Praxistests belegen enorme Produktivitaetssteigerungen Die Objekttechnologie schafft Aussichten auf neue SW-Maerkte

08.04.1994

Von Manfred Schumacher*

Der Markt fuer Objekttechnik kommt derzeit so richtig in Fahrt. Mehr und mehr Unternehmen springen auf den Zug auf - winken doch beachtliche Vorteile und damit Moeglichkeiten zur Zukunftssicherung. Die nicht neue, aber jetzt sehr populaere Methode stellt die Firmen vor neue Herausforderungen.

Die Objekttechnik steht vor einem kraeftigen Marktschub, wie Statistiken der Marktforscher belegen. Von 1200 deutschen Unternehmen, die das Kronberger Marktforschungsinstitut IDC im vergangenen Jahr befragt hat, wollen 41,7 Prozent die Objekttechnologie testweise und 13,7 Prozent in signifikantem Umfang einsetzen. Insofern ueberrascht es nicht, dass die Marktauguren den objektorientierten Produkten jaehrliche Zuwachsraten zwischen 40 und 100 Prozent prognostizieren.

Der Grund fuer die Akzeptanz, die die Objekttechnologie derzeit erfaehrt, ist ihr besonderes Nutzpotential. Sie stellt die Entwicklung qualitativ besserer und zudem wiederverwendbarer Softwarebausteine in Aussicht. Das Interesse an der Objekttechnik resultierte aus einem Defizit. Gemeint ist damit ein chronisches Leistungsgefaelle zwischen Hardware- und Software-Entwicklung. Gegenueber den Fortschritten bei der Hardware ist die Software in den 80er Jahren ins Hintertreffen geraten. Es ist eine Softwaretechnologie noetig, mit der Anwendungen schneller, billiger und qualitativ besser werden. Die Objektorientierung soll dabei eine zentrale Rolle spielen.

Unter Kosten-Nutzen-Aspekten laesst sich die objektorientierte Programmierung mit der heutigen Hardwaretechnik vergleichen: Die Hardware besteht aus getesteten Bauteilen, aus denen in standardisierten Verfahren groessere Baugruppen entstehen, die wiederum geprueft werden. Standardisierte Schnittstellen gewaehrleisten den fehlerfreien Zusammenbau dieser Komponenten.

Es gibt Beispiele fuer enorme Einsparungen

Aehnlich verfaehrt die Objekttechnologie. Durch sie ist ein Markt denkbar, in dem Standard-Softwarebausteine verfuegbar sind. Entwickler basteln diese Module, so das Zukunftsszenario, zu Programmen zusammen, die praezise den Anforderungen der Anwender entsprechen und nicht - wie heutige Softwarepakete - unnoetigen Ballast mitbringen. Standardkomponenten und geringerer Umfang koennten solche Software zudem verbilligen.

Fuer diese Thesen liegen mittlerweile erste quantifizierbare Beweise vor. EDS beispielsweise implementierte eine vorhandene Applikation mit Hilfe von Smalltalk und einem objektorientierten Datenbanksystem neu. Fuer die urspruengliche Entwicklung hatte das Unternehmen 19 Monate bei 152 Mannmonaten Arbeitsaufwand und 265000 Codezeilen benoetigt. Die Neu-Implementierung gelang in 3,5 Monaten bei 10,4 Mannmonaten und umfasste nur 22000 Programmzeilen. Unter dem Strich ergab dies eine 14fache Produktivitaetsverbesserung im Design und in der Programmierung.

Entsprechendes belegt ein Vergleich bei American Airlines Sabre Computer Services. Dort wurde mit Smalltalk von Parcplace Systems das SOC-System, eine Geschaeftsapplikation zur Optimierung der Schalteroperationen, neu entwickelt. Die Software umfasst mehr als 200 Klassen, ueber 2000 Methoden sowie mehr als 150 000 Objekte und wurde in 22 Mannmonaten entwickelt. Daraus resultierte nach Angaben des Unternehmens eine Produktivitaetssteigerung von 65,8 Funktionspunkten pro Arbeitsmonat gegenueber 30,2 einer herkoemmlichen Entwicklung.

Ihre Vorzuege verdankt die Objekttechnologie speziellen Designmerkmalen, die Nutzaspekte wie Zuverlaessigkeit und Wiederverwendbarkeit garantieren.

Die Zuverlaessigkeit der mit objektorientierten Techniken entwickelten Software wird verbessert, indem jedes Objekt gegenueber der Aussenwelt, mit der es kommuniziert, den Charakter einer Blackbox hat. Hierdurch lassen sich die internen Datenstrukturen und Methoden verfeinern, ohne dadurch andere Teile des Programmcodes zu beeinflussen.

Unter Wiederverwendung ist zu verstehen, dass jede Unterklasse oder Instanz eines Objekts den fuer die Klasse entwickelten Programmcode (Methode) nutzen kann. Die Schluesseltechnik zur Wiederverwendung von Softwarekomponenten ist die Vererbung, die dem Entwickler Bezuege auf bereits vorhandene Klassen erlaubt und Varianten von diesen zu bilden. Dabei muss er nur die Unterschiede zwischen existierender und neuer Klasse spezifizieren.

Ueber die in der Objekttechnologie moegliche Wiederverwendung duerfte sich auch der Markt fuer Softwarebausteine entwickeln, der die Software-Industrie langfristig revolutionieren koennte. Voraussetzung hierfuer ist jedoch eine breite Nachfrage, die in Relation zur Abnahmemenge eine Kostenreduktion nach sich zieht.

