"So-nebenbei-Seminare" sind endgültig out

27.04.1990

Peter W. Karg, Geschäftsführer der p.i.t.-Organisationsberatung, Berlin

Neue Technologien und deren effektive Nutzung führen in den Unternehmen zu einer völlig neuen Situation. Wurden früher Mitarbeiter überfallartig mit dem technischen Wandel im Betrieb und den damit verbundenen organisatorischen Veränderungen konfrontiert, so greift diese Strategie heute - glücklicherweise - immer seltener Platz. Ein solches Vorgehen verhindert oftmals sogar die Rückkehr zum vorherigen Produktivitätsniveau.

Erforderlich ist bei der Einführung neuer beziehungsweise erneuerter Technologien ein umfassender und komplexer Prozeß der Reorganisation, der nicht mehr vom Management und den Experten allein zu leisten ist. Die notwendigen Org.-Ware-Vorarbeiten sind allein dadurch zu bewältigen, daß alle davon Betroffenen bei der Planung und Gestaltung repräsentiert sind und ihr jeweiliges Know-how-Segment genutzt wird, um Hard- und Software anforderungsgerecht einzusetzen. Sie müssen in der Lage sein, sich mit den hierarchisch höhergestellten Experten zusammenzusetzen und die eigene Sicht ihrer Arbeitssituation und deren organisatorische Schwachstellen zu artikulieren.

Durch die neuen Technologien verändern sich die Qualifikationserwartungen an die Mitarbeiter. Unter dem Stichwort extrafunktionale Qualifikationen oder auch überfachliche Qualifikationen werden eine Reihe von Anforderungen verstanden, die für die Zusammenarbeit unverzichtbar sind. Hierzu zählen Verantwortungsbewußtsein, Kooperationsbereitschaft, Urteilsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und die Bereitschaft, von- und miteinander zu lernen. Neue Technologien setzen nicht nur mehr Fachkompetenz voraus, sondern auch Selbst- und Sozialkompetenz. Nicht mehr neu ist auch die Erkenntnis, daß neben der Bereitschaft zur fachlichen Weiterbildung die generelle Fähigkeit, zu lernen und Neues aufzunehmen, gefordert ist.

Damit stehen Unternehmen vor der Aufgabe, die Mitarbeiter zielgerichtet und systematisch auf die damit verbundenen Veränderungen und Anforderungen vorzubereiten. Es entsteht ein Qualifikations- und Weiterbildungsbedarf, der - und dies ist von besonderer Bedeutung - die unteren und höheren Hierarchieebenen in unterschiedlicher Art betrifft.

Den veränderten Anforderungen an das Management und die Mitarbeiter stehen jedoch häufig die betrieblichen Realitäten gegenüber. Die Einführung neuer Technologien wird oftmals noch ohne die Beteiligung der davon Betroffenen von Experten geplant und gestaltet. Vielfach geschieht dies einerseits aufgrund der Unsicherheit des Managements, das wegen fehlender Erfahrungen mit Implementationsprozessen die Vorteile einer kooperativen Beteilung unterschätzt. Zum anderen wiegt die selbstsicher vorgetragene Techniksprache die Verantwortlichen in vermeintlicher Sicherheit. Beim Anwender führt dies zu Akzeptanzproblemen, Mißtrauen und offenem oder verdecktem Widerstand.

Es zeigt sich allerdings auch, daß gerade Mitarbeiter der unteren Hierarchieebenen Schwierigkeiten bei der Aneignung oder Rekultivierung der erforderlichen Kompetenzbereiche haben. Vielfach ist ihnen die positive Einstellung zum Lernen und die Weiterbildungsfähigkeit im Laufe des Arbeitslebens verschüttgegangen. Damit ist meistens das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und vor allem in die eigene Lernfähigkeit an der Oberfläche verschwunden. Als Konsequenz wird eher Angst aufgebaut.

Unternehmen stellt sich somit das Problem, die für die neuen Technologien erforderlichen fachlichen und insbesondere außerfachlichen Qualifikationen ihren Mitarbeitern zu vermitteln und vorab die motivationalen Grundlagen für den notwendigen Lernprozeß zu schaffen.

