Visionen auf dem Prüfstand/Uraltes Medium behauptet sich

Papier: Vom Bremsklotz zur Nischenexistenz

10.01.2003
Papier ganz abzuschaffen ist schon lange keine Forderung mehr, die von Kunden noch ernsthaft gestellt wird. Vielmehr geht es darum, die relevanten papierintensiven Geschäftsprozesse vom Bremsklotz Papier zu befreien. Dafür gibt es bereits viele erfolgreiche Beispiele. Von Bernhard Zöller*

Wenige Visionen der IT-Industrie sind so einfach zu verstehen, so erwünscht und von der Umsetzung gleichzeitig so weit weg wie das "papierlose Büro". Der Begriff geht zurück auf das Frühjahr 1979. In Washington D.C. wird der Prototyp eines neuartigen Büros mit Diktafon, Dokumententerminals, Mikrofilm- und Papierscannern vorgestellt. Intern erstellte Dokumente werden nicht mehr mit Schreibmaschine, sondern elektronisch erzeugt. Vorhandene Mikrofilme und eingehende Papierdokumente werden mit Scannern digitalisiert, um sie ebenfalls elektronisch verfügbar zu machen. Das Konzept erregt Aufsehen, die "Washington Post" verkündet in einem Artikel am 3. Mai 1979 bereits "The World Without Paper". Und die Industrie liefert. Netzwerke, Server mit genügend Speicher, schnelle Workstations und komfortabel zu bedienende Software zur Dokumentenerstellung verbreiten sich. Anfang der 80er Jahre kommen erste elektronische Archivsysteme von Philips, Filenet, Hitachi, Plexus und Wang auf den Markt, die mit Hilfe schneller Scanner und optischer Speicher auch die eingehenden Papierfluten eindämmen sollen: Die auf Dokumenten-Management-Systeme (DMS) spezialisierte Industrie wurde geboren, mit exzellenten Aussichten angesichts der Papierberge in allen Unternehmen und Organisationen.

Status 2003: Die meisten Dokumente in Büros werden elektronisch erzeugt. Tausende elektronischer Archive und Dokumenten-Management-Systeme sind installiert, die aufgrund des Preisverfalls der meisten Komponenten (Speicher, PCs) auch für mittelständische Unternehmen und kleinere Abteilungen erschwinglich geworden sind. Man sollte also meinen, dass alle Voraussetzungen für das papierlose Büro gegeben sind. Doch sieht die Realität anders aus. Immer noch gehören Papierberge zum normalen Büroalltag. Was lief falsch?

Papierarm ja, papierlos nein

Zum einen muss man differenzieren zwischen papierarm und dem kategorischen papierlos im Sinne von hundert Prozent papierbefreit. Die installierten und produktiven DMS-Lösungen haben sicher das Wachstum der Papierfluten eingedämmt. Es gibt allein Hunderte von Beispielen für papierärmere Abteilungen oder sogar papierlose Einzelprozesse nach Einführung eines DMS. Aber die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben eben auch aufgezeigt, wo sich Papier der Digitalisierung und Automation entzieht.

Aufwand zur Erfassung

Die Erfassung von Eingangspost ist fast immer aufwändiger als in den bisherigen Papierabläufen. Und je mehr die Papierdokumente abweichen von scanner- und bildschirmkompatiblen Formaten, desto größer ist der Unterschied. Es sind typischerweise nicht die gewöhnlichen Einzelbelege, sondern die Ausnahmen, die bei der Konzeption der Erfassungsabläufe Herausforderungen stellen, die manchmal wirtschaftlich nicht lösbar sind. Gebundene, geheftete, Wickelfalz-Dokumente und Überformate kommen in der Praxis nicht selten vor, können aber ohne manuellen Vorbereitungsaufwand für Entklammern, Glätten, Umkopieren oder Sonderausrüstung (Aufsichtscanner für gebundene Unterlagen, A0-Scanner) nicht digitalisiert werden. Der höhere Erfassungsaufwand muss also durch einen im Vergleich zu Papierverteilung und -ablage entsprechend höheren Nutzen durch Mehrfachzugriff und sofortige Verteilbarkeit kompensiert werden. Seltene Zugriffe, Mangel an Unternehmensnutzen, nur lokale oder persönliche Bedeutung von Dokumenten etc. stehen einer aufwändigen Erfassung bei vielen Dokumenten entgegen.