Noch sind Defizite nicht zu uebersehen

Die heutige Situation ist weit davon entfernt. Im Markt gehandelte Softwarekomponenten dekken unterschiedlichste Anforderungen ab. Folglich finden auch Softwaremodule mit moeglichst uneingeschraenkten Schnittstellen nur schwer in groesserer Stueckzahl ihre Abnehmer. Erst wenn dieser Markt ueber entsprechende Logistik- , Marketing- und Vertriebsstrukturen verfuegt, ist die Massennachfrage garantiert.

Trotzdem bringt die betriebsintern praktizierte Wiederverwendung von Software den Unternehmen bereits heute ganz konkrete Vorteile. So koennen sie wiederverwendbare Komponenten entwickeln, die dann in neue Programme einfliessen. Hierdurch wird wiederverwendbarer Programmcode fuer die Unternehmen zu einer Investition, die sich wiederholt in der Zukunft bezahlt macht.

Die Objekttechnologie verspricht den Unternehmen nicht nur Vorteile, sondern stellt sie gleichzeitig vor diverse Herausforderungen, die sie beruecksichtigen sollten. Denn die Objekttechnologie ist derzeit beileibe noch nicht voll ausgereift, und wegen der raschen Entwicklung in diesem Bereich fehlen bislang allgemein anerkannte Standards. Weitere Hemmnisse ergeben sich durch die noch unzureichend vorhandenen Tools fuer die umfassende Unterstuetzung objektorientierter Software-Entwicklung.

So sind die Programmierer bei der Entwicklung komplexer Anwendungssysteme beispielsweise gefordert, geeignete Objekte zu definieren, zweckmaessige Meldungen zu waehlen oder optimale Methoden zu spezifizieren, was ohne entsprechende Tool-Unterstuetzung mit sehr viel Aufwand verbunden ist. Die Entwicklung von Klassenbibliotheken, insbesondere fuer vertikale Anwendungsfelder, hat hier schon Verbesserungen gebracht.

Darueber hinaus benoetigt Wiederverwendung Werkzeuge, mit denen der Entwickler im vorhandenen Programmcode navigieren und diesen auf seine moegliche Wiederverwendbarkeit analysieren und strukturieren kann. Waehrend herkoemmliche Tools den Programmcode als Datei darstellen, erfordert die Objekttechnologie eine Darstellung, die den Programmcode in Form von logischen Objekten strukturiert und visualisiert. Nur so lassen sich beispielsweise Aspekte wie Vererbungs- und Aufrufhierarchie oder Klassenattribute erkennen, die in der Objekttechnologie eine herausragende Bedeutung haben.

Der Erfolg der Objekttechnologie haengt nicht nur vom Vorhandensein geeigneter Werkzeuge, sondern auch von der richtigen Vorgehensweise bei ihrer Einfuehrung im Unternehmen ab. Statt einer Radikalumstellung von heute auf morgen ist ein evolutionaeres Konzept ratsam, fuer dessen anfaengliche Umsetzung sich insbesondere Downsizing- oder Client-Server-Projekte anbieten.

Ganz wesentlich fuer den erfolgreichen Umstieg auf die Objekttechnologie sind Training und Schulung. Entsprechend hoch beziffert das Marktforschungsinstitut IDC das kuenftige Wachstum in diesem Bereich: Mehr als 30 Prozent soll der objektorientierte Schulungsmarkt im Jahresschnitt bis 1998 zulegen. Wegen der erforderlichen Investitionen in Software und Training muss unbedingt das Top-Management in die Entscheidung ueber Objektorientierung eingebunden werden und sie unterstuetzen. Dem Management sollte bewusst sein, dass der Lernaufwand nicht von heute auf morgen Kostenersparnisse bringt.

Vielfach fehlt es an Voraussetzungen

Die wachsende Akzeptanz der Objekttechnologie darf nicht darueber hinwegtaeuschen, dass vielen Unternehmen bislang noch ein ausreichendes Verstaendnis der Objekttechnologie fehlt. Zudem beherrschen viele DV-Abteilungen in den Unternehmen die Konzepte der Datenabstraktion noch zu wenig, um erfolgreich wiederverwendbare Software entwickeln zu koennen.

Andere, die die benoetigten Voraussetzungen mitbringen, sind noch zu sehr traditionellen 4GL- und RDBMS-Praktiken verhaftet und verwenden Binary Large Objects (BLOBS) oder "gespeicherte Prozeduren". Diese eignen sich zwar fuer komplexe Anforderungen und die Wiederverwendung von Programmcode, jedoch lassen sich damit keinesfalls alle potentiellen Vorteile der Objekttechnologie realisieren. Ein weiteres Hindernis besteht darin, dass viele Unternehmen bisher keine Methodologie nutzen, was den Einsatz neuer Tools oder Verfahrensweisen zusaetzlich erschwert.

Die Objekttechnik ist heute auf dem besten Weg, von einem Modewort zu einer Marktrealitaet zu werden. Dafuer sorgt allein die Sogwirkung der Vorteile, die Branchenkenner und Hersteller den Unternehmen mit ihrem Einsatz in Aussicht stellen. Zudem muessen die Unternehmen befuerchten, den Zug zu verpassen und sich dadurch ins Wettbewerbsabseits zu manoevrieren.