Sunsoft hat ein Unix-freies Betriebssystem

25.11.1994

Jahrelang hat Sun die Existenz des Spring-Projekts geleugnet. Vorzeitige Informationen ueber die Entwicklung eines objektorientierten Betriebssystems haetten die Einfuehrung von Solaris 2 gefaehrden koennen. Doch die Geruechte hatten Hand und Fuss.

CW: Stimmt es, dass Sunsoft ein objektorientiertes Betriebssystem fertiggestellt hat, das nichts mit Solaris zu tun hat?

Gingell: Wir haben seit 1987 ein Forschungsprojekt unter der Bezeichnung "Spring" laufen. In diesem Rahmen wurde unter anderem Unix V.4 entwickelt. Und eines der neuesten Ergebnisse ist ein kleines, einfaches, objektorientiertes Betriebssystem.

CW: Wie es heisst, soll das Produkt noch in diesem Jahr an amerikanische Universitaeten ausgeliefert werden.

Gingell: Es ist kein Produkt, sondern ein Projekt.

CW: Aber Spring wird ausgeliefert.

Gingell: Ja, aber nur zu Forschungszwecken. Es sind einige Eigenschaften eingebaut, die zur Zeit in akademischen Kreisen diskutiert werden - vor allem bezueglich der Bereiche Sicherheit und Schnittstellen. Ausserdem eignet sich Spring als Plattform fuer wissenschaftliche Entwickler.

CW: Wird es eines Tages das Solaris-Unix ersetzen?

Gingell: Ich weiss es nicht. Vielleicht. Zur Zeit gibt es dafuer keine Produktvorstellungen. Um es ganz deutlich auszudruecken: Wir haben noch nicht einmal den Plan, einen Plan zu machen.

CW: Was tut Sunsoft dann mit diesem Betriebssystem?

Gingell: Wir arbeiten seit sechs Jahren daran. Einige der Ergebnisse sind in unsere Objekttechnik DOE (Distributed Objects Everywhere, Anm. d. Red.) eingegangen. Aber auch die Programmiersprache IDL fuer Corba stammt daher. Das Betriebssystem sehen wir deshalb nicht als Prototyp eines Produkts, sondern als eine Forschungsplattform, eine Quelle fuer neue Techniken und Produkte.

CW: Liesse es sich denn in Solaris integrieren?

Gingell: Spring wurde ohne Ruecksicht auf irgendwelche existierenden Plattformen entwikkelt. Daher ist es ganz anders als Solaris. Man kann vielleicht die eine oder andere Idee uebernehmen, aber wohl nicht den Code.

CW: Wie sieht dann die Zukunft von Solaris aus? Wird sie objektorientiert sein?

Gingell: Man darf hier nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Sun versteht sich als Unternehmen, das Komponenten zu Produkten zusammensetzt. In diesem Sinn wird auch Solaris mit teils objektorientierten, teils konventionellen Elementen erweitert.

CW: Mitbewerber wie Microsoft und IBM, aber auch die OSF - in der Sun ja Mitglied ist - sehen im Microkernel-Konzept die Zukunft fuer Betriebssysteme. Warum hoert man dazu nichts aus Ihrem Hause?

Gingell: Ich bin kein grosser Freund des Microkernels. Was hat der Anwender davon, dass der Kernel stabil bleibt, wenn seine Anwendung abstuerzt?

CW: Darum geht es doch nicht. Vielmehr wollen die Hersteller das Betriebssystem mit Hilfe eines Microkernels modularisieren, um ohne schwerwiegende Eingriffe neue Funktionen einbauen zu koennen.

Gingell: Solaris ist bereits in hohem Masse modularisiert - mit konventionellen Methoden.

CW: Wollen Sie damit sagen, dass Ihre Mitbewerber den Microkernel einfuehren, um von ihren monolithischen Systemen wegzukommen, Sun hier aber keinen Handlungsbedarf mehr sieht?

Gingell: Ja. Es gibt viele Wege, um zum selben Resultat zu kommen. Aber angesichts unserer installierten Basis muessen wir bei einem Technologiewechsel vorsichtig sein. Deswegen gehen wir unseren Weg und die IBM den ihren.

CW: Man koennte diese Microkernel-Abstinenz als technische Unfaehigkeit deuten oder als Sun-typische Ablehnung verbreiteter Standards.

Gingell: Wir werden mit der naechsten Solaris-Version die Motif- Umgebung ausliefern. Das ist ein offener Standard...

CW: ... aber erst nach jahrelangem Straeuben. Ausserdem hat sich Sunsoft abseits von Standards fuer Nextstep als kuenftige Oberflaeche entschieden.

Gingel: Standards sind wichtig, aber die Computerindustrie ist der falsche Platz, um Monumente zu schaffen. Vielmehr muessen wir die Probleme der Kunden loesen. Dabei darf man sich nicht durch Standards behindern lassen.

Robert Gingell ist Chefentwickler von Sunsoft und fuehrt den offiziellen Titel Chief Scientist Distinguished Engineer. Das Gespraech fuehrte CW-Redakteur Hermann Gfaller.