Einfache Papiererzeugung

Es ist sehr einfach geworden, Papier zu erzeugen. Das Erstellen von Kopien war früher sehr aufwändig, die Verteilerlisten entsprechend kurz und restriktiv. Heute sind Kopier- und Drucksysteme schnell und preiswert. Es ist einfacher, vorsichtshalber Kopien zu erstellen und an alle Verdächtigen zu verteilen, als die Verteilerliste zu reduzieren. Die Überflutung mit E-Mail durch bedenkenloses cc-Setzen der Empfänger ist nur eine im Ausmaß nochmals gesteigerte Fortsetzung dieses Problems, aber kein wesentlich neues Phänomen.

Höherer Aufwand bei frühem Erfassen

Eine weitere Ursache für das Papier in den Büros ist, dass in einer Vielzahl von DMS-Anwendungen Dokumente erst nach der eigentlichen Sachbearbeitung digitalisiert werden. Nachteil dieses Verfahrens: Solange das Dokument nicht digitalisiert ist, kann außer der Person, die in seinem Besitz ist, niemand darauf zugreifen. Die Zugriffsfähigkeit auf aktuelle Vorgänge und Auskunftsbereitschaft von anderen Arbeitsplätzen sind erheblich reduziert. Die Alternative ist das frühe Scannen und elektronische Weiterleiten zum Sachbearbeiter, der den Vorgang jetzt aus einer Art Vorgangspostkorb bearbeitet. Dieses Verfahren hat jedoch erhebliche Konsequenzen für die Ablauforganisation: Know-how der Sachbearbeitung ist jetzt in den Poststellen notwendig, um eine fehlerfreie Verteilung zu ermöglichen. Der Anwender muss sich genau überlegen, welcher Zusammenhang zwischen einem Vorgang (kann mehrere Dokumente umfassen, die zeitlich unterschiedlich eintreffen), dem Briefinhalt (kann sich aus mehreren Dokumenten zusammensetzen, die zu mehreren Vorgängen gehören) und den Einzeldokumenten (auch ein Einzeldokument kann mehrere Vorgänge betreffen) besteht und wie diese Abhängigkeiten elektronisch abgebildet werden können. Konzeptionsaufgaben wie Verteilregeln, Gruppen- versus Einzelpostkörbe, Annotationen, Bearbeitungsvermerke, Kompetenzregelungen, Wiedervorlage, Integration mit den führenden Anwendungssystemen, Lastverteilung im Krankheitsfall, Rücksendung von Irrläufern und andere Aspekte sind typische Themen, die in einem Projekt mit früher Erfassung geklärt werden müssen und in jedem Fall einen höheren Planungs- und Implementierungsaufwand verursachen als späte Erfassung.

In Deutschland gibt es zahlreiche produktive und erfolgreiche Beispiele, in denen Firmen Dokumente vor der Sachbearbeitung erfassen und aus einem elektronischen Postkorb heraus bearbeiten. Es sind jedoch fast ausnahmslos größere Anwender in stark repetitiven Arbeitsabläufen, in denen sich der höhere Aufwand auch lohnt. Diese Skaleneffekte sind bei kleinen und mittleren Unternehmen mit einer geringeren Anzahl formalisierbarer Abläufe sehr viel seltener möglich. Paradoxerweise sind daher manche "großen" Papierberge einfacher abzubauen als die "kleinen".

Ergonomische Barrieren

Das am häufigsten unterschätzte Problem im Umgang mit Papier ist die in einer elektronischen Umgebung komplett andere - und manchmal eben nicht ausreichende - Ergonomie bei der Dokumentenbearbeitung.

Heutige PC- und Scan-Lösungen erlauben mittlerweile eine sehr hohe Qualität bei der Erfassung einer Vielzahl von Dokumenten. Die Nutzung von Bildverbesserungen, Zoom-Funktionen etc. sind Erleichterungen und führen in vielen Fällen sogar dazu, dass elektronische Dokumente einfacher und besser bearbeitet werden können als mit dem Papier, aus dem sie erzeugt wurden. Schwierig wird es jedoch bei dicken Akten, umfangreichen Katalogen, überformatigen Zeitschriften, Akten mit farblich gekennzeichneten Dokumententypen. Die 3D-Biometrie des Menschen erlaubt ein intuitives, weil angeborenes Zusammenspiel zwischen Haptik - dem Tastsinn - und der visuellen Wahrnehmung. Beispiele sind schnelles "Daumenblättern" in sehr umfangreichen Unterlagen, sofortige Lokalisierung eines bestimmten, andersfarbigen Dokumentes im dicken Stapel, Lesen von Dokumenten, die größer sind als A4 - zur Not wird die Zeichnung an die Wand geklebt, wenn der Tisch zu klein ist. Alle diese in der typischen Büroarbeit vertrauten und intuitiven Tätigkeiten sind auf dem kleinen 2D-Bildschirm eines PC daher gar nicht oder nur mit Einschränkungen möglich. Versuche der Softwareentwickler, durch Registerblätter, Aktenstrukturen, elektronische Notizen etc. Abhilfe zu schaffen, verringern die Probleme, können sie aber manchmal nicht ganz lösen.

