Interview mit Peter Keen

"Nie wieder einen Blankoscheck für die IT"

08.11.2002
Mit Peter Keen, ehemaligem MIT- und Oxford-Professor, Buchautor und Topberater, sprach CW-Redakteur Christoph Witte über den Entwurf einer neuen IT-Architektur und die zukünftige Rolle der IT in Unternehmen.

CW: Sie haben den Begriff "Transformational Architectures" geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Keen: 20 Jahre lang haben Unternehmen an ihrer Enterprise Architecture gearbeitet, um die IT-Ressourcen zu integrieren. Die IT glich einem geschlossenen Gebäude, mit Ein- und Ausgängen. Heutige IT-Architekturen müssen aber so definiert werden, dass sie über Unternehmensgrenzen hinausreichen. Es geht darum, eine Schnittstellen-Architektur zu entwickeln, die es ermöglicht, IT-Umgebungen zu verbinden.

Erschwert wird dieser Prozess durch die panische Angst der Topmanager vor zusätzlichen finanziellen Risiken. Sie fürchten, dass eine Restrukturierung bestehender Systeme für Enterprise Resource Planning (ERP) oder Customer-Relationship-Management (CRM) in Richtung Transformational Architecture ihren kompletten Neuaufbau bedeuten würde.

CW: Ist diese Sorge berechtigt?

Keen: Nein. Es wäre gefährlich zu denken, wir müssten die Enterprise Architectures so weiterentwickeln, dass sie sowohl ihren bisherigen Aufgaben als auch neuen Anforderungen wie Web-Funktionalität und Web-Services gerecht werden könnten.

CW: Sollen Unternehmen die Investitionen in Enterprise-Architekturen einfach abschreiben und von vorn beginnen?

Keen: Ebenfalls nein. Für die bestehenden Systeme darf nur eines gelten: Nicht mehr anfassen! Lassen Sie sie in Ruhe. Bauen Sie eine Chinesische Mauer zwischen den neuen Applikationen, die der Transformational Architecture folgen, und den alten Systemen.

CW: Wie durchlässig sollte diese Chinesische Mauer sein?

Keen: Natürlich arbeiten die neuen Web-Service-basierenden Systeme mit Daten, die ihnen die Legacy-Systeme liefern. Das geht nur deshalb, weil wir jetzt über die Extensible Markup Language (XML) verfügen. Vor XML mussten neue Systeme in die Enterprise-Architekturen integriert werden. Heute ist lediglich die Kommunikation zwischen beiden Welten notwendig. Auf diese Weise lassen sich Alt- und Neusysteme entkoppeln.

Man kann die Legacy-Systeme, die nur noch gewartet werden müssen, auch outsourcen. Sie werden nach und nach verschwinden. Die Transformational Architecture nutzt Web-Services, um zwischen den Architekturen zu kommunizieren und neue, modular aufgebaute Applikationen zu entwickeln. Diese Anwendungsentwicklung folgt aber nicht dem bisherigen zwei- bis fünfjährigen Zyklus, sondern die neuen Web-Service-basierenden Applikationen werden innerhalb von 90 bis 180 Tagen als Teil eines Business-Vorhabens geschrieben. Es sind immer kleine, modular aufgebaute und selbstintegrierende Anwendungen.

CW: Welche Konsequenzen hätte dieses Szenario für Softwareentwickler?

Keen: Die Firmen unterhalten keine eigenen Entwicklungsabteilungen mehr. Es gibt ein bestimmtes Budget und einen Zeitrahmen, in dem die gewünschten Services bereitgestellt werden müssen. Wer die Arbeiten vornimmt, ist zunächst einmal nebensächlich.

CW: Funktioniert die Entwicklung solcher Services nur, wenn die alten Systeme eingemauert werden?

