Ringen um mehr Privatleben

26.06.2001
Von Kathi Seefeld
Rund um die Uhr Arbeiten ist passé. Freizeit, Freunde und Familie gewinnen für Mitarbeiter und Chefs in jungen IT-Unternehmen an Bedeutung.

Sonne satt meldet der Himmel über Berlin. Thomas Simmons, Vorstandsvorsitzender der Novaville AG, lässt einen letzten Blick über die Flure streifen. Dann steigt er in den Fahrstuhl, fährt in die Tiefgarage und setzt sich ins Auto. Es ist Dienstag, und er hat Feierabend. Knapp vor halb acht. Er setzt sich die Sonnenbrille auf die Nase. “Für den Döner” sei leider keine Zeit mehr. Simmons fährt zur Bandprobe.

Seit ”fünf, vielleicht sieben” Jahren spielt der studierte Physiker E-Gitarre, singt ein bisschen, nicht besonders gut, einfach nur zum Spaß. Immer dienstags, immer um acht. Natürlich habe es Ausnahmen gegeben, seit seine Tochter auf der Welt ist, und auch seit er mit Christian Semmler und Jürgen Herbold 1998 Novaville gegründet hat. Mit dem Angebot der personalisierten, interaktionsfähigen Werbung im Web wurden besonders in den vergangenen Monaten ”tiefe Täler” durchschritten.

Die Katerstimmung des Neuen Marktes, so Unternehmenssprecherin Elke Kimmel, verprellte Ende 2000 potenzielle Investoren. Doch im Gegensatz zu manch anderem jungen B-to-B-Dienstleister hat Novaville nicht nur überlebt, sondern konnte sich stabilisieren. Keiner der 25 Mitarbeiter musste gehen – oder wollte es.

”Wir haben uns bewusst von der in Berlin konzentrierten Startup-Szene distanziert”, erklärt Kimmel. Novaville hat sich nach günstigen Büroräume umgeschaut und ”kein Wachstum auf Teufel komm raus” angestrebt. Vor allem aber sei es bei Novaville nie Selbstverständnis gewesen, Nächte durchzuarbeiten oder jede freie Minute mit dem gesamten Team zu verbringen. ”Wir haben Mitarbeiter, die fangen morgens zeitiger an, weil sie Kinder haben, und sind spätestens 17 Uhr hier verschwunden”, erzählt Elke Kimmel. Chef Thomas hat abgefärbt: Einer, der während der Arbeitszeit alles abverlangt, aber gleichzeitig bestes Beispiel dafür ist, dass Arbeit im Leben eines Menschen nicht alles sein kann.

Diese Einstellung, die bei Novaville dazu beitrug, Krisen zu meistern, beginnt sich in so manchem jungen IT-Unternehmen gerade erst durchzusetzen. Mitarbeiter erkennen, dass ihr Work-Life-Gleichgewicht erheblich aus den Fugen geraten ist. Eine ehemalige Projektleiterin des Multimediadienstleisters Cell Network Germany beschrieb ihre Situation auf einer After-Work-Party. ”Ich habe binnen zweier Jahre alle meine Freunde verloren, mein Studium völlig vernachlässigt, gearbeitet für drei.” Nicht, dass ihr die Arbeit nicht Spaß gemacht hätte oder sie massiv zur Übernahme von Aufgaben gedrängt worden wäre.

”Doch es wurde irgendwie immer mehr. Anfangs blieb man länger, weil ein Projekt durchgezogen werden musste, und kam dafür den nächsten Tag mal nicht zur Arbeit.” Später sei sie nur noch länger am Rechner gesessen, die ganze Woche hindurch. ”Wenn ich doch mal abends frei hatte, ging ich mit Kollegen Cocktails trinken. Da redeten wir auch nur über die Projekte. Eines Tages hatte ich das Gefühl, ein Hamster im Laufrad zu sein.”

