So finden Mittelständler das richtige ERP-System

26.01.2012
Die Auswahl einer ERP-Software ist komplex. Oft gilt es abzuwägen zwischen Flexibilität und Funktionalität. Hier ein paar Tipps für die Grundsatzentscheidung.

Der Einsatz von ERP-Software zur Unterstützung der Geschäftsprozesse ist heute in der Regel Standard. Allerdings tun sich mittelständische Unternehmen mit der Auswahl einer geeigneten Lösung oft schwer, weil dieser Prozess nicht zum Tagesgeschäft zählt und Nachfolgesysteme im Mittel erst nach knapp 15 Jahren angeschafft werden. Daher verwundert es nicht, dass viele Betriebe mit dem ERP-Auswahlverfahren und den damit verbundenen Entscheidungen so ihre Schwierigkeiten haben.

Neben der Komplexität, der Tragweite der Aufgabenstellung sowie dem sehr unübersichtlichen ERP-Marktangebot macht vor allem ein Umstand den Suchenden das Leben schwer: Alles auf einmal gibt es nicht, auch wenn die Hersteller tief in die Marketing-Trickkiste greifen, um genau dies zu suggerieren. Die berühmte "eierlegende Wollmilchsau", die alle Anforderungen erfüllt, ist nach wie vor nicht in Sicht.

Tatsächlich ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, dass sich bei ERP-Software bestimmte Eigenschaften und Ausprägungen zum Teil gegenseitig ausschließen. Daher kommt es vor, dass Anwenderunternehmen ihre Erwartungen mitten im ERP-Auswahlprozess nach unten korrigieren oder das Anforderungsprofil komplett neu definieren müssen. Abgesehen von den Verzögerungen, die in einem solchen Fall entstehen, kann auch die Ernüchterung im Team den weiteren Projektverlauf nachhaltig beeinträchtigen.

Zugeständnisse sind unvermeidlich

Aber in welchem Ausmaß muss sich ein Unternehmen auf der Suche nach einer geeigneten Business-Software eigentlich auf Kompromisse einlassen? Neben den Bereichen Technik, Architektur und Betreibermodell sind es insbesondere die Software- und Anbietereigenschaften, die intensive und weitreichende Abwägungen vom Projektteam verlangen. Hier lassen sich unter anderem die folgenden Zusammenhänge beziehungsweise Gegensatzpaare aufzeigen:

- Flexibilität/Anpassbarkeit versus Funktionsumfang;

- Ergonomie/Benutzerführung versus Funktionsumfang;

- Typ der Standardsoftware: Generalisten- versus Spezialistensystem;

- Anbieter: Global Player versus Nischenanbieter.

Die Ausprägungen lassen sich nicht immer beliebig kombinieren. Das gilt beispielsweise für die Forderungen nach funktionaler Eignung (im Standard) und Flexibilität der Software. Beide gehören laut aktuellen Studien zu den wichtigsten Aspekten für die Auswahl einer neuen ERP-Lösung. (siehe nebenstehende Grafik).

Ein umfangreiches und ausgefeiltes Funktionsangebot basiert auf langjähriger Erfahrung. Die Ausgestaltung und Optimierung der Funktionen, auf welcher technologischen Grundlage auch immer, erfordern allerdings Aufwand. Deshalb benötigen die Anbieter Zeit, um eine weitreichende funktionale Unterstützung in den ERP-Produkten umzusetzen.

Von daher überrascht es also nicht, dass viele ERP-Systeme, die ein besonders umfangreiches und ausgereiftes Funktionsangebot im Standard aufweisen, im Kern auf einer älteren Softwaretechnologie basieren. Die wenigsten Hersteller schaffen es, ein neues ERP-System mit voller Funktionalität auf denMarkt zu bringen und vom Kern bis zur Oberfläche auf eine moderne technische Grundlage zu stellen. In vielen Fällen wäre ein solcher Versuch wegen des zu erwartenden Aufwands sowie der Risiken auch weder verantwortlich noch wirtschaftlich. Ausgereifte Funktionen finden sich demzufolge eher bei "reiferen" Systemen.

Junge oder alte Software?

Welchen Einfluss hat dieser Umstand nun auf die Flexibilität der Software? Letztere hängt im Wesentlichen von den ERP-Konzepten ab, also von den zugrunde liegenden Techniken und Systemarchitekturen. Darüber hinaus spielen Betreibermodelle sowie die Verfügbarkeit geeigneter Anpassungswerkzeuge für Administratoren und Anwender eine wichtige Rolle.

