Niedriglohnlaender bieten preisguenstige DV-Dienstleistungen an Die Silicon Valleys der Zukunft heissen Bangalore und Tecnopolis

08.04.1994

Von Martin Weinert*

Den krisengebeutelten Grossunternehmen der Computerindustrie kommen Angebote billiger DV-Dienstleistungen aus Indien, Brasilien, den Philippinen, Mexiko, Russland und China wie gerufen. Der Export von Informatiker-Arbeitsplaetzen wird immer mehr zum Standardinstrument des Kosten-Managements.

*Martin Weinert ist Diplomkaufmann und freier DV-Autor in Muenchen.

Einer aktuellen Umfrage der Weltbank zufolge ist vor allem Indien Spitzenreiter, wenn sich europaeische und amerikanische Unternehmen nach einem neuen Standort fuer die Entwicklung und Wartung ihrer Programme umsehen. Dabei geht es nicht um einfache Dateneingabe, die Software-Unternehmen wie etwa Saztec aus Kansas City schon vor 20 Jahren in Manila besorgen liessen, sondern um die qualifizierte Anwendungsentwicklung und das Re-Engineering bestehender Softwarepakete. Deutsche Programmierer muessen sich auf Gegenwind einstellen, denn die Zeiten, in denen die Exportleistung der Drittweltlaender nur die Arbeitsplaetze Geringqualifizierter bedrohte, sind vorbei.

Nach einem Bericht der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" stiegen die Ausfuhren der indischen Elektronikbranche allein im Zeitraum zwischen April und September 1993 um 20 Prozent. Um mehr als 30 Prozent wuchs der Umsatz bei Software und EDV-Dienstleistungen.

Entwickelt sich die indische Exportoffensive weiterhin so, wie es sich Handelsminister Pranab Mukherjee vorstellt, werden sich die Exporterloese auf dem High-Tech-Sektor in den kommenden vier Jahren auf 1,5 Milliarden Dollar verdreifachen. Softwareprodukte sollen dabei mit rund fuenfzig Prozent den Loewenanteil ausmachen.

Neben Banken, Versicherungen und Fluggesellschaften mit renommierten Namen gibt sich in Staedten wie Neu-Delhi oder Bangalore inzwischen alles die Klinke in die Hand, was sich in der Computerbranche zu den Grossen zaehlt. Die Liste weltweit agierender Unternehmen, die in Indien investiert haben oder erklaertermassen nach Partnern suchen, ist beeindruckend: American Telephone and Telegraph, IBM, Digital Equipment und Texas Instruments sind ebenso vertreten wie Hewlett-Packard, Motorola, 3M, Verifone, Intel und Siemens.

Das Interesse westlicher DV-Unternehmen, gerade in Indien aktiv zu werden, kommt nicht von ungefaehr. Vielmehr sind es vor allem drei harte Fakten, die das Land als Investitionsstandort attraktiv machen. Erstens sprechen fast alle indischen Informatiker fliessend Englisch, so dass viele Kommunikationsprobleme gar nicht erst entstehen.

Dazu kommt, dass das Monatsgehalt eines westlichen Informatikers das Jahresgehalt des Kollegen in Madras oder Bombay noch uebertrifft. Arbeitszeitbegrenzungen sind hier unbekannt. Die Arbeitswoche ist um 20 Prozent laenger als in Europa oder den USA: Der Samstag gehoert dazu. Sozialabgaben fallen nicht an.

Die Hochschulausbildung als dritter Erfolgsfaktor braucht keinen Vergleich mit westlichen Instituten zu scheuen. Rund 100 000 indische Software-Experten sind ein hervorragendes Rekrutierungsootential fuer interessierte Unternehmen.

Siemens liess sich angesichts solcher Standortfaktoren nicht lange bitten und eroeffnete schon im vergangenen Jahr eine Niederlassung im suedindischen Bangalore. Nach Angaben der "Zeit" beschaeftigt der Siemens-Ableger SISL in verschiedenen Staedten bereits 250 indische Mitarbeiter, die ihr Tagewerk via Satellitenschuessel oder Standleitung nach Europa senden. Langfristig sollen es 1000 Mitarbeiter werden. In Delhi, so ein Siemens-Mitarbeiter gegenueber der "Zeit", koenne man ein und dasselbe Projekt trotz erheblicher Kosten fuer Kommunikation, Datentransfer und Spesen fuer Reisen und Schulungen rund fuenfzig Prozent guenstiger realisieren als in Muenchen.