So weit muss es nicht kommen. Bei aller Freude im Job spielen nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts Gewis 72 Prozent der Deutschen mit dem Gedanken, einmal eine extensive Auszeit zu nehmen. Denn Anzeichen von temporärer Arbeitsunlust treffen faktisch jeden. Wer viel arbeitet, hat irgendwann das Gefühl, andere Dinge, seine Freunde oder Familie zu vernachlässigen. Materielle Anreize zählen dann nicht mehr.

Vom Verstand her wissen fast alle Beschäftigten in der IT-Branche, dass ihre Arbeitskraft viel wert ist. Niemand will sich gern verschleißen, Symptome von Stress oder gar einen Burnout riskieren. Gerade wer "entflamme", könne auch "ausbrennen". Wird nicht Vorsorge getroffen, sind Gefühle von Leere, Sinnlosigkeit, Überforderung und Erschöpfung programmiert. ”Die Überstunden, die nicht nur in der New Economy um sich greifen, sitzt niemand auf der Arschbacke ab”, konstatierte der Berliner Gewerkschafter Matthias von Fintel unlängst in einem Interview.

So wächst in den Unternehmen die Zahl derjenigen, die zwischendurch mal eine Pause zum Auftanken einlegen wollen. In den USA ist es bereits üblich in den Büros ein kleines Nickerchen einzulegen: Power Napping – ein erholsames Viertelstündchen Schlaf im Büro, so Peter Wippermann vom Hamburger Trendbüro, sei der neue Trend zur Leistungs- und Gesundheitsförderung in Unternehmen, der auch in Deutschland Einzug halten könnte. Laut Emnid träumt immerhin jeder Dritte hierzulande von einer Siesta.

Ein unlängst in Berlin im Zusammenhang mit einem Theaterprojekt eingerichteter Schlafsaal bescherte den Künstlern Hunderte Mittagsruhe-Bedürftiger aus den umliegenden Büros der New Economy. Mit einem selbstbewussten ”Ich bleibe morgen zu Hause” nach Abschluss eines Projektes oder einer 60-Stunden-Arbeitswoche ist es allerdings meist nicht getan. Erst längere Auszeiten zahlen sich aus. ”Helikopter-Effekt” nennt dies Manfred Becker, Professor für Personalwirtschaftslehre an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Wer sich einen Langzeiturlaub gönne, kehre erfrischt mit neuen Ansichten zurück.

Große Unternehmen wie VW, Siemens, BMW oder Hewlett-Packard bieten ihren Mitarbeitern inzwischen Sabbaticals, also den Ausstieg auf Zeit, in verschiedensten Formen an. Überstunden oder Urlaubsansprüche können angespart werden, auch unbezahlte Auszeiten sind möglich.

Nach Erhebungen der Berliner Arbeitszeitberater Dr. Hoff, Weidinger & Partner teilen bereits mehr als zehn Prozent aller Firmen die Erkenntnis der Projektgruppe für betriebswirtschaftliche Studien München, wonach sich Freistellungen vom Job für einen längeren Zeitraum positiv auf das Betriebsklima auswirken. Gerade in jungen IT-Unternehmen hatte sich lange Zeit der Glaube gehalten, dass derjenige, der eine Auszeit nimmt, noch stärker als in anderen Bereichen damit rechnen müsse, dass ihm die Entwicklungen davoneilen.

Inzwischen sind viele schlauer. Die Electronic Arts GmbH in Aachen wirbt bei der Mitarbeitersuche offensiv mit Benefits wie Sabbaticals. Auch Sabine Koke, Personalleiterin der Sinner Schrader AG, berichtet, dass in ihrer Agentur mehrmonatige Auszeiten im Job diskutiert würden, um neue Motivationen zu wecken oder die Lebensentwürfe der Mitarbeiter zu unterstützen.

