Die erste virtuelle Fachhochschule öffnet ihre Pforten

Nie an der Uni, aber immer live dabei

23.04.1999
Um überfüllte Hörsäle können Studenten in Zukunft einen großen Bogen machen. Die virtuelle Fachhochschule bringt den Professor nach Hause.

von Holger Eriksdotter*

Ende 2000 werden sich die ersten Studenten an der virtuellen Fachhochschule immatrikulieren. Zur Zeit entwickeln 15 Hochschulen unter der Regie der FH Lübeck noch ein Konzept dafür. Dreh- und Angelpunkt der akademischen Ausbildung an der virtuellen Hochschule sind telematische Lernformen: Per Internet übertragene Vorlesungen, multimediale Computer-Based-Trainingseinheiten und Web-Based-Training, von Professoren oder Tutoren betreute und moderierte Arbeitsgruppen im Netz.

Das Forschungsprojekt ist auf fünf Jahre angelegt; in der gegenwärtigen Konzeptionsphase wird in vielen Bereichen noch nach Lösungen gesucht, aber die Konturen des virtuellen Hochschulbetriebs nehmen Form an.

"Vieles, was wir verwirklichen wollen, gibt es schon, räumt Projektleiter Rolf Granow, Professor an der FH Lübeck, ein. "Neu ist, daß wir alle verfügbaren technischen, pädagogischen und methodisch-didaktischen Mittel ausschöpfen und in ein Gesamtkonzept integrieren. Die Lehrinhalte werden in telematisch vermittelbare Module umgesetzt. Das Ziel sind komplette Studiengänge, die zum selben international anerkannten Abschluß führen wie ein Präsenzstudium. Diese curriculare Arbeit ist eine Mammutaufgabe: Allein das Vollstudium zum Medieninformatiker besteht aus 16 verschiedenen Lehrfächern. Keine Hochschule kann diesen Stoff allein telematisch aufbereiten. Deswegen arbeiten bundesweit zwölf Fachhochschulen zusammen. Ein weiterer Vorteil dieses partnerschaftlichen Modells: Die Studenten können sich an einer Fachhochschule in der Nähe ihres Wohnortes eintragen, um die Anfahrt zu den wenigen Präsenzveranstaltungen oder zu einer

Fachbibliothek kurz zu halten.

Videokonferenz mit dem Dozenten

Ohne Bibliotheken geht es auch an der virtuellen Uni nicht. Zwar werden Skripten oder digitale Videos der Vorlesungen, Seminarunterlagen, Übungen und Lernprogramme online oder auf Materialien-CDs verfügbar sein - aber keine Lehrbücher. "Technisch ist es zwar kein Problem, die Fachliteratur zu digitalisieren und ins Netz zu stellen - aber dem stehen die Copyright-Bestimmungen entgegen, bedauert Granow die Rechtslage.

Abgesehen davon sieht der Student die Hochschule kaum noch. Fast alle Studieninhalte sollen telematisch verfügbar sein. Vorlesungen werden live über das Internet übertragen, per Videokonferenz können die Studenten Fragen an die Dozenten stellen und auch mit den Kommilitonen reden. Wegen dieser Interaktionsmöglichkeiten werden die Lerngruppen indes auf 20 bis 25 Personen beschränkt. "Da liegt die Leistungsgrenze heutiger Videokonferenz-Systeme, erklärt Michael Praetorius, zuständiger Professor für die Technik der virtuellen Hochschule.

Teamarbeit mit Chat

Für das Studium daheim werden zwei am Projekt beteiligte Softwarefirmen und externe Dienstleister spezielle CD- und Web-Module entwickeln, die sich an den Inhalten und Anforderungen der virtuellen Hochschule orientieren. Wenn möglich, sollen jedoch auch vorhandene Programme eingesetzt werden. Letztlich muß eine technische Infrastruktur geschaffen werden, die mit Chat-Room, Newsgroups, Schwarzen Brettern und Videokonferenzen die Basis für eine Gruppen- und Projektarbeit bilden soll. Hier können sich Studenten in Arbeitsgruppen zusammenfinden beziehungsweise unter der Anleitung des Dozenten oder Tutors gemeinsam an Projekten arbeiten. Eine virtuelle Studienagentur verwaltet das Studium: Vorlesungsverzeichnisse, Kursbelegung, Studienberatung und Bekanntmachungen sind online verfügbar und machen das Studentensekretariat überflüssig.

