Ohne Datenschutz keine Zukunft für die Telematik

18.07.1986

Vor den mannigfachen Risiken, Gefährdungen und Nachteilen, die mit der Telematik einhergehen, warnte die baden-württembergische Datenschutzbeauftragte Ruth Leuze in einem Vortrag auf der "Telematica" in Stuttgart. Diese Technik mache den Menschen durchsichtiger, beherrschbarer und damit manipulierbarer und weniger frei. Bislang, so kritisierte die engagierte Datenschützerin, ist auch der Aspekt des Datenschutzes in der öffentlichen Diskussion viel zu kurz gekommen. Für die Freiheitsbeschränkungen, die hier auf dem Spiel stünden, gebe es genügend eindrucksvolle Beispiele aus dem Alltag. Das Referat der Datenschutzbeauftragten wird in zwei Teilen veröffentlicht.

Während sich die EDV-Spezialisten schon daranmachen, die Geschichte der Telematik zu schreiben, mutet vielen Bürgern dieses Schlagwort noch als Zukunftsvision an. Das ist auch verständlich, weil der Laie die Telematik - selbst wenn er es mit ihr unmittelbar zu tun hat - meist nicht bemerkt. Kein Wunder, denn sie wirkt in aller Regel im Verborgenen. Wer eine Flugkarte bestellt, ein Hotelzimmer reserviert oder eine Reise bucht, tritt immer mit Personen in Kontakt. Daß diese seine Wünsche auf technisch äußerst komplizierte Weise über einen Verbund von vielen Großrechnern der verschiedensten Firmen und eine Fälle von Fernmeldeverbindungen in Sekundenschnelle zu realisieren bemüht sind, bleibt außer acht. Und das, obwohl man die Telematik längst in großem Stil und nicht nur zur Verarbeitung von Personendaten einsetzt, sondern auch zur Bewältigung reiner Sachprobleme. Ich denke etwa an die Fernüberwachung von Kernkraftwerken, Steuerung von Straßenbahn und S-Bahn und an Computer Aided Design, vom Schuhkarton angefangen bis hin zur Herstellung wertvollsten Porzellans. Ich erinnere an die Informationsbanken der Medizin, Biologie und Mathematik und Dinge wie die Simulation des Verhaltens einer Autokarosserie im Fahrtwind. Das sind nur wenige Anwendungen der Telematik, die heute schon unser tägliches Leben bestimmen.

Infolge des rasanten technischen Fortschritts erschließen sich für die Telematik immer neue Anwendungsbereiche. Schauen wir bloß einmal auf die Gestaltung unserer Freizeit: Da steht uns Kabelfernsehen ins Haus mit einer ungeahnten Fülle von Möglichkeiten, jederzeit auf Abruf - also Tag und Nacht - Programme zu wählen und Dienstleistungen zu beanspruchen. Dazu kommen elektronische Zeitungen und Videotheken - sprich: der individuelle Abruf von Hitchcock- oder Micky-Maus-Filmen oder Schulmädchenreports rund um die Uhr. Mehr und mehr wird unser tägliches Leben auch durch die Fernüberwachung beherrscht:

Das adressierbare Telefon mit seiner Möglichkeit, anonymen Anrufern das Handwerk zu legen, wird in Kürze ebenso Realität sein wie der elektronische Versand des gesprochenen Wortes: vom Glückwunsch über die Bestätigung eines Vertrags bis hin zu einer Fülle möglicher Manipulationen des Gesagten. Im Arbeitsleben kommt für Arbeiter eine intensivere Betriebsdatenerfassung - etwa bei der Warenproduktion - und für Angestellte und Beamte die Bürokommunikation mit der Folge, daß Computer, die sie weder sehen noch verstehen können, jeden ihrer Arbeitsschritte und jede ihrer Überlegungen registrieren.

Mit Sicherheit bietet die Telematik auch immer mehr Varianten; Videokameras - ganz gleich, ob sie vor Banken, in Fußgängerzonen, Kaufhäusern, Unterführungen oder Verkehrsknotenpunkten montiert sind - zentral von der Ferne aus zu steuern, einzelne Personen aus der Gesamtaufnahme herauszufiltern, deren Tun und Lassen zu verfolgen und bei Bedarf weitere Kontrollen dieser Personen zu initiieren.