Dabei ist die Idee der Sabbatjahre keine Entdeckung des Internet-Zeitalters. Bereits in den 60er-Jahren erfanden amerikanische Hochschulprofessoren die Auszeiten für vorlesungsfreie Forschungssemester. In den 70er-Jahren war auch in Deutschland die Gestaltung der Arbeit im Interesse von Qualifikation und Persönlichkeitsförderung Gegenstand vieler Forschungsvorhaben zur ”Humanisierung der Arbeit”.

Doch erst die chronische Knappheit von Fach- und Führungskräften hat Firmenchefs für die vom Unternehmen gebilligten Langzeiturlaube mit Weiterbeschäftigungsgarantie geöffnet.

Wer gute Mitarbeiter hat, kann es sich nicht leisten, dass sie eines Tages ausfallen oder kündigen. EineVielzahl von Unternehmen wertet Sabbaticals als Pluspunkt im Lebenslauf von Mitarbeitern. Mit den Vorstellungen von der Arbeitszeit haben sich auch die Ansichten in Sachen Karriere gewandelt. Karriere, so Jürgen Fuchs, Mitglied der Geschäftsleitung der CSC Ploenzke Unternehmensberatung, bedeute schließlich bildlich gesprochen, nicht ”Höhe”, sondern ”Fläche” gewinnen.

Statt ”Spezialisten” sind zunehmend ”professionelle Generalisten” gefragt – Leute, die sich auskennen in der Welt, die es genießen können, eine Zeitlang mit Freunden oder der Familie zuzubringen und aus außergewöhnlichen Tätigkeiten neue Kraft schöpfen.

Einen gepflegten Strandurlaub mit Handy unter der Sonnenliege haben dabei gar nicht so viele im Sinn, die sich eine längere Auszeit gönnen. Stattdessen finden sich in der Wirtschaftspresse zunehmend Berichte vorzugsweise von Mitarbeitern aus der Beraterbranche, die nach Alaska oder Mittelamerika reisen, um sich weiterzubilden oder in den Bergen von Montana nach Dinosaurierknochen suchen.

Antje Völker, Beraterin bei McKinsey in München, packte für drei Monate ihren Rucksack und reiste über Burma, Kambodscha, Sumatra und die Fidschi-Inseln nach Australien. Sie wohnte in Bambushütten und half, einen entlaufenen Orang-Utan zu retten. Erlebnisse, von denen sie heute noch zehre, wenn es ”im Büro mal wieder länger dauert”. Heiner Olbricht, Unternehmensberater bei Roland Berger, zog sich für drei Monate zurück, baute sich ein altes Motorrad auf, fuhr durch Italien und heuerte zu guter Letzt auf einem Rockfestival als Roadie an. ”Begierig auf ein neues Projekt” kehrte er in seinen Job zurück. Marco Schäfer, Consultant bei McKinsey, nutzte sein viermonatiges Sabbatical, um mit einem Freund von der Kölner Kunsthochschule einen Kurzfilm zu drehen.

Auch bei der Condat AG in Berlin können Mitarbeiter Langzeiturlaube von maximal sechs Kalendermonaten oder 26 Kalenderwochen, inklusive Jahresurlaub, nehmen. Die Zeit, erklärt die Leiterin der Personalabteilung, Erika Tannenbaum, muss angespart und mit dem Arbeitsbereich abgestimmt werden. Es besteht auch die Möglichkeit, die Wochenarbeitszeit für maximal 18 Monate auf bis zu 30 Stunden pro Woche ohne Veränderung des Arbeitsvertrages zu reduzieren.

Das in Deutschland 300 Beschäftigte zählende Unternehmen, das auf Mobile Business spezialisiert ist,hat damit auch einer anderen Tendenz Rechnung getragen: Kinder und Familie sind bei Condat kein Hindernis. Das Unternehmen beteiligt sich sogar an den Kosten für die Betreuung des Nachwuchses.

