Abschied vom Java-Plattform-Geschäft

Netscape konzentriert sich auf Server-Entwicklung

24.04.1998

CW: Die letzten wirtschaftlichen Ergebnisse von Netscape waren nicht gerade gut. Wie steht Ihre Firma jetzt da?

Cagan: Wir haben hart daran gearbeitet, vom Browser-Verkauf unabhängig zu werden und unsere Server-Umsätze zu steigern. Eigentlich wollten wir den "Navigator" schon vor einem Jahr kostenlos abgeben, waren dazu aber noch nicht in der Lage. Das Client-Geschäft machte damals noch die Hälfte unseres Umsatzes aus. Wir hatten es zum Schluß auf unter zehn Prozent gedrückt und gleichzeitig den Gesamtumsatz verdoppelt. Natürlich hätten wir noch gerne ein weiteres Quartal Einnahmen aus dem Browser-Geschäft erzielt. Microsoft übte aber sehr starken Druck auf uns aus, vor allem durch das Bundling des "Internet Explorer" mit dem Betriebssystem.

Trotzdem sind wir immer noch Marktführer bei Web-Browsern und bemühen uns, das auch weiterhin zu bleiben. Dafür riefen wir beispielsweise das "Unlimited Distribution Program" ins Leben. Es erlaubt jedem Unternehmen, den Navigator mit dem eigenen Firmenlogo zu versehen, die Bookmarks nach Belieben anzupassen und unbeschränkt zu vertreiben. Auf diese Weise haben wir zusätzliche 60 Millionen Kopien unseres Browsers unter die Leute gebracht.

CW: Was haben Sie denn davon, wenn Sie mit dem Browser ohnehin nichts verdienen?

Cagan: Der Marktanteil ist trotzdem wichtig. Die Verbreitung des Navigator fördert nämlich unsere anderen Geschäftszweige. Das betrifft die Werbeeinkünfte aus unserer Web-Site ebenso wie den Server-Verkauf. Anwender sehen die Vorteile offener Standards wie LDAP oder IMAP, die unser Browser unterstützt. Sie wollen sie auch in ihren Unternehmen nutzen. Dies führt zu Server-Verkäufen.

CW: Die meisten Anbieter bedienen diese Internet-Standards mittlerweile ebenso. Warum sollte ausgerechnet Netscape steigende Server-Verkäufe damit generieren?

Cagan: Unser Argument ist die Qualität der Implementierung und der günstige Preis. Wir unterstützen die Standards nativ, während die meisten Konkurrenten ihre proprietären Systeme nachträglich mit Gateway-Funktionen aufmöbeln. Das ist auch der Grund, warum unsere Produkte am besten skalieren und die höchste Performance bieten.

CW: Der Communicator enthält eine Reihe von Modulen, die von Drittanbietern stammen. Haben Ihnen Hersteller von Zusatzkomponenten für die Publizierung des Programmtextes bereits grünes Licht erteilt?

Cagan: Diese Browser-Erweiterungen gehören nicht uns, also dürfen wir sie auch nicht für die Öffentlichkeit freigeben. Wir haben diese Firmen aber eingeladen, sich unserer Initiative anzuschließen. Einige haben dies bereits getan, andere haben sich noch nicht entschieden. Bei Sicherheitsfunktionen zwingt uns der amerikanische Staat, den Quellcode unter Verschluß zu halten.

CW: Professionelle Anwender wird wahrscheinlich interessieren, ob der Hersteller des integrierten Object Request Broker (ORB), die Borland-Tochter Visigenic, mit von der Partie ist.

Cagan: Visigenic hat der Veröffentlichung des "Visibroker"-Quellcodes noch nicht zugestimmt. Sun hat aber angekündigt, mit der nächsten Version des Java Development Kit (JDK) einen eigenen ORB auszuliefern. Das könnte bei Visigenic zu einem Sinneswandel führen.

CW: Sie eifern durch die Freigabe des Browser-Codes wohl dem Erfolgsmodell Linux nach. Glauben Sie nicht, daß Unternehmen einem solchen Produkt skeptisch gegenüberstehen werden? Beispielsweise werden sie Fragen des Supports geklärt wissen wollen.

Cagan: Selbst bei Linux gibt es in den USA eine Reihe von Unternehmen, die für dieses System Support leisten. Im Fall des Communicator liegt die Sache noch einfacher: Wir werden Anwender bei seinem Einsatz unterstützen, da wird sich gegenüber der jetzigen Situation nichts ändern.