Unterschiedliche Oberflächen

Eine weitere ergonomische Barriere sind die unterschiedlichen Benutzeroberflächen für verschiedene Dokumente. Papier hat eine für alle Papierdokumente einheitliche "GUI". Im elektronischen Büro werden in der Regel dagegen sehr viele unterschiedliche Dokumentformate vorgehalten: PDF-, Tiff-, und Word-Dokumente, Mail und große Drucklisten: Sie alle werden in der Regel mit mehr als einem spezifischen Viewer mit jeweils unterschiedlichen Benutzeroberflächen angezeigt, ausgedruckt, weitergeleitet, geblättert, annotiert etc., was zu einem höheren Lern- und Trainingsaufwand und natürlich größeren Akzeptanzproblemen führt.

Altbestand nicht verfügbar

In manchen Fällen ist der Nutzen eines DMS eingeschränkt, wenn zwar der Dokumenten-Neuzugang, nicht aber der Altbestand elektronisch verfügbar ist. Die Konvertierung von Altbestand ist aber aufgrund der personalintensiven Dokumentenvorbereitung, Erfassung und Indexierung aufwändig. In einem Altarchiv mit zehn Millionen Dokumenten kommen schnell die Anschaffungskosten für ein komplettes DMS allein für die Konvertierung des Altbestandes zusammen. In der Regel werden daher die Dokumente peu-à-peu übernommen, was die Papierberge auch in DMS-Umgebungen zumindest noch vorübergehend sichtbar hält. Eine häufige Alternative ist die Einbeziehung externer Dienstleister, die in der Regel mit mehr Erfahrung und geringeren Stückkosten arbeiten. Trotzdem gilt die Faustregel, nur zu konvertieren, wenn noch eine relevante Anzahl Zugriffe zu erwarten ist. Den Rest bei Raumnot auslagern oder verfilmen. Es macht nichts, auf Dokumente mal einen Tag zu warten, wenn dies nur einmal im Jahr passiert.

Dünne Leitungen, lokale Ablage

Man kann sogar auf Lametta Dokumente übertragen, es dauert halt länger. Viele WAN-Anbindungen sind heute nicht geeignet, umfangreichere Dokumente zu verschicken. Eine nur 20 Seiten umfassende Akte würde via saubere 64-Kbit/ISDN-Leitung in zirka drei Minuten übertragen werden, viel zu lange für die Anforderungen von Call-Centern und anderen ad hoc Zugreifenden. Solange die außen liegenden Standorte zu lange auf Dokumente warten müssen, werden sie ihre lokale Ablage in Papierform fortsetzen.

Fazit: Es geht schon lange nicht mehr darum, das papierlose Büro zu schaffen. Es gibt viele Gründe, warum dies weder ergonomisch noch wirtschaftlich Sinn hat. Einzelne Abläufe und Prozesse aber vom Papier zu befreien ist ein realistisches und wirtschaftliches, manchmal sogar zwangsläufiges Konzept, das bereits von vielen hundert Anwendern realisiert wurde. Dabei dreht es sich aber nicht nur um Papier, sondern um alle für einen bestimmten Zusammenhang relevanten Informationen: also nicht nur Eingangspost, sondern auch Ausgangspost, die betreffende Mail-Kommunikation und andere Informationen, die zu dem Kunden, dem Projekt, dem Lieferanten gehören. Der Handlungsdruck, Dokumente elektronisch vorzuhalten, steigt auch durch die Internet-Abläufe und die Notwendigkeit, Prozesse standortübergreifend zu gestalten. Der Zugriff aus dem Call-Center an Standort A auf die Akten an Standort B hat sicher in Papierform keinen Sinn. Außerdem entstehen relevante Informationen zunehmend nur noch elektronisch. Im Falle elektronisch signierter Dokumente ist ein Ausdruck gar nicht mehr möglich, ohne dabei die Logik (Prüfbarkeit) der Signatur zu verlieren. DMS oder Content-Management-Systeme (CMS) werden sicher auch in ferner Zukunft nicht in der Lage sein, Papier ganz abzuschaffen. (bi)

*Bernhard Zöller ist Geschäftsführer der Zöller & Partner GmbH, einer auf Dokumenten-Management spezialisierten Unternehmensberatung in Sulzbach im Taunus.

