Rechtsprechung reagiert auf neue Technologien Jetzt haftet der Arbeitnehmer fuer Schaeden nur noch begrenzt Von Marie-Theres Tinnefeld*

18.02.1994

Das Haftungsrisiko des Arbeitnehmers speziell im Bereich der Informationsverarbeitung hat sich in den letzten Jahren mit zunehmender Komplexitaet der Systeme und damit "Gefahrgeneigtheit der Arbeit" wesentlich erhoeht. Dem hat das Bundesarbeitsgericht jetzt Rechnung getragen und die Rechtsprechung auf eine neue Grundlage gestellt.

Der Einsatz der neuen Technologien hat Produktion und Dienstleistungssysteme total veraendert. Ueberall wird Informationsverarbeitung betrieben und in allen Funktionsbereichen des Arbeitslebens nutzbar gemacht. Die Informatisierung der Welt beschreibt der Soziologe Ulrich Beck "als mikroelektronische Revolution, die, schon ein Goliath, immer noch in den Kinderschuehchen steckt und sich fortlaufend selbst revolutioniert".

Zugleich sind mit dieser Entwicklung Rechtsprobleme verbunden: Auch rein fahrlaessige Handlungen der Akteure koennen ausserordentlich hohe Schaeden zur Folge haben, zum Beispiel der Eingabefehler bei einer Programmentwicklung oder die fehlerhafte Buchung im Ueberweisungsverkehr, das Einspielen einer mit Computerviren verseuchten Software oder der Verlust eines Notebooks mit unverschluesselten Projektdaten.

Haftungserleichterung fuer den Arbeitnehmer

Waehrend aber der Arbeitgeber sein Einstandsrisiko durch eine ausreichende Organisation des Arbeitsablaufs und den Abschluss einer Betriebshaftpflichtversicherung ueberschaubar halten kann, kann das Risiko fuer den Arbeitnehmer wegen des Fehlens solcher Moeglichkeiten ruinoes werden. Es war daher erforderlich, die Haftung des Arbeitnehmers abweichend vom Schuldrecht des Buergerlichen Gesetzbuchs (BGB) und der bisherigen Rechtsprechung zu regeln.

Nach der neuen Rechtslage soll der Arbeitnehmer gegen "Goliath Mikroelektronik" haftungsrechtlich geruestet sein: Bei jeder betrieblich veranlassten Taetigkeit soll der Grad seines Verschuldens ein Haftungskriterium bilden. Was ist neu an dieser Rechtslage?

Nach der am 1. Januar 1990 in Kraft getretenen BGB-Regelung haftet jeder grundsaetzlich fuer alle Schaeden, die er entweder durch die Schlechterfuellung eines Vertrages oder durch eine unerlaubte Handlung vorsaetzlich oder fahrlaessig verschuldet hat. Eine Minderung dieser umfassenden Schadensersatzpflicht steht nur bei Mitverschulden des Verletzten zur Debatte, zum Beispiel dann, wenn der Schaden bei einer verbotenen Taetigkeit entstanden ist, die etwa der Arbeitgeber unter bewusster Verletzung der Arbeitszeitvorschriften angeordnet hat.

Auf das Arbeitsrecht uebertragen, wuerde die uneingeschaenkte Anwendung der Haftungsregel des BGB grundsaetzlich immer die volle Haftung des Arbeitnehmers gegenueber dem Arbeitgeber bedeuten, wenn ersterer sich einer positiven Forderungsverletzung oder unerlaubter Handlung schuldig gemacht hat. Die Erfahrung, dass auch einem sorgfaeltig Arbeitenden Fehler mit hohen Schadensfolgen unterlaufen koennen, wuerde grundsaetzlich nicht ins Gewicht fallen.

Dieses strenge zivilrechtliche Haftungssystem wurde von der Rechtsprechung bis Dezember 1993 auf die sogenannte gefahrgeneigte oder schadensgeneigte Arbeit eingeschraenkt. Ihr typischer Fall war die Taetigkeit eines Kraftfahrers, der situationsbezogen in eine besondere Gefahrenlage geraet.

Durch Wuerdigung der Umstaende des Einzelfalles stand zu ermitteln, ob aufgrund von menschlicher Unzulaessigkeit bei gefahrgeneigter Arbeit mit einer Fehlleistung zu rechnen war. Aus Gruenden der Billigkeit und Zumutbarkeit konnte der Schaden, den ein Arbeitnehmer bei der Erbringung seiner Arbeitsleistung dem Arbeitgeber durch Fahrlaessigkeit zugefuegt hatte, ermaessigt oder auch ganz erlassen werden.

Fuer eine Haftung kam es danach auf den Grad der Fahrlaessigkeit an. Die Verteilung des Schadensrisikos sollte nach Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten erfolgen. Der Schaden war zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer quotal zu verteilen. Zur Feststellung der Schadensforderung waren das Verschulden des Arbeitnehmers und das Betriebsrisiko des Arbeitgebers sowie die wirtschaftlichen und persoenlichen Verhaeltnisse von beiden unter Anwendung von n 254 BGB gegeneinander abzuwaegen.

