Suggerierte Ordnung versus reales Chaos

01.05.1992

Den Auswertungen diverser Marktforschungsunternehmen zufolge geben die Anwender Jahr für Jahr einen deutlich größeren Teil ihrer - mittlerweile recht kostenbewußt verwalteten - DV-Budgets für CASE-Werkzeuge aus. Wie es scheint, investieren die Unternehmen nicht trotz, sondern gerade wegen der schwierigen Konjunkturlage in eine Technologie, von der sie sich eine schnelle und kostengünstige Entwicklung sowie eine bessere Wartbarkeit ihrer Softwaresysteme erhoffen.

Leider bleiben diese Hoffnungen nur zu oft unerfüllt. Der Begriff Computer-Aided Software-Engineering - eingeführt, um einen ganzheitlichen und ingenieurmäßigen Ansatz in der Anwendungsentwicklung zu bezeichnen - ist zu einem Marketing-Schlagwort verkommen, seit sich jeder Debugger mit dem Etikett "CASE-Tool" schmückt.

Etikettenschwindel auch auf der Ebene der sogenannten CASE-Umgebungen: Das Versprechen einer Durchgängigkeit über alle Phasen des Software-Lifecycle kann in der Praxis nicht gehalten werden. So sind beispielsweise die Übergänge von der Analyse zum Design - zumindest auf der Prozeßseite - noch nicht befriedigend gelöst, und zwischen Design und Implementierung klafft eine Lücke, die in vielen Fällen von Hand geschlossen werden muß.

Zudem eignen sich die meisten dieser Umgebungen nur für die Entwicklung neuer Anwendungen. Aus verständlichen Gründen schrecken jedoch die meisten Anwenderunternehmen davor zurück, ihren gesamten Bestand an Cobol- oder Assembler-Applikationen wegzuwerfen und neu zu erstellen. Re-Engineering-Werkzeuge können manchmal Abhilfe schaffen, sind aber beileibe kein Allheilmittel.

Kurzum: Der CASE-Begriff suggeriert - vor allem in Verbindung mit Slogans wie Repository und Unternehmensmodell - eine Ordnung, die dem über Jahre gewachsenen Chaos in den Software-Abteilungen diametral entgegensteht. Was not tut, ist zunächst eine kritische Überprüfung sowohl der realisierten als auch der nachgefragten Systeme und ein darauf aufbauendes Software-Management, das "Altlasten", Standardsoftware und Neuentwicklungen gleichermaßen einbezieht. Dafür aber gibt es weder ein Tool noch ein Herstellerkonzept. qua