Gerhard Zimmer, Inhaber des Lehrstuhls für Berufs- und Betriebspädagogik an der Universität der Bundeswehr in Hamburg und Experte für telematische Lernformen, entwickelt das pädagogische und methodisch-didaktische Konzept der virtuellen Hochschule. "Wir müssen verschiedene Lernformen organisieren: Lehrveranstaltungen, Selbst- und Gruppenlernprozesse sowie berufsbezogene Studieneinheiten." Einzelne Elemente, die schon vielfältig eingesetzt werden, müssen nach seiner Einschätzung nur sorgfältig aufeinander abgestimmt und kombiniert werden, damit die pädagogische Infrastruktur funktioniert.

Denn während der Studierende an Fernuniversitäten das Lerntempo weitgehend selbst bestimmen kann, sieht das pädagogische Konzept der virtuellen Hochschule das kooperative Lernen mit Kommilitonen im Semesterverbund vor - wie an der richtigen Uni. Das Lernen in Gruppenarbeit und das Arbeiten an gemeinsamen Projekten - ein wichtiger Bestandteil der studentischen Ausbildung - kann so auch im virtuellen Rahmen erhalten bleiben.

Zwei möglichen Vorurteilen will Granow vorbeugen: Es handelt sich bei der virtuellen Fachhochschule weder um ein Rationalisierungsprojekt, noch ist eine Ablösung der konventionellen Uni geplant. Im Gegenteil: Mit dem Angebot, den weitaus größten Teil des Studiums ohne Anwesenheitspflicht zu absolvieren, sollen Zielgruppen angesprochen werden, denen der Zugang zur Hochschule bisher verschlossen blieb. Granow sieht hier die Hochschulen in der Pflicht, nach neuestem Forschungs- und Entwicklungsstand Studienmöglichkeiten anzubieten, die den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen gerecht werden und das vielzitierte lebensbegleitende Lernen in praktikable Konzepte umsetzen. Der Hochschullehrer: "Gerade Berufstätige, für die Weiterbildung häufig von essentieller Bedeutung ist, sind bisher vom Bildungsangebot der Hochschulen praktisch ausgeschlossen.

Zielgruppe Berufstätige

Auf diese Zielgruppe ist der erste Studiengang ausgerichtet, der Ende des Jahres 2000 angeboten wird: Mit einem Aufbaustudium können sich Ingenieure dann zum Wirtschaftsingenieur fortbilden. Erst ein Jahr später stehen Vollstudiengänge zum Medieninformatiker oder Wirtschaftsingenieur auf dem Programm. Das Studium kann mit einem der europaweit anerkannten Abschlüsse Bachelor, Diplom oder Master absolviert werden.

Gratis werden die Aufbaustudiengänge nicht sein; die Höhe der Studiengebühren steht aber noch nicht fest. Laut Granow müssen die Preise auf jeden Fall dem Vergleich mit privaten Bildungsanbietern und Fernuniversitäten standhalten.

Wie das Vollzeitstudium finanziert wird, ob und in welcher Höhe auch hier Studiengebühren anfallen, muß vor der Immatrikulation des ersten Studenten noch geklärt werden. Denn das FH-Studium ist in Deutschland grundsätzlich kostenlos. Ob die virtuelle Hochschule dieses Prinzip durchbricht und Studiengebühren erhebt, "ist letztlich eine politische Entscheidung, so Granow. Ebenso offen ist die Frage, ob es dafür eine Förderung nach dem BAFöG geben wird.