Im Allgemeinen lassen sich die technische und die architektonische Basis für eine hohe Flexibilität der ERP-Software auf jüngere Gestaltungskonzepte wie Plattformunabhängigkeit, Collaboration, Prozess- und Serviceorientierung zurückführen. Welche Freiheiten bei der Anpassung an individuelle Anforderungen und Prozesse bestehen, ergibt sich also in besonderem Maße aus der zugrunde liegenden Technologie. Hier haben Systeme mit einem geringeren Alter meist die Nase vorn. Auch der Folgeaufwand von Anpassungen bei Updates und Release-Wechseln ist an dieser Stelle zu berücksichtigen. Heutzutage müssen Anwenderunternehmen also mit der Tatsache leben, dass sehr flexible Systeme in der Regel kein so umfassendes Funktionsspektrum anbieten, wohingegen Produkte mit sehr ausgereiftem Funktionskatalog zu einer eher geringeren Flexibilität neigen.

Ausbaufähigkeit heißt Komplexität

Ähnliche Zusammenhänge finden sich auch in den anderen aufgezählten Entscheidungsdimensionen. So beispielsweise bei dem Gegensatzpaar Ergonomie/Benutzerführung und Funktionsumfang. Neueste ergonomische Konzepte zur Benutzerführung sind in älteren Systemen meist noch nicht umgesetzt.

Wie verhält es sich mit dem Pärchen Generalist und Spezialist? Spezialisierte Software ist meist schlanker und zeichnet sich in der Regel durch geringere inhärente Komplexität aus. Sie bietet damit die Möglichkeit, Aufwand und Kosten der Implementierung gering zu halten. Die Ausbaufähigkeit der Lösung über zusätzliche Module ist aber deutlich eingeschränkt.

Und was ist mit Global Player versus Nischenanbieter? Hoch spezialisierte Anbieter können aufgrund des kleineren Kundenstamms eine persönlichere Betreuung anbieten und glänzen darüber hinaus nicht selten mit umfangreicher Kenntnis der speziellen Anforderungen einer Branche oder eines Fachbereichs. Allerdings sind ihre Möglichkeiten eingeschränkt, wenn es darum geht, internationale Projekte zu bedienen. Oder sie bieten nicht dieselbe Sicherheit gegen einen Herstellerausfall wie die globalen Softwarekonzerne.

Flankierende Maßnahmen

Wie aber sollen die Entscheider in mittelständischen Unternehmen mit diesen Risiken umgehen? Damit, dass sie mit Kompromissen leben müssen, dass die abzuwägenden Anforderungskriterien nicht immer gut zu operationalisieren sind und dass sich der Markt ausgesprochen unübersichtlich darstellt? Im Wesentlichen müssen die Unternehmen den bewährten Ansatz einer systematischen, stufenweisen Vorgehensweise zur Auswahl eines geeigneten ERP-Systems mit flankierenden Maßnahmen begleiten. Dazu zählen:

- frühzeitiges Ausloten der Auswirkung von strategischen Vorgaben auf die beschriebenen Entscheidungsdimensionen. Das Ziel heißt: wesentliche Entscheidungsträger informieren und für Trade-off-Entscheidungen sensibilisieren;

- Prüfen der erarbeiteten Zielsetzungen und K.o.-Kriterien auf gegenseitige Unverträglichkeit sowie Abstimmen der Prioritäten;

- Marktrecherche auf möglichst breiter Basis, damit der vorhandene Angebots- und Auswahlspielraum auch genutzt werden kann;

- Abstimmen einer Vorgehensweise zur Bewertung von schwer operationalisierbaren Ausprägungen, zum Beispiel durch Demonstrationen und Tests oder Gespräche mit Referenzkunden;

- Sichern von Rückfalloptionen, zum Beispiel durch nachträgliches Erweitern des Favoritenkreises.

In Summe fordern die Maßnahmen der Projektleitung einiges ab. Es ist viel Überzeugungsarbeit zu leisten; zusätzliche Planungs- und Abstimmungsumfänge müssen einbezogen und abgearbeitet werden. Vor dem Hintergrund des beträchtlichen Investitionsrisikos und der Tragweite der Entscheidung lohnt sich der Aufwand für eine gezielte Vorgehensweise allerdings. (pg)