Simulieren statt experimentieren

09.08.2005
Von Nikolai Sklarzik
Wie lassen sich neue Prozesse entwickeln, ohne die Klinik zum Experimentierfeld und den Patienten zum Versuchsobjekt zu degradieren? Eine Antwort könnten Simulations- und Visualisierungsprogramme geben.

Fallkostenpauschalen (Diagnosis Related Groups = DRGs) und andere Veränderungen im Gesundheitssystem bringen die Kliniken unter enormen Anpassungsdruck. Experten schätzen, dass über 20 Prozent der Krankenhäuser nicht in der Lage sein werden, auf Basis der neuen Abrechnungsvorschriften wirtschaftlich zu arbeiten. Viele der übrigen Kliniken werden nur mit gravierenden Änderungen in Angebot und Organisation überleben. Zwar wissen die meisten Mediziner das sehr wohl, doch geben sie zu bedenken: Neue Abläufe müssen sorgfältig bedacht werden, weil jede Störung ein Risiko für die Gesundheit der Patienten darstellt.

Hier lesen Sie …

• was die Krankenhäuser von der Industrie lernen können;

• wie sich medizinische Abläufe planen und testen lassen;

• wie sich der Arbeitsalltag des Klinikpersonals ver- ändert;

• was Patienten von effizienteren Prozessen in der Klinik haben.

Ähnliche Herausforderungen finden sich in der Industrie: Auch hier verbieten komplexe Fertigungsprozesse ein unbedachtes Experimentieren. Als Lösung wurden Simulations- und Visualisierungswerkzeuge entwickelt, die bei der systematischen Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten helfen. Wirkzusammenhänge lassen sich darstellen und untersuchen, Entscheidungsparameter können ohne Risiko virtuell variiert werden. Heutzutage werden komplette Fabriken inklusive Logistik- und Produktionsabläufen im Computer geplant und optimiert - lange Zeit, bevor man mit dem Auf- oder Umbau beginnt.

Die Firma Edag setzt derartige Programme im Rahmen von Beratungsdienstleistungen seit Jahren als begleitendes Werkzeug für die Prozessoptimierung ein. Im Gespräch mit Ärzten und Klinik-Managern entstand die Idee, diese Methodik auf den Einsatz im medizinischen Bereich zu adaptieren. Mit dem Herzzentrum in Lahr und der Leopoldina in Schweinfurt fand das Unternehmen Klinikpartner, die diesen innovativen Ansatz in der Praxis einführen wollten. "Wir finden die Transferidee einfach gut, denn sie gibt uns die Möglichkeit, mit Daten zu testen, ohne den Klinikalltag sofort verändern zu müssen", berichtet Peter Kraemer, Leiter des Simulationsprojekts im Herzzentrum Lahr.

Den Status quo variieren

In der Schweinfurter Leopoldina nutzen das Ärzteteam um Hubert Seggewiß und das Klinik-Management unter Adrian Schmuker die Software, um Abläufe im Herzkatheterlabor zu optimieren. Das Jahresaufkommen liegt im Leopoldina bei knapp 3500 Untersuchungen. Schmuker zufolge sei das Vorgehen "eigentlich ganz einfach": Es werde ein Modell der existierenden Abläufe entwickelt und abgebildet, das mit den realen Zeiten und Daten zunächst einfach den Status quo darstellt. Danach könne man die Abläufe variieren und das Ergebnis dieser Veränderungen simulieren.

Die Erstellung des Modells barg viele überraschende Erkenntnisse, berichtet Seggewiß. Klinik-Manager Schmuker ergänzt, dass die Simulation den Medizinern helfe, Prozesse abteilungsübergreifend und aus Patientensicht zu erfassen. Auf der anderen Seite begreift das Management mehr medizinische Details. Bei Gesprächen über mögliche Veränderungen liegen durch die Simulationen jetzt die Fakten auf dem Tisch, und die Gesamtsituation wird für alle transparenter.

In der Leopoldina war zunächst an die Erweiterung der OP-Kapazitäten gedacht worden. Die Simulation aber führte zu ganz anderen Ergebnissen und deckte versteckte Potenziale für Verbesserungen auf: "Als Mediziner konnte ich lernen, dass Medizin wesentlich planbarer als gedacht ist. Heute bewältigen wir mehr Untersuchungen und Operationen, und trotzdem kann ich an 90 Prozent der Tage richtig vorhersagen, wann mein OP-Tag endet", beschreibt Seggewiß den Unterschied zu früheren Zeiten. Ein Grund: Die Simulationen zeigen den Ärzten heute sehr viel genauer, welche Befunde zu welchen OP-Belegungszeiten führen.