Damit ändern sich auch die Erwartungen und Anforderungen an Trainer und Vorgesetzte. Weiterbildung, die nicht mehr nur die reaktive Anpassung des Personals an den technischen Wandel zum Ziel hat, setzt die Entwicklung der Persönlichkeit der Mitarbeiter voraus. Persönlichkeitstrainings - früher ausschließlich für Führungskräfte bestimmt - müssen heute ebenso in das Weiterbildungsprogramm für alle Belegschaftsgruppen integriert werden.

Deutlich wird auch, daß Aus- und Weiterbildungsprogramme der Unternehmen stärker professionalisiert werden müssen, und zwar sowohl hinsichtlich der Seminarinhalte als auch hinsichtlich der Trainer.

Der Ingenieur, der an die Überlegenheit einer fachdidaktischen Vermittlungsweise glaubt, andere Lernformen ausschließt und so nebenbei Seminare im Unternehmen abhält, ist out.

Die Ansatzpunkte für die Konzeption geeigneter Bildungsmaßnahmen werden deutlich:

1) Lernen als positiven Lebenswert zu begreifen ist ein wesentliches Anliegen dieser Trainings.

2) Eine positive Lernbereitschaft ist die Voraussetzung, um das aktive Interesse an fachlichen Inhalten zu wecken.

3) Nur motivierte, mit einer individuellen Lerngeschichte versehene Mitarbeiter werden die neuen Technologien annehmen und damit sinnvoll arbeiten.

4) Die Förderung des Selbstvertrauens steigert die persönliche Entwicklungsfähigkeit und erleichtert den marktnahen, betrieblichen Wandel.

Persönlichkeitsfördernde Seminare bieten die Möglichkeit, die erforderlichen Kompetenzfelder zu entwickeln. Im Mittelpunkt steht die Stärkung des Selbstvertrauens und die Unterstützung der Artikulationsfähigkeit zum Beispiel in entsprechend aufgebauten Rhetorikseminaren. Es handelt sich somit nicht allein um die Steigerung der sozialen Kompetenz, sondern um eine ganzheitlich angelegte Persönlichkeits- und Bewußtseinsbildung, die den Menschen ernst nimmt.

In der Praxis hat sich hier das Seminarkonzept bewährt, das an den Stärken der Teilnehmer ansetzt und diese systematisch und personengerecht ausbaut. Dies geschieht aus der Erfahrung, daß sich Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein aufgrund der Kenntnis über die eigenen Stärken und deren Unterstützung, nicht aber aufgrund der Kenntnis über die persönlichen Schwächen und Defizite entwickeln. Um die eigenen Anlagen im Training sowie in der anregend gestalteten Arbeit auszubauen und die Gefahr der Selbstüberschätzung zu vermeiden, gehört auch die Förderung eines realistischen Selbstbildes und die Einschätzung der eigenen Grenzen dazu. Die Mitarbeiter werden mit solchen Trainings in die Lage versetzt, im betrieblichen Alltag eigene Ideen und Problemlösungen zu entwickeln, diese - auch vor Experten - zu artikulieren und zu vertreten sowie Lernen als Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung zu akzeptieren. Gleichzeitig wächst durch das Selbstbewußtsein die persönliche Fähigkeit, Kompromisse eingehen zu können.

Die Notwendigkeit einer veränderten Weiterbildung und der daraus entstehende Handlungsbedarf für Unternehmen sind offensichtlich geworden. Offensichtlich sind auch die Vorteile, die sich daraus für Unternehmen ergeben. Qualifizierte und motivierte Mitarbeiter können den betrieblichen Wandel, sei er nun technologisch oder marktlich verursacht, selbstbewußt und kompetent unterstützen und bringen darüber hinaus die erforderliche Flexibilität beim Prozeß der Reorganisation mit. Die gesamthafte Nutzung persönlicher und fachlicher Kompetenz führt zu einer effizienten Anwendung der neuen Technologien, wenn diese im Rahmen eines geplanten Beteiligungsprozesses eingebracht werden. Den rechtlichen Rahmen hierfür bietet das zum 1. Januar 1989 überarbeitete BetrVG. Ein derartiges Vorgehen sichert die erforderliche organisatorische und technische Akzeptanz, fördert die Zusammenarbeit zwischen Experten und Mitarbeitern und führt so zu praxisgerechten Problemlösungen.