Taetigkeiten des Arbeitnehmers sind speziell auch in der informatisierten Arbeitswelt immer risikobehaftet. Es ist faktisch oft nicht mehr moeglich, gefahrgeneigte von nicht gefahrgeneigten Taetigkeiten abzugrenzen. Die dem Arbeitnehmer schon aufgrund entschuldbarer Fehlleistungen drohenden Schadenshoehen stehen in keiner Relation mehr zu seinem Arbeitseinkommen. Eine so weitreichende Aufbuerdung des Haftungsrisikos beeintraechtigt unverhaeltnismaessig die grundrechtlich gewaehrleistete Berufsfreiheit als Teil des Persoenlichkeitsrechts und kann sich auf die private Existenz des Arbeitnehmers finanziell ein Leben lang negativ auswirken.

Das Risiko wird kalkulierbar

Der Arbeitnehmer ist vom Arbeitgeber persoenlich abhaengig. Er wird im Rahmen einer fremdbestimmten Arbeitsorganisation taetig. Der Arbeitgeber setzt also kraft Weisungsrecht und Organisationsgewalt Risiken, die der Arbeitnehmer wegen Fehlens eigener Dispositionsmoeglichkeiten nicht auffangen kann. Der Arbeitgeber allein hat dagegen die Moeglichkeit, das betriebliche Haftungsrisiko zum Beispiel ueber technisch und organisatorisch geeignete Massnahmen, Preiskalkulation oder den Abschluss einer Betriebshaftpflichtversicherung (zum Beispiel gegen Viren, Computer- und Datenmissbrauch oder Softwareschaeden) abzuwaelzen.

Wollte man den Arbeitnehmer ueber die Vertrags- und Deliktshaftung unabhaengig vom Grad seines Verschuldens immer voll in Anspruch nehmen, wuerde ihm ein Teil dieses Betriebsrisikos aufgebuerdet. Die Rechtsprechung kommt daher folgerichtig zu dem Schluss, dass ihm dieses Risiko, speziell auch im Hinblick auf neue Techniken, etwa der Datenverarbeitung und Kommunikationstechnik, grundsaetzlich zumutbar ist. Das Haftungsprivileg des Arbeitnehmers ist also nicht mehr auf gefahrgeneigte Arbeit beschraenkt. "Die Gefahrgeneigtheit der Arbeit" soll aber nach dem Beschluss des BGH vom 21. September 1993 "fuer die Gewichtung der Abwaegungsfaktoren - des Verschuldens auf der einen und des Betriebsrisikos auf der anderen Seite - im Rahmen von n 254 BGB von Bedeutung bleiben".

Mit der Entscheidung, die Haftung des Arbeitnehmers grundsaetzlich zu begrenzen, anwortet die Rechtsprechung auf die Bedeutung der neuen Technologien fuer das Arbeitsleben. Die empfohlene Haftungsregel macht das Einstandsrisiko des Arbeitnehmers gegenueber dem Arbeitgeber kalkulierbar, beruecksichtigt aber zugleich dessen Interesse an sorgfaeltiger Arbeit. Der Arbeitnehmer soll bei leichtester Fahrlaessigkeit gar nicht haften, bei leichter Fahrlaessigkeit vermindert und bei grober Fahrlaessigkeit sowie Vorsatz voll.

Wenn danach der Arbeitnehmer, zum Beispiel gegen die ausdrueckliche Anweisung des Arbeitgebers, private Disketten unbekannter Herkunft auf geschaeftlich genutzten Computern einsetzt und dadurch ein Computervirus in das System gelangt und etwa Lagerhaltungsdaten zerstoert, haftet er ohne Einschraenkung. Wenn dagegen ein Arbeitnehmer eine fremde Diskette auf einem firmeneigenen Rechner ungeprueft benutzt, ohne dass entgegenstehende Anweisungen vorliegen, koennte er grob oder normal fahrlaessig gehandelt haben. Dabei koennten Beurteilungskriterien wie besondere Verantwortung oder Ausbildungsgrad des Arbeitnehmers wegen der dadurch erhoehten Sorgfaltsanforderungen als verschuldensrelevant angesehen werden.

Zum Betriebsrisiko des Arbeitgebers gehoeren dagegen die Bedingungen, unter denen die Arbeitsleistung zu erbringen ist. Der Gesichtspunkt der Gefahr- geneigheit beziehungsweise Schadensgeneigtheit einer Arbeit kommt hier bei einer Abwaegung des Verschuldens gegen das Betriebsrisiko zum Tragen.

Im Bereich komplexer Datenverarbeitungs- und Kommunikationsprozesse ist es daher sinnvoll, dass der Arbeitgeber die an den einzelnen Arbeitnehmer zu stellenden Sorgfaltspflichten konkretisiert, so dass das Schadensrisiko eingeschraenkt ist.

Ein solches Vorgehen erleichtert auch die Beweispflicht des Arbeitgebers; denn er hat grundsaetzlich darzulegen, ob den Arbeitnehmer bei einer Schadensverursachung mehr als nur eine geringe Schuld trifft.