Mit Wilfried Glißmann* sprach CW-Redakteur Hans Königes

Statt Anweisungen "von oben" "Sachzwänge des Marktes"

12.07.1996

CW: Was hat sich in den DV-Unternehmen in den letzten Jahren in puncto Geschäftsmodelle und Organisation verändert? Glissmann: Die Unternehmen stellen dem mittlerweile stark segmentierten Markt einzelne Teilbereiche gegenüber. Diese Unternehmenssegmente sind international organisiert, alle wichtigen Entscheidungen fallen auf internationaler Ebene. Die Konzentration auf sogenannte Kernkompetenzen und die Ausgliederung weniger wichtiger Bereiche sind Seiten derselben Medaille.

CW: Wo liegen für die Mitarbeiter die Unterschiede zu früher?

Glissmann: Die "alten" Unternehmen waren hierarchisch nach einem System von "command and control" organisiert. In der heutigen segmentierten Organisation sagt die Firmenleitung den Mitarbeitern: "Da ist euer Markt, das ist eure Welt, in der ihr euch bewähren müßt."

CW: Der Mitarbeiter wird also Unternehmer im Unternehmen?

Glissmann: Das Unternehmerische wird für den Mitarbeiter Teil der normalen Arbeit. Was die Menschen in diesen Einheiten treibt, sind nicht die Anweisungen des Managements, sondern die "Sachzwänge des Marktes". Der Unternehmer zieht sich zurück und sagt: "Ihr seht doch selbst, was zu tun ist!"

CW: Wie sind die Erfahrungen in den USA, wo dieses Modell in einigen Unternehmen bereits seit einigen Jahren läuft?

Glissmann: Der amerikanische Management-Guru William Bridges erläutert am Beispiel Microsoft die neue IT-Arbeitswelt. Die sieht dann unter anderem so aus: Der Marktdruck wird unmittelbar an die Arbeitsgruppen vermittelt und die Zuständigkeit und Verantwortung des einzelnen Mitarbeiters kennt keine Grenzen mehr, zum Beispiel keine durch eine Job-Beschreibung.

CW: Welche Konsequenz hat diese Entwicklung für die Mitarbeiter?

Glissmann: Mitarbeiter müssen ihre Karriere wie Selbständige oraganisieren. Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen, dafür zu sorgen, daß er "beschäftigungsfähig bleibt".

CW: Wann wird es in der Bundesrepublik so weit sein?

Glissmann:Die arbeitsrechtliche Situation in der Bundesrepublik ist eine andere als in den USA. Anweisung von Arbeit jenseits der Job-Beschreibung - das geht normalerweise bei uns nicht.

CW: Die Menschen arbeiten doch freiwillig, denn sie fühlen sich als Unternehmer.

Glissmann: Das ist richtig. Die Mehrarbeit wird nicht vom Management angewiesen, sondern der Arbeitnehmer der Zukunft arbeitet wie von selbst ohne Ende. Das Mitarbeiterteam wird so unter Marktdruck gestellt, daß die Gruppenmitglieder diesen Druck unter sich weitergeben. Und da hilft auch kein Betriebsverfassungsgesetz.

CW: Was dann?

Glissmann: Für uns in Deutschland kommt es darauf an, zu verstehen, worum es bei dieser Dynamik geht, warum Menschen wie von selbst bis in die Nacht arbeiten, Erscheinungen, die es auch hierzulande bereits gibt.

CW: Kennen Sie aus eigener Erfahrung solche Situationen?

Glissmann: Als Betriebsrat habe ich Gespräche mit solchen "Unternehmern" geführt. Einerseits empfinden sie es als ganz wunderbar, ohne direkte Anweisung des Managements arbeiten zu können und einen großen Entscheidungsspielraum zu haben. Ebenso positiv wird die Erfahrung erlebt, geschäftlich etwas bewegen zu können und auf internationaler Ebene zu agieren. Gleichzeitig aber gehen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verloren und im privaten Umfeld treten Konflikte auf. Betroffene Mitarbeiter berichten von einer großen Ambivalenz ihrer Gefühle, von einem Schwanken zwischen den Extremen "ganz toll" und "ganz schlimm".

CW: Wie wollen Sie als Arbeitnehmervertreter diese neue Entwicklung mitgestalten?

Glissmann: Im Mittelpunkt der Überlegungen sollte es beispielsweise um folgende Fragen gehen:-Wie können Arbeitnehmervertreter verhindern, daß die Mitarbeiter alles Risiko aufgebürdet bekommen?

-Wie können sich Mitarbeiter über die beschriebene Dynamik untereinander verständigen und von sich aus Grenzen ziehen?

-Wie müssen Vereinbarungen aussehen, auf die sich Beschäftigte aus solchen Teams berufen können, wenn sie ihre Interessen durchsetzen wollen?