Zuschüsse für den Kindergartenbeitrag, voll ausgestattete Telearbeitsplätze, an denen im Unternehmen beschäftigte Eltern von zu Hause aus arbeiten können, und Unterstützung für jene, die nach der Babypause neue Herausforderungen im Job suchen, bietet auch die Mikroelektronikfirma Mazet aus Jena. Dahinter steht der Wunsch, gute und rare Mitarbeiter nicht zu verlieren. Das Ingenieurbüro wurde für seine besonderen Aktivitäten im Vorjahr sogar Preisträger im Wettbewerb ”Familienfreundlicher Betrieb” des Bundesfamilienministeriums.

Dieses hatte Anfang des Jahres über die Reform des Erziehungsgeldgesetzes zumindest die Grundlagen gelegt, dass künftig auch mehr Väter nach der Geburt ihrer Kinder eine Auszeit vom Job als Elternzeit in Anspruch nehmen können. Nicht zuletzt die jüngste Shell-Jugendstudie belegt, dass sich junge Männer nicht ausschließlich auf Beruf und Karriere konzentrieren möchten.

Das Bundesministerium startete in diesem Jahr gar eine deutschlandweite Kampagne für mehr Familienfreuden, an der sich neben Mazet auch die Telekom oder IBM beteiligen. ”Väter, die mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten, sind keineswegs die letzten ‚Softies’, sondern die Trendsetter dieses Jahrhunderts”, so die Politik.

Ein Blick nach Japan dürfte dies bestätigen. Im Land des Schaffens hat nach einer Untersuchung von Dieter Jaufmann von der Wirtschafts- und sozialwisenschaftlichen Fakultät der Uni Augsburg in der Werteskala von Mitarbeitern und Führungskräften der Stellenwert der Familie die ”Erfüllung durch Arbeit” inzwischen um Längen geschlagen. Doch noch hat es sich nicht bei allen jungen IT-Unternehmen herumgesprochen, dass es auch für die Arbeit etwas bringt, mehr als nur sein Geld vermehren zu wollen.

Die Unternehmensberatung Fauth-Herkner & Partner auditiert Firmen, die sich die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf die Fahnen geschrieben haben. Die Bewertung basiert auf dem "family friendly index", einer Idee aus den USA, und Erkenntnissen der deutschen gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Die Berater fanden heraus, dass Mitarbeiter mit Kindern nicht nur belastbarer bei Stress sind.

Oft sind sie, so Gertrud Frech, auch teamfähiger, langfristig kreativer, sie besitzen oft größeres Organisationstalent, Verantwortungsbewusstsein und höhere Motivation. Eltern hegten zwar stärker den Wunsch nach geregeltem Einkommen, sind aber auch oft verlässlicher. Ihr Wunsch, möglichst viel Zeit mit der Familie zu verbringen, führt nicht selten zu mehr Effektivität bei der Arbeit. Andererseits binden Kinder immer auch Kräfte.

Die Balance zwischen Arbeit und sonstigen Dingen, die im Leben wichtig sind, muss immer noch jeder Mitarbeiter für sich selbst finden. Gute Personalführung in Unternehmen zeichnet sich dadurch aus, dass sie, so Stewart Friedmann, Leiter des Work-Life Integration Projects an der Universität in Philadelphia, die Suche fördere und jedem Mitarbeiter individuell zugeschnittene Programme biete. Ohne Frage sei dies einfacher dort umzusetzen, wo eine Kultur des Vertrauens herrsche und auch über Privates offen geredet werden kann.

Dies wiederum geht am besten bei Chefs, die ihre Balance im Leben schon gefunden haben. Wenn Novaville-Vorstand Simmons mittwochs morgens zur Arbeit kommt, ein wenig mitgenommener als an den anderen Tagen, ahnen die meisten seiner Mitarbeiter, dass die Bandprobe wohl etwas länger gedauert haben muss. Aber Simmons ist gut drauf, und das zählt.