SISL gehoert inzwischen zu den sechs groessten Software-Exporteuren in Indien. Der Wermutstropfen fuer deutsche Informatiker: Waehrend dort qualifizierte Arbeitsplaetze entstehen, wird in Deutschland abgebaut. 3900 Stellen allein im Geschaeftsjahr 1993/1994.

Um nicht nur von der Nachfrage europaeischer DV-Unternehmen abhaengig zu sein, gruenden immer mehr indische Dienstleister eigene Niederlassungen in Deutschland. Das Unternehmen Tata Consultancy Services (TCS), Bombay, fuehrt die indische DV-Exportstatistik mit einem weltweiten Umsatz von rund 1,8 Milliarden Rupien an und wirbt seit zwei Jahren von Frankfurt aus fuer "Made in India".

Das jaehrliche Umsatzwachstum des 3200 Mann starken Unternehmens betraegt zur Zeit rund 30 Prozent. Dutzende Firmen tun es den indischen Beratern und Softwarespezialisten inzwischen gleich.

Betriebe wie TCS denken langfristig und investieren in die Zukunft Indiens. So will die Tata-Gruppe zusammen mit einem Konsortium zahlungskraeftiger Unternehmen aus Singapur und mit einer Finanzspritze der indischen Regierung einen ultramodernen Technologiepark bauen. Hier sollen einmal rund 17 000 neue Arbeitsplaetze entstehen. Die Investition soll bereits in den ersten drei Jahren einen jaehrlichen Umsatz von einer Milliarde Dollar einfahren.

Indien ist schon jetzt mit einem Netz von Technologieparks durchzogen, die neben auslaendischen auch einheimische Investoren mit offenen Armen erwarten und die noetige Infrastruktur bereitstellen. Vor allem "Electronic City" in Bangalore gilt inzwischen als das Silicon Valley Indiens. Rund 12 000 Software- Experten hat nach einem Bericht der "Wirtschaftswoche" die High- Tech-Region angezogen.

Hier sind nicht nur grosse auslaendische Namen vertreten, sondern auch prominente indische Softwarehaeuser wie die Infosys Technologies Ltd., zu deren Klientel General Electric, Reebok oder Nestle gehoeren. 90 Prozent ihres Umsatzes stammen aus dem Exportgeschaeft.

Neben Indien wollen sich auch andere Niedriglohnlaender ein Stueck vom lukrativen Dienstleistungskuchen abschneiden, den bisher Europa und die USA unter sich aufgeteilt haben. Durch ein gezielt forciertes Ausbildungsniveau haben es eine Reihe von Drittweltlaendern geschafft, die Dienstleistungen "Software und Service" wettbewerbsfaehig anzubieten.

Dabei profitieren diese Laender von dem guenstigen Umstand, dass man fuer die Entwicklung und Wartung von Software ausser einem Informatiker, einem PC und einem Telefonanschluss kaum Infrastruktur benoetigt. Anders als bei Maehdreschern oder Computern, so ein Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft Grossanlagenbau gegenueber der "Wirtschaftswoche", fuehle sich ausserdem kein Zoellner fuer Daten verantwortlich.

Eines der Laender, die sich diese Umstaende zunutze machen, sind die Philippinen. Auf der letztjaehrigen Computermesse Systems in Muenchen warb eine Delegation der suedostasiatischen Inselrepublik fuer die kostenguenstige Software-Entwicklung in ihrer Heimat - erfolgreich, wie es anschliessend hiess.

Die Standortvorteile stehen denen Indiens kaum nach. Rund 30 000 DV-Experten leben auf den Philippinen; 50 000 Studenten sind zur Zeit im Fach Informatik oder anderen DV-relevanten Disziplinen eingeschrieben. Die Kosten fuer einzelne Softwareprojekte sind nach Angaben der Filipinos ebenfalls um die Haelfte guenstiger als in den USA oder Europa.

International taetige Unternehmen haben laengst die Fuehler ausgestreckt. Als erstes philippinisches Softwarehaus bekam beispielsweise die "Anderson Consulting Philippinen" vom TUEV-Buero in Hongkong die begehrte ISO-9000-Qualifikation. Der fernoestliche Arthur-Anderson-Ableger bietet jetzt Loesungen fuer verschiedene Grossrechnertypen und Betriebssystem-Umgebungen an.