Von all dem bemerkt die überwiegende Zahl der Bürger, die ja keine technischen Spezialisten sind, nichts. Ihnen geht es wie dem Kunden im Reisebüro, am Flugschalter oder im Hotel: Sie wissen meist nicht einmal, daß die Telematik im Spiel ist, und wenn ausnahmsweise doch, dann aber gewiß nicht, welche Datenbanken welcher Stellen dabei eingeschaltet waren, wo die Abfrage über sie ihre Spuren hinterließ und wem diese Spuren eines Tages den Weg zu ihnen weisen, obwohl ihnen dies gar nicht recht ist.

þDas Für und Wider der Telematik

Wer meint, mit dieser Feststellung sei ein allgemeines Negativurteil über die Telematik gesprochen, irrt. Warnen muß ich freilich davor, in der Telematik bloß mehr Lebensqualität per Knopfdruck zu sehen und die mit ihr einhergehenden mannigfaltigen Risiken, Gefährdungen und Nachteile zu ignorieren. Selbst DV-Spezialisten mit Scheuklappen - sollte es sie geben - können nicht mehr an der nur langsam in Gang gekommenen Diskussion des Für und Wider der Telematik vorbei: Angefangen beim Thema Nummer eins, ob die moderne Informationstechnik Arbeitsplätze schafft oder vernichtet, über den Medienpädagogen entzweienden Streit, ob die neuen Techniken Kinder um ihre Jugend betrügen oder ihre geistige Entwicklung fördern, bis hin zur These von Neil Postman, im Schlepptau der Telematik entstünde eine Gesellschaft, die sich zu Tode vergnügt.

In dieser Vielfalt des Für und Wider kam ein Aspekt - der des Datenschutzes - bislang reichlich kurz. Nur zu gern kehrte man die Feststellung seiner Vertreter unter den Teppich, daß die Telematik den Menschen durchsichtiger, beherrschbarer und damit manipulierbarer und weniger frei macht, weil sie seine einzelnen Verhaltensweisen viel stärker und intensiver registriert, als dies die klassische EDV ohnehin tut. Nur zu gern wich man der Frage aus, wo die besonderen Vorkehrungen zum Schutz des so verdateten Bürgers bleiben. Und das trotz eindrucksvoller Beispiele aus dem Alltag, welche Freiheitsverluste hier auf dem Spiel stehen:

- Wir alle erwarten von der Polizei, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen, und haben im Prinzip deshalb nichts dagegen, daß sie sich der modernen Informationstechnik bedient. Aber viele nehmen Anstoß oder werden zumindest nachdenklich, wenn sie hören, daß die Polizei gerade infolge der Telematik immer mehr unbescholtene und harmlose Bürger kontrollieren, registrieren, zumindest zeitweise in den Kreis ihrer Ermittlungen einbeziehen und auf diese Weise zwingen kann, sich für erlaubte, aber vielleicht von der Norm abweichende Verhaltensweisen zu rechtfertigen.

- Jeder Hausfrau, die per Katalog Waren bestellt, ist klar, daß der Versandhändler nicht x-beliebig teure Ware einfach an wildfremde Leute versenden und auf gut Glück hoffen kann, an sein Geld zu kommen. Empört ist sie freilich, wenn Auskunfteien und Kreditschutzorganisationen hinter ihrem und ihres Mannes Rücken Nachbarn und Vermieter über ihr Einkommen und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse befragen und diese Informationen in ihrem Computer zum jederzeitigen Abruf durch eine Vielzahl kreditgewährender Stellen speichern.

- Viele Ärzte auf der Intensivstation schätzen, daß sie mit Hilfe der Telematik die lebenswichtigen Funktionen ihrer todkranken Patienten ständig in allen Einzelheiten zentral überwachen und auf Datenträger aufzeichnen können. Aber manch einer dieser Ärzte wird gleichzeitig befürchten, daß diese Aufzeichnungen ihn eines Tages wegen des Vorwurfs ungenügender medizinischer Versorgung in Bedrängnis bringen. Und nicht wenige der Patienten - könnten sie sich noch artikulieren - wären bestürzt zu sehen, wie ihre körperlichen Funktionen bis in die letzten Einzelheiten registriert werden.

