigte im Frühjahr 1996 deshalb an, die Modulblöcke Rechnungswesen, Logistik und Personalwirtschaft zu trennen und auch einzeln zu liefern. Für die Ende 1997 erwartete Version R/3 4.0 soll jedoch nur das Personal-Managements-Modul "Human Resources" (HR) separat erhältlich sein.

Dr. Siegbert Kern ist Leiter der Abteilung Anwendungs- und Systementwicklung bei der Baden-Württenbergischen Landeszentralbank in Stuttgart.