Keen: Ja. Aussagen, wonach wir unsere bestehenden Systeme Web-fähig machen sollten, halte ich sogar für hochgradig gefährlich. Wir konnten die Systeme bisher nicht einmauern, weil die Integration durch die verschiedenen Datenstrukturen begrenzt war. XML löst dieses Problem. Die neue Architektur bietet Schnittstellen zu den Altsystemen des eigenen Unternehmens, aber auch zu denen der Geschäftspartner, und darin liegt der Schlüssel. Diese Entwicklung dauert noch ein paar Jahre, aber sie ist unvermeidlich. Nur wenn wir operative IT-Systeme und Business-Seite entkoppeln, haben wir eine Chance, uns von den Altsystemen zu trennen; entweder indem wir sie outsourcen, oder indem wir sie irgendwann einfach abschalten.

CW: Wie wirkt sich Ihr Modell auf die IT-Kosten aus?

Keen: Wir müssen uns von der Idee des Return on Investment verabschieden. Er klingt zwar vordergründig nach einem guten Konzept, die Rechnung geht aber nicht auf. Für IT-Investitionen muss grundsätzlich Kapital aufgebracht werden, und die Ausgaben sind immer risikobehaftet. Dabei ist keineswegs sicher, dass man den Return jemals bekommt. Und wenn man ihn kriegt, dann vielleicht erst in vier oder in sieben Jahren.

CW: Investieren und nicht fragen, ob sich die Sache lohnt - das klingt nicht gerade nach einem guten Geschäft.

Keen: Ich möchte RoI durch den Begriff Return on Minimal Investment (RoMI) ersetzen. Und dafür ist es unbedingt erforderlich, dass wir lernen, Applikationen in kleinen Modulen zu bauen. IT muss vom risikobehafteten Kapitalinvestment zu einer variablen Kostenposition werden.

Ein zweiter wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang heißt Co-Sourcing. Es geht nicht um Outsourcing, bei dem Sie etwas auslagern, um im Prinzip die Verantwortung dafür loszuwerden. Beim Co-Sourcing geht es eher um Zusammenarbeit und um Business-Prozesse statt um reine IT.

Beispiel: 70 Prozent aller kommerziellen Online-Verkäufer in den USA arbeiten mit UPS zusammen. Die erledigen nicht nur den Transport, sie kümmern sich auch um Lagerhaltung, Rechnungsstellung und Inkasso. Deshalb weiß man schon gar nicht mehr genau, wo Amazon aufhört und UPS beginnt.

Der zugrunde liegende Gedanke dabei: IT ähnlich betrachten wie die Energieversorgung. Dabei garantiert die Transformational Architecture zwar noch kein Plug and Play zwischen den Applikationen über Unternehmensgrenzen hinweg, aber sie ist der Katalysator, ohne den IT die Verwandlung zum Versorger nicht antreten kann. Und das Co-Sourcing ist deshalb so wichtig, weil Unternehmen dann IT bedarfsgerecht beziehen können.

CW: Gibt es Beispiele dafür?

Keen: Innerhalb des Personalwesens gibt es eigentlich nur einige wenige Funktionen, die das Unternehmen selbst übernehmen sollte: Motivation, Beförderung und Rekrutierung beispielsweise. Aber die Masse der administrativen Tätigkeiten lässt sich auslagern.

Oder nehmen Sie etwa die Swiss Re. Diese Rückversicherung hat die meisten ihrer administrativen Standardprozesse im Kunden-Management an CSC ausgelagert. Wenn die Schweizer jetzt eine andere Versicherung kaufen, müssen sie nicht das komplette System des übernommenen Partners integrieren, sondern sie verbinden es mit dem System ihres Co-Sourcing-Partners CSC. Das bedeutet, sie können wachsen, ohne das IT-Investment selbst leisten zu müssen.

CW: Das hängt aber davon ab, mit wie viel Komplexität CSC umgehen kann.

Keen: Co-Sourcing ist das ASP der nächsten Generation. Damit sich dieses Modell etablieren kann, werden sich wahrscheinlich einige wenige Mega-Utilities herausbilden: IBM, Accenture, CSC, EDS und vielleicht zwei, drei weitere. Auch eine SAP könnte da mitspielen.

CW: Inwiefern verändert sich die Rolle der internen IT im Unternehmen?