Die Mitarbeiter erkennen die Leistungsfähigkeit einzelner Untersuchungsstationen und bestellen Patienten inzwischen oft später, statt sie warten zu lassen. Auch Dienstpläne zwischen Stationen wurden harmonisiert. Ein anderes konkretes Ergebnis: Die Ultraschalluntersuchungen wurden als "Flaschenhals" identifiziert. Durchgängig mit einer Mitarbeiterin besetzte Geräte erhöhten die Effizienz und Auslastung in allen nachfolgenden Abteilungen und Prozessen - erst in der Simulation, inzwischen in der Realität. "Weil die Prozesse transparenter sind, wird heute ruhiger, strukturierter und effizienter gearbeitet", berichtet Manager Schmuker. Dabei gehe es nicht nur um Kosten: Patienten äußern sich angesichts kürzerer Wartezeiten positiv, und die Arbeitszufriedenheit bei Ärzten und dem Klinikpersonal ist gestiegen - bei gleichzeitig höherer Auslastung.

Ähnlich gelagert sind die Probleme im Herzzentrum Lahr: Wie muss seitens der Geschäftsführung ein Verweildauer-Management vorgegeben werden, um künftig wirtschaftlich arbeiten zu können? Welche Auswirkungen haben diese Maßnahmen auf die Bereitstellung von Operationssälen, Intensiv- und Normalbetten und den Komfort der Patienten?

OP- und Liegezeiten planen

Viele Patienten werden aus anderen Kliniken in das Herzzentrum verlegt, was es ermöglicht, ihre Ankunftszeiten zu planen. Doch die OP- und Liegezeiten schwanken erheblich, weil eine große Bandbreite an unterschiedlichen Befunden behandelt wird, berichtet Kraemer, der das Simulationsprojekt im Herzzentrum Lahr leitet. Hier liegt eine der großen Stärken der Edag-Anwendung: Es werden keine einfachen Durchschnittswerte der Daten herangezogen, sondern eine Verteilung individueller Fälle. Dadurch lässt sich berechnen, wie sich die Konzentration auf eine Behandlung komplexer Befunde auf die Vorbereitungs-, OP- und Liegezeiten auswirkt.

In einem ersten Schritt wurde im Herzzentrum Lahr das Hauptaugenmerk auf die Auslastung der Operationssäle und das Verweildauer-Management gelegt. Dabei sollte die OP-Kapazität beziehungsweise die Anzahl der OP-Säle reduziert werden, ohne die notwendige Frequenz von Herzoperationen zu senken. Würden die verbliebenen Operationssäle besser ausgelastet, ließen sich vorhandene personelle Ressourcen auch besser nutzen. Zudem ging es um die Frage, wie aus rein wirtschaftlicher Sicht die optimale Auslastung der Herzchirurgie durch die Patienten aussieht. Dabei dürfen ökonomische Aspekte keinesfalls zu einer schlechteren medizinischen Versorgung führen.

Transparente Vorgänge

Erste konkrete Ergebnisse lieferten schon die Arbeiten zur Validierung des Modells. Die Vorgänge im Herzzentrum sind transparenter geworden: Unter der stringenten Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben stellten sich die Intensivbetten - und nicht die OP-Kapazitäten - als Engpass heraus. Das Ergebnis hat eine entscheidende Bedeutung für die Investitionsplanung: "Mit der Software können wir unsere Investitionen simulieren und priorisieren", formuliert Kraemer einen Vorteil. Zudem sei es wünschenswert, gemeinsam mit der Edag eine Vorgehensweise zu entwickeln, in der das Klinikpersonal selbst Szenarien durchspielen und prüfen kann.

Sowohl in der Leopoldina als auch in Lahr gab es einige Hürden zu überwinden: Immerhin werde in die ureigensten Organisationsabläufe der Klinikärzte eingegriffen, erklärt Kraemer. Auch Herzspezialist Seggewiß bestätigt, dass alle Beteiligten eine gewisse Offenheit mitbringen müssten. Dies setze auch voraus, verstärkt patientenorientiert und abteilungsübergreifend zu denken. Letztlich sollten auch die Softwareanbieter verinnerlichen, dass in Kliniken das Wohl des Patienten im Mittelpunkt steht. Wenn dies gegeben sei, so Seggewiß, "kann der Transfer von Planungs- und Simulationswerkzeugen von der Industrie auf die Kliniken sehr sinnvoll sein". (ajf)