Angeklickt

- Tausende elektronischer Archive und Dokumenten-Management-Systeme sind installiert, die aufgrund des Preisverfalls der meisten Komponenten auch für mittelständische Unternehmen und kleinere Abteilungen erschwinglich geworden sind.

- Die installierten und produktiven DMS-Lösungen haben das Wachstum der Papierfluten eingedämmt.

- Heutige PC- und Scan-Lösungen erlauben mittlerweile eine hohe Qualität bei der Erfassung einer Vielzahl von Dokumenten.

- Relevante Informationen entstehen zunehmend nur noch elektronisch.

Standards und Formate

CCITT G4 In der CCITT (heute ITU) wurden die Fax- und Kompressionsstandards CCITT G3 und G4 erarbeitet, die heute in den meisten DMS zur Ablage- und Archivierung von schwarzweißem Schriftgut zum Einsatz kommen. G4 bezeichnet die zweidimensionale Kompression bitonaler Bitmaps.

DMS Dokumenten-Management-System.

JPEG Joint Photographic Experts Group. Spezifikation zur verlustbehafteten Kompression von Farbbildern. "Verlustbehaftet" bedeutet, dass Bildinfor mationen nach dem Scannen beim Speichern irreversibel verloren ge hen. Manche Programme erlauben, den Grad der Kompression und damit die Höhe des Informationsverlustes einzustellen. JPEG wird vor allem eingesetzt, um Bilder mit großem Farbraum (großer Bit-Tiefe) wie zum Beispiel fotorealistische Farbdarstellungen zu komprimieren. JPEG eig net sich daher sehr gut für Bilder mit fließenden Übergängen, aber nur bedingt für Text oder Bilder mit harten Kantendetails oder bitonalen Schwarzweiß-Dokumenten.

JPEG 2000 Neues Imageformat der Joint Photographic Experts Group. JPEG 2000 verwendet Wavelet-Kompressionsalgorithmen statt der bisher genutz ten DCT-Algorithmen (Discrete Cosine Transformation). Wavelet-Kom pression erlaubt sowohl verlustfreie als auch verlustbehaftete Kompres sion bei sehr hoher Bildqualität. Im Vergleich zum bisherigen JPEG Format werden die Dateien kleiner bei vergleichbarer Qualität.

PDF Portable Document Format, entwickelt von Adobe und 1993 vorgestellt. PDF erlaubt die plattformunabhängige Erstellung und Verteilung von Dokumenten, gerade auch bei grafisch anspruchsvollen Inhalten. PDF Viewer sind kostenlos und für alle gängigen Client-Plattformen verfügbar.

PNG Portable Network Graphics, Rastergrafikformat mit verlustfreier Kom pression, das im Unterschied zu GIF mit 16 Millionen Farben (GIF ist auf 256 Farben beschränkt) arbeiten kann. PNG konnte sich trotz sei ner technischen Vorteile bisher nicht breit durchsetzen. Die Browser Unterstützung ist uneinheitlich.

GIF Graphical Interchange Format. Ursprünglich von Unisys entwickelt, spä ter von Compuserve eingeführt. Maximal 256 Farben, zwei Versionen: GIF 87a und GIF 89a. Letzteres unterstützt "Transparenz", das heißt, statt eines weißen Pixels ist die Stelle "durchsichtig", sowie animierte GIFs, die vor allem auf Web-Seiten Verwendung finden.

Tiff Tagged Image File Format. Entwickelt von Aldus 1986 unter Beteiligung anderer Firmen, (Microsoft, HP und weitere). 70 Tags zur Beschreibung der Eigenschaften wie zum Beispiel Kompressionsalgorithmus, Anzahl Bits per Pixel, Anzahl vertikale und horizontale Pixel. Derzeit aktuelle Version ist 6.0, gültig seit Juni 1992.

XIF Extended Image File Format von Scansoft (ehemals Xerox Image For mat), Dokumentenformat für gemischtfarbige Dokumente. Text- und Bildregionen auf dem Dokument werden unterschiedlich komprimiert und gespeichert, was in sehr kleinen Dokumenten resultiert.

Die am häufigsten unterschätzten Probleme im Umgang mit Papier sind die in einer elektronischen Umgebung komplett andere Ergonomie und die mangelnde "Kompatibilität" mit dem "System Mensch". Erschwerend kommen Probleme mit den Dokumentenformaten hinzu, die eine unkomplizierte Übernahme erschweren.