Keen: Sie wird stärker kontrolliert: Die letzten sieben Jahre können als die IT-Lehrjahre des Chief Financial Officer betrachtet werden. Anfangs mochte er die IT nicht, weil die Kosten außer Kontrolle waren und er nichts davon verstand. Er ließ einfach die Finger davon. Dann musste er sich mit den riesigen Budgetüberziehungen bei den ERP-Ausgaben auseinander setzen und danach mit den Sonderausgaben für das Jahr 2000. Während des Web-Booms erlebte der CFO den totalen Verlust von Finanzdisziplin. Seitdem widmet er den mit IT zusammenhängenden Ausgaben viel mehr Aufmerksamkeit. CFOs werden der IT niemals wieder einen Blankoscheck ausstellen. Nie wieder!

Zweitens ist IT heute so selbstverständlich wie Bankautomaten oder Scannerkassen. Niemand staunt mehr darüber, dass etwas funktioniert, sondern man ärgert sich nur, wenn das nicht der Fall ist. Und drittens: Die IT hat ihre Ziele erreicht. Warum gibt es keinen Senior Vice President für Elektrifizierung in Unternehmen, obwohl im Geschäftsleben ohne Strom nichts funktioniert? IT ist heute nur noch eine Business-Ressource. Einen Geschäftsmann interessiert es nicht, wie der Stromversorger sein Netz betreibt. Hauptsache, der Strom kommt zum richtigen Preis aus der Steckdose. Er will ihn, wenn er ihn braucht.

CW: Welche Auswirkungen hat die von Ihnen beschriebene Entwicklung auf das IT-Personal?

Keen: IT hat eine sehr charakteristische Kultur und zieht damit einen bestimmten Typ von Menschen an. In den letzten 20 Jahren ist immer wieder versucht worden, IT-Leuten Business-Denken beizubringen. ERP und Jahr-2000-Problem haben die Vergeblichkeit dieser Bemühungen gezeigt. Übrigens war das Ansinnen auch immer unfair, ungefähr so, als wenn man von einem Ingenieur verlangen würde, Gedichte zu schreiben.

In den nächsten Jahren werden die IT-Abteilungen sehr schnell schrumpfen - durch Outsourcing der Altsysteme. Wofür brauchen Unternehmen noch Entwicklungsabteilungen, die sich in erster Linie darum kümmern, Fehler in der Middleware auszubügeln? Das werden die Dienstleister übernehmen. Ich glaube, wir bekommen einen neuen Entwicklertyp, der sich mit Web-Services befasst. Benötigt werden davon nur wenige, die sehr schnell kleine Systeme aufbauen. Sie werden in zwei Welten zu Hause sein. Die einen werden sehr gute Techniker sein, die auch in Business-Dingen einigermaßen bewandert sind. Die anderen werden mit allen Wassern gewaschene Geschäftsleute sein, die sich ziemlich gut mit IT auskennen.

CW: Können die heutigen IT-Spezialisten den neuen Anforderungen gerecht werden?

Keen: Ich fürchte nein. Früher war die Technik kompliziert, deshalb stellte man Leute mit technischen Fähigkeiten ein. Heute ist das Business schwierig, also sucht man Geschäftsleute. Der CIO versteht das. Aber diejenigen, die an ihn berichten, sind in einer Welt aufgewachsen, in der Systementwicklung den Mittelpunkt der Tätigkeit darstellte. Heute liegt der Kern im Management von Projekten - und das über die Unternehmensgrenzen hinweg.

CW: Zwischen IT und Business herrscht tiefes Misstrauen. Lässt sich das überwinden?

Keen: Ja, aber auf eine Weise, die der IT nicht unbedingt gefällt. In den USA zeichnet sich bereits ab, dass der Titel CIO nicht mehr viel gilt. In Unternehmen, die beispielsweise Konsumgüter herstellen, ist der Marketing-Chef der eigentliche CIO, in Produktionsbetrieben der Produktionschef. Sie formulieren die Anforderungen. Wenn die IT nicht bald überzeugend erklärt, warum sie weiterhin eine wichtige Aufgabe in den Unternehmen wahrnehmen soll, wird sie marginalisiert.

IT meets Business - Der IT-Kongress für Manager

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