IT in der Prozessindustrie/Internationale ERP-Generalisten lassen Freiraum

Softwaremarkt: Viele Spezialisten bereichern die Prozessindustrie

19.05.2000
Die wichtigsten Branchenmessen, Anuga, Food Tec und Achema, haben den DV-Zielmarkt Prozessindustrie neuerdings wieder in den Mittelpunkt des Interesses rücken lassen. Warum die Uhren hier jetzt anders gehen, erläutert im folgenden Artikel Heinz Hessdorfer*.

Der Begriff "Prozessindustrie" ist nicht standardisiert und umfasst viele Einzelbranchen, die Stoffe produzieren, die sich während der Bearbeitung in ihrer Zusammensetzung und ihren Eigenschaften verändern. Zur Beschreibung dieser Prozesse werden Rezepturen verwendet.

Technologisch muss man zunächst zwischen kontinuierlichen Prozessen - zum Beispiel in der Petrochemie, der Erzeugung chemischer Grundstoffe (Großchemie), der Metallerzeugung, teilweise der Getränkeindustrie - und diskontinuierlichen, das heißt Batch-orientierten Prozessen unterscheiden.

Erstere sind durch einen hohen Automatisierungsgrad in der Produktion gekennzeichnet. Letztere lassen sich auch als Hybridfertiger bezeichnen; denn hier wird aus einem Ansatz (Batch), der als Prozess gefertigt wird, durch die Primärverpackung ein Stück. Für dieses Stück (Dose, Tube, Beutel, Glas, Ampulle, Folienhülle etc.) gelten dann bei der Weiterverarbeitung viele klassische Gesetze der Distribution und des Transports aus der Fertigungsindustrie, allerdings mit feinen, aber wesentlichen branchenspezifischen Eigenheiten:

-Die starke Betonung der Qualitätssicherung: Lebensmittelgesetze, EG-Verordnungen, Gefahrstoffverordnung, Umweltschutz etc. sind existenziell.

-Die Materialkosten dominieren deutlich die Bearbeitungskosten: Nicht nur aus Qualitätsgründen sind Produktionsplanung, Identifizierung, Verfolgung und Kostenkalkulation jeder Materialcharge inklusive Kuppel- und Nebenprodukte prägend für die Prozessfertiger.

-die Konsumgüternähe: Gelistete Sortimente, Aktions-/Saisonartikel, Sonderpreise, Werbekostenzuschüsse, Rabatte, Boni, Delcredere, Kunden-EAN-Auszeichnung etc. sind in der Warenwirtschaft typisch.

Im Rohstoffbereich werden unter anderem Produkte eingesetzt, die sich nicht nur durch einen Artikel- oder Materialschlüssel in ihrer genauen Ausprägung beschreiben lassen. Um diese Produkte genau charakterisieren zu können, sind weitere kennzeichnende Merkmale notwendig wie Form, Farbe, Geschmack, Konzentration, Qualität, Handelsklasse und ähnliche Charakteris-tika. Diese Attribute müssen durchgängig im Artikelstamm, in der Kostenrechnung, in der Lagerbestandsführung und in der Produktion beachtet werden.

Betrachtet man neben der Materialzusammenführung per Rezeptur auch die in der nebenstehenden Abbildung dargestellten vorgelagerten Materialbearbeitungsstufen, so werden bereits die Anforderungen sichtbar, die ein ERP-System für die Prozessindustrie zu lösen hat. Beachtet man darüber hinaus die zentrale Rolle des Schwundes der in einem erheblichen Maß von der Prozessführung, das heißt den eingestellten Prozessparametern und der Produktionsqualität abhängt, so werden die Strukturunterschiede zu den klassischen ERP-Systemen aus der Metallbearbeitung sichtbar.

Die Anforderungen der Prozessindustrie an ein ERP-System beschränken sich also nicht nur auf die Rezeptur, sondern ziehen sich quer durch alle Module.

Die Hälfte der Prozessfertigungsunternehmen hat weniger als 50 Mitarbeiter. Ein ERP-Einsatz ist allerdings primär für die anderen 50 Prozent - also für Betriebe mit mehr Beschäftigten - interessant. Davon gibt es in Deutschland rund 18000 in den Sektoren:

-Chemie (Grundchemikalien, Bauchemie, Klebstoffe, Kunststoffe),

-Farben und Lacke,

-Pharmazie und Kosmetik einschließlich Wasch- und Reinigungsmittel,

-Nahrungs- und Genussmittel einschließlich Getränken sowie

-Grundstoff-, Zement- und Baumittelindustrie.

Die ERP-Kennzeichen des MarktesDie Globalisierung und Unternehmenskonzentration begann in der Chemie- und Pharmaindustrie bereits Anfang der 90er Jahre. Auch wurden in der Folge international neue Produktionsbetriebe errichtet. Mit der Konsequenz, dass ihre Strukturen in der ERP-Software, also in der Produktionsplanung, über die Logistik bis hin zur Unternehmenskonsolidierung abgebildet werden müssen.

Nicht nur in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie sind die Handelsunternehmen die primären Auftraggeber. Viele Produktionsbetriebe sind Teil einer Handelskette beziehungsweise haben eigene Filialen und Fachmärkte. Die Dominanz des Handels zeigt sich in der Preisfindung, in der Auftragsbeziehung und der Distributionslogistik. Alles gute Voraussetzungen für den zukünftigen Supply-Chain-Einsatz.

Die Mess- und Automatisierungstechnik wächst zusehends mit der Informations- und Kommunikationstechnik zusammen. Wie obenstehende Abbildung zeigt, unterscheiden sich die Systemtypen Produktionsplanungs-, Produktionsleit- und Prozessleitsysteme im Wesentlichen durch ihre Planungshorizonte und durch die Reaktionszeiten auf Ereignisse des Produktionsablaufs.