Das Zulassungsverfahren wird sich jedenfalls nicht von dem jetzigen unterscheiden - und bildet für viele Berufstätige eine scheinbar unüberwindbare Hürde. Denn potentielle Interessenten, die sich nach Realschulabschluß und Lehre innerbetrieblich oder mit Seminaren weitergebildet haben, sind zwar hochqualifiziert - aber ihnen fehlt das Abitur. "Das ist meist kein Problem, erläutert Granow, "denn in vielen Bundesländern, darunter Hamburg und Schleswig-Holstein, gibt es liberale Regelungen, die den Zugang zur Fachhochschule bei entsprechender Berufspraxis ermöglichen - auch ohne Fachhochschulreife. Aber davon wird bisher kaum Gebrauch gemacht.

Das könnte sich mit der virtuellen Hochschule ändern. Mit Rücksicht auf die angepeilte Zielgruppe sollen auch die wenigen Präsenzphasen so angesetzt werden, daß Berufstätige teilnehmen können.

Das kostenpflichtige Aufbaustudium spielt auch bei der finanziellen Gesamtplanung eine Rolle: "Diese Einnahmen können wir zur Mitfinanzierung des später beginnenden Vollstudiums einsetzen, hofft der Projektleiter. Außerdem soll eine "Online-Weiterbildungs-Agentur, eingebunden in Anbieter- und Beratungsnetzwerke, mit der Vermarktung von Ausbildungsmodulen für die persönliche und betriebliche Weiterbildung zusätzliche Einnahmequellen erschließen. Für den Anfang ist die Finanzierung auf jeden Fall gesichert: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt für die ersten fünf Jahre mit insgesamt 42 Millionen Mark.

Kamera ist ein Muß

Die betriebswirtschaftlichen Erwägungen haben sicher dazu beigetragen, daß sich die virtuelle Fachhochschule als eines von fünf Projekten in einer Ausschreibung von insgesamt 251 Wettbewerbsbeiträgen durchgesetzt hat. Entscheidend aber war das Gesamtkonzept: Die Beschränkung auf nur zwei Fachhochschul-Ausbildungsgänge, die mit ihrer berufspraktischen Orientierung einfacher telematisch umsetzbar sind als Universitätsstudiengänge, spielte dabei ebenso eine Rolle wie der Ansatz, neue telematische Organisationsformen und methodisch-didaktische Konzepte zu entwikkeln. Auch der Zusammenschluß mehrerer Fachhochschulen, die wissenschaftliche Begleitung in allen Projektphasen und ein fester Zeitplan für die praktische Umsetzung haben die Juroren überzeugt.

Die tatsächlichen Kosten für Forschung, Aufbau und Betrieb sind zur Zeit nur schwer absehbar. Aber auf die Studenten kommen auch ohne Studiengebühren einige Kosten zu. Zur notwendigen Ausstattung gehören neben dem PC eine Kamera, ein Mikrofon und der ISDN-Anschluß. Kaum ein Problem, sagt Praetorius. "Einen PC mit Internet-Zugang hat heute schon fast jeder Student, die zusätzlichen Geräte schlagen nur mit wenigen hundert Mark zu Buche. Den Internet-Zugang stellen die Hochschulen zur Verfügung, bei den Telekommunikationsgebühren setzt Granow auf die fallenden Preise: "Bis wir den Betrieb aufnehmen, sind sicher auch die Kosten für Ortsgespräche deutlich gesunken. Außerdem kann ein großer Teil des Studiums offline stattfinden; so soll das Unterrichtsmaterial zum Download angeboten oder auf CDs zur Verfügung gestellt werden. Die Online-Kosten bleiben dadurch im Rahmen.

Gelegentlich werden sich aber auch die Studenten der virtuellen Alma Mater ganz real aus dem Bett quälen müssen: "Wir werden nicht völlig auf Anwesenheitsseminare verzichten können, kündigt Granow an. Und bei Prüfungen werden virtuelle Studenten sogar ihre reale Identität mit dem Personalausweis belegen müssen - das ist in den Prüfungsordnungen festgeschrieben.

*Holger Eriksdotter ist freier Journalist in Hamburg.