Wer sich bloß ein wenig auf den Messen des Jahres 1986 umschaut, weiß, wie beliebig sich diese Beispiele fortsetzen ließen. Trotzdem plädieren immer noch manche dafür, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Das hieße, mit dem Datenschutz nicht vorbeugend, sondern frühestens dann einzusetzen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Ein solches Laisser-aller, Laisser-faire können wir uns nicht leisten: Dazu sind die von der Telematik ausgehenden Veränderungen im Informationsverhalten von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Bürger viel zu tiefgreifend und riskant.

Die Aussagen des Grundgesetzes

Aufgabe des Datenschutzes ist, dafür zu sorgen, daß die Telematik niemanden in seinen Rechten verletzt oder in schutzwürdigen Belangen beeinträchtigt. Wie sich dies erreichen läßt, ist oft schwer zu beurteilen. Ausgangspunkt aller Überlegungen müssen die Aussagen des Grundgesetzes zur Menschenwürde und freien Entfaltung der Persönlichkeit sein. Denn aus ihnen leitet sich unser Recht ab, grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden, wer was wann und wozu über uns erfahren und verwenden kann. Dieses informationelle Selbstbestimmungsrecht - wie es die Juristen in ihrer spröden Sprache nennen - hat jede Behörde, jedes Unternehmen, jede Firma, jeder Chef, jeder Arbeitskollege und, welche Institution es auch sonst sei, zu respektieren. Weder Staat noch Wirtschaft dürfen sich deshalb über andere gegen deren Willen Informationen beschaffen, verarbeiten, weitergeben oder sonst nutzen - es sei denn, ein Gesetz erlaubt ihnen dies klipp und klar. Noch mehr: Nicht einmal der Gesetzgeber hat freie Hand, welche Informationsflüsse er zulassen will und welche nicht. Das Bundesverfassungsgericht stellte dies im Urteil zur gescheiterten Volkszählung 1983 in aller Deutlichkeit fest. Der Gesetzgeber darf deshalb das Erheben, Speichern, Verwerten und Weitergeben persönlicher Daten nicht schon dann erlauben, wenn Wirtschaft, Verwaltung oder gesellschaftliche Gruppen dies wünschen. Er muß statt dessen bei jedem Gesetzgebungsvorhaben anhand des strengen Maßstabes der Verfassung sorgfältig prüfen, ob das Allgemeinwohl so hoch zu werten ist, daß der Bürger die Verarbeitung seiner Daten gegen seinen Willen hinnehmen muß. Diese Abwägung zwischen dem Individualinteresse und dem Allgemeininteresse ist meist nicht leicht. Ja, sie führt immer wieder zu heftigen rechtlichen und politischen Auseinandersetzungen, wie inzwischen jeder halbwegs aufmerksame Zeitungsleser weiß. Ich erinnere bloß an die Reizworte "Schleppnetzfahndung" und "Zusammenarbeitsgesetz" aus jüngster Zeit.

Anforderungen des Datenschutzes an die Telematik

Aus den Aussagen unseres Grundgesetzes zum Datenschutz ergeben sich konkrete Anforderungen an die Telematik - dies freilich nur, wenn Anwendungen zur Diskussion stehen, die in irgendeiner Weise Personendaten registrieren. Das sollte für den, der es mit rein sachbezogenen Anwendungsformen der Telematik zu tun hat, kein Grund sein, den Datenschutz links liegen zu lassen. Denn wenn auch in Zukunft noch so manche Anwendungsform der Telematik ohne jegliche Information über einzelne Personen auskommt - ich denke etwa an die Fernüberwachung von Kernkraftreaktoren und Produktionsprozessen - , so ist doch jetzt schon sicher, daß die Telematik unser aller Leben immer mehr bestimmen wird. Ich nenne schlagwortartig bloß die neuen Dienste der Deutschen Bundespost, Temex und ISDN, digitales Telefon und die maschinenlesbaren Ausweispapiere. Zudem sind die Übergänge zwischen der rein sachbezogenen Anwendungsform der Telematik und der mit Personenbezug fließend: So kann Temex zum einen Geschäftsräume außerhalb der Arbeitszeit, zum anderen dicht belegte Wohnungen überwachen; so können elektronische Archive alles Wissenswerte über ein Sachproblem genauso zusammenstellen wie über eine Person.

Teil 2 folgt in der nächsten Ausgabe