Die dargestellte Dreistufigkeit wird es physikalisch wohl nur in mittleren oder Großbetrieben geben. In kleinen Betrieben wird das Produktionsleitsystem Aufgaben des Prozessleitsystems übernehmen müssen beziehungsweise werden auch Schnittstellen direkt vom ERP-System zu den Peripheriegeräten und Anlagen vorhanden sein. Diese Schnittstellen zur Dezentralisierung von Funktionen müssen jedoch im Grundkonzept der ERP-Software schon enthalten sein.

Wie die Messe Interkama im November 1999 und die bereits erwähnten Fachmessen zeigen, bietet die Lücke zwischen Prozessleitsystemen und kommerzieller DV noch erhebliche Automatisierungsreserven. Die innovativsten IT-Produkte entstehen genau dort, wo sich diese drei Technologiefelder überlappen. Übergeordnete Funktionen wie Optimierung der Prozessabläufe, Verbesserung der Qualität bis hin zur Verschmelzung der Prozessführung mit den verschiedenen Betriebs-Management-Funktionen bestimmen zusehends den Innovationsgrad zukünftiger Prozessleitsysteme.

Die Verfügbarkeit eines branchenspezifischen Produktionsleitsystems ermöglicht außerdem speziell in der Pharmazie einen weiteren wirtschaftlichen Lösungsweg: Der Validierungsaufwand lässt sich dadurch minimieren, dass man das ERP-System auf die reine Materialwirtschaft und Grobplanung reduziert und alle prozess-, produktions- und qualitätsbedingten Details dem validierten Produktionsleitsystem überlässt.

ERP in der Prozessindustrie ist heterogen, je nach Subbranche, das heißt, vielen vom Handel geprägten Unternehmen reicht ein erweitertes Warenwirtschaftssystem aus - die Rezepturen, die Produktionsplanung und -steuerung ist Aufgabe eines Subsystems.

Für komplexe, insbesondere für kontinuierliche Produktionsabläufe ist hingegen der internationale Rezepturstandard S88 zwingende Voraussetzung.

In weiten Bereichen dazwischen - zum Beispiel in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie - reichen einfache, auf das jeweilige Produktspektrum zugeschnittene Rezepturen (oder modifizierte S88-Rezepturen) und PPS-Strategien aus. Neben den internationalen ERP-Firmen sind auch viele Spezialisten in der Prozessindustrie tätig, wie die nachfolgende Kurzübersicht zeigt. Einige dieser Anbieter stellen auf der Anuga, der Food Tech oder der Achema aus.

*Heinz Hessdorfer ist Prokurist und Leiter des Branchenzentrums Prozessindustrie und Konsumgüterhandel bei der Evosoft Customer Care GmbH in Düsseldorf.

Sales TechCRM-AnbieterDa die Messen sich vor allem den Themen Automation und Produktion widmen, sind dort das Customer-Relationship-Management (CRM) und E-Business eher zweitrangig. Für dieses Marktsegment findet zeitgleich am 24. und 25. Mai in Wiesbaden die Sales Tech statt. Auch hier sind die Branchenausprägungen sichtbar, und es zeigen sich neben den Spezialisten die Generalisten. Zur letztgenannten Kategorie zählt CRM-Primus Siebel, der jetzt auch in Deutschland mit dem Vertrieb seiner Lösungen für die Prozessindustrie, "E-Pharma" und "E-Customer Goods", begonnen hat.

Firmen und Produkte-Agmadata, Nikolausdorf, ist wie PP Soft, Berlin und Sema, Paderborn, Spezialist in der Fleischwarenindustrie.

-Command, Ettlingen, mit dem SAP-Branchen-Add-on Pharmasprint und Foodsprint,

-Copa, Wesel, mit dem SAP-Addon für die Getränkeindustrie,

-CSB, Geilenkirchen, Marktführer in der Fleischwarenindustrie, heute in weiten Bereichen in der mittelständischen Prozessindustrie tätig,

-GUS, Köln,

-Intentia, Hilden,

-J.D. Edwards, Langen,

-JBA-Ratioplan, Villingen-Schwenningen,

-Marcam, Düsseldorf,

-Ordat, Gießen,

-Orga-Soft, Mainz,

-QAD, Willich, international tätig in der Prozessindustrie,

-RSW-Orga, Mönchengladbach, Spezialist für die Lackindustrie,

-SAP, vertreten auf der FoodTec durch den Partner Command beziehungsweise UB Weihenstephan. Auf der Achema mit eigenem Stand beziehungsweise vertreten durch die Partner Siemens und TDS. Nachdem fast überall zunächst die betriebswirtschaftlichen Module mit Erfolg eingeführt wurden, kommt jetzt zunehmend auch PP-PI zum Einsatz.

-Softmatic, Norderstedt, früher bekannt als Datarat mit dem Comet-Addon "Blending",

-SSA, Ratingen,

-SWT, Bensheim, wendet sich an kleine und mittlere Kosmetikhersteller,

-TDS, Heilbronn, SAP-Outsorcer in der Prozessindustrie,

-Team, Paderborn, mit "Proplan" auf Oracle-Basis,

-Unternehmensberatung Weihenstephan, SAP-Spezialist für Brauereien.

(Diese Liste bietet nur einen ungefähren Überblick.)

Abb.1: Materialbearbeitung

Strukturunterschiede zu klassischen ERP-Systemen werden deutlich. Quelle: Hessdörfer

Abb.2: Softwarehierarchie

Die Systemtypen unterscheiden sich im Wesentlichen durch ihre Planungshorizonte und Reaktionszeiten. Quelle: Hessdörfer