Der Exportumsatz der Filipinos mit DV-Dienstleistungen hat sich nach eigenen Angaben seit 1989 vervierfacht und lag 1992 bei 40 und 1993 bei rund 60 Millionen Dollar. Schuetzenhilfe bekommt das Inselreich unter anderem im Rahmen des "German Export Development Projects", das die Gesellschaft fuer Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Eschborn betreut. Ziel der gemeinsamen Anstrengungen ist es dabei, Laendern der Dritten Welt im Rahmen gezielter Projekte zu mehr Wettbewerbsfaehigkeit und Exportleistung zu verhelfen.

Auch Vertreter der GUS-Staaten bemuehen sich seit laengerem verstaerkt um Kooperationskontakte zum Westen. Nach den politischen Umbruechen der letzten Jahre ist in Osteuropa die Notwendigkeit entstanden, Ruestungsbetriebe in High-Tech-Unternehmen umzuwandeln und statt Waffen zivile Produkte auf dem Weltmarkt anzubieten. Die Leistungsfaehigkeit der russischen DV-Industrie zeigt sich heute in den Bereichen Handschriftenerkennung, Projektmanagement, Datenbanken, Sprachsoftware und Modellierung.

Die GTZ unterstuetzt osteuropaeische Unternehmen im Rahmen des Projekts "Pro-Trade". Wenn auch die GUS-Produkte bisher keine Konkurrenz fuer westeuropaeische und US-Unternehmen darstellen, so steht dennoch wieder ein Heer von Programmierern bereit, die ihre Arbeit zu Tagessaetzen von teilweise fuenf Dollar anbieten.

Zum Sprung in das internationale Softwaregeschaeft hat auch Brasilien angesetzt. Mit dem Programm "Softex 2000" unterstuetzt die Regierung gezielt heimische DV-Unternehmen, die in den kommenden zehn Jahren einen Marktanteil von einem Prozent des Softwareweltmarkts erobern sollen.

Um den brasilianischen Unternehmern die Anstrengungen schmackhaft zu machen, sind sie bis zum Ende dieses Jahrtausends von der Industrieproduktsteuer befreit. Im Dekret 792 des - nach einer protektionistischen Phase inzwischen wieder liberalisierten - Informatikgesetzes ist ausserdem geregelt, dass die Koerperschaftssteuer halbiert wird, wenn ein Unternehmen mindestens fuenf Prozent des Jahresumsatzes fuer Forschungszwecke verwendet.

Der Kraftakt der letzten Jahre hat sich fuer einige brasilianische Unternehmen bereits gelohnt. Nach Schaetzungen der Handelsabteilung der brasilianischen Botschaft bieten rund 1000 Softwarehersteller ihre Dienste an. Unter ihnen Consist, Intercorp, Oracle do Brasil, Compucenter, ADP, Comsip, Cincom, Pansophic und SCI.

Die Software-Exportstatistik Brasiliens fuehren Unternehmen wie Microbase aus Sao Paulo an, das kuerzlich fuer rund eine Million Dollar die Software "Operational System Virtu OS386" in den USA abgesetzt hat. Der Hersteller Lantec, Sao Paulo, vertreibt das Produkt "Xpost" in Australien, USA und Japan, und die Firma Modulo aus Rio de Janeiro hat gerade die zehntausendste Kopie eines Programms ausser Landes verkauft. Das brasilianische Unternehmen Altus Sistemas de Informctica aus Porto Alegre bearbeitet den deutschen Markt bereits vor Ort ueber die Altus.

Einem Bericht der Zeitung "Veja" zufolge, waren 1992 rund 86 US- Unternehmen in Brasilien vertreten und profitieren seitdem von niedrigen Loehnen und gutausgebildeten Informatikern. Zusammen mit Privatinvestoren, DV-Firmen und technischen Universitaeten baut die Regierung Technologieparks auf.

Das bedeutendste gegenwaertige Projekt heisst Tecnopolis und ist bei der Universitaet Santa Catarina angesiedelt. Auf rund 125 000 Mann schaetzt Geraldo Miniuci Ferreira von der brasilianischen Handelsabteilung die Zahl der Informatikfachleute in dem suedamerikanischen Land.

Deutsche Investoren koennen in Brasilien nicht nur Kosten senken, sondern sich auch auf ein beachtliches Potential deutscher und deutschstaemmiger Fuehrungskraefte vor Ort stuetzen. Rund 1200 deutsche Unternehmen sind in Brasilien bereits aktiv.