CW: Anwender wollen sichergehen, daß sie eine einheitliche Version des Browsers nutzen, der sich auf allen Plattformen möglichst gleich verhält. Wie wollen Sie dies gewährleisten?

Cagan: Wir werden eine Referenzimplementierung auf den Markt bringen. Nur sie wird das Netscape-Logo tragen. Wenn andere Anbieter ihre eigene Communicator-Versionen vertreiben wollen, dann bieten wir ihnen die Möglichkeit zur Zertifizierung an. Mit Hilfe von Testprogrammen werden solche Varianten auf ihre Kompatibilität überprüft. Anwender können dann sicher sein, daß ein derart zertifiziertes Produkt in allen grundlegenden Funktionen mit unserem übereinstimmt.

CW: Wir haben festgestellt, daß die eben erschienene Version 4. 05 des Communicator keinerlei Fortschritte bei der Kompatibilität mit dem JDK 1. 1 macht. Deshalb fehlt auch weiterhin das Java-Logo. Ist Java nicht mehr wichtig für Netscape?

Cagan: Java ist weiterhin sehr wichtig für uns. Wir wollen aber zukünftig unsere Aktivitäten anders gewichten und in erster Linie ein Java-Anwender werden. Bisher waren wir beides, Java-Nutzer und Plattformanbieter. Als Netscape Java von Sun in Lizenz nahm, existierte genau eine Virtual Machine (VM), und zwar für Solaris. Wir mußten die Ablaufumgebung auf 15 der von uns unterstützten Plattformen portieren, dort testen und für jede optimieren. Der Aufwand war sehr groß, und es war uns trotz aller Bemühungen nicht möglich, mit den schnellen Java-Updates Schritt zu halten. Mittlerweile gibt es für praktisch jedes Betriebssystem eine gut angepaßte VM, und es ist nicht mehr nötig, daß wir eine eigene entwickeln. Deshalb arbeitet Netscape am "Open Java-API", über das sich Java-Ablaufumgebungen anderer Hersteller in unsere Produkte einbinden lassen. Diese Schnittstelle ist für unsere Client- und Server-Produkte einheitlich und wird Bestandteil des Communicator 5 sein.

CW: Der Communicator 5 soll erst Ende des Jahres auf den Markt kommen. Somit steht Anwendern bis dahin keine populäre Ablaufumgebung zur Verfügung, die mit dem JDK 1. 1 oder gar dem in Kürze erscheinenden JDK 1. 2 kompatibel ist. Glauben Sie nicht, daß Sie damit dem von Ihnen, Sun, IBM und Oracle propagierten Thin-Client-Modell schaden?

Cagan: Wir unterscheiden bei diesem neuen Anwendungsmodell zwischen zwei Einsatzgebieten: Intranets auf der einen Seite, Extranets und das Internet auf der anderen. Für letztere eignet sich HTML zusammen mit Javascript besser, weil Java-Anwendungen Probleme bereiten können, wenn sie über Firewalls hinweg genutzt werden. In Intranets haben Anwender viel mehr Kontrolle über die DV-Umgebung und können den Einsatz von Java sowohl am Client als auch am Server wesentlich flexibler gestalten. Netscape war immer schon mehr auf Business-to-Business, also auf das Internet und Extranets ausgerichtet.

CW: Netscape hat Ende letzten Jahres mit Kiva den Hersteller eines Applikations-Servers übernommen. Dazu gehört auch das Entwicklungswerkzeug "Application Builder". Wie positionieren Sie diese Produkte im Vergleich zu den bereits vorhandenen Enterprise Server und "Visual Javascript"?

Cagan: Die Antwort darauf ist relativ einfach. Visual Javascript eignet sich besonders für die Abteilungsebene, Application Builder hingegen zielt auf den unternehmensweiten Einsatz. Die Entscheidung für den Applikations-Server sollte fallen, wenn es vor allem auf hohe Skalierbarkeit und Verfügbarkeit rund um die Uhr ankommt. Wenn Sie ein Update einer Anwendung einspielen wollen, ohne sie dabei herunterzufahren, oder wenn Sie Spitzenlasten bewältigen müssen, dann ist er die richtige Wahl.

CW: Es sieht so aus, als sei der Application Builder keine vollwertige Entwicklungsumgebung für den "Netscape Application Server", weil Sie auf Ihrer Web-Seite besonders auf Tools von Drittanbietern hinweisen. Sind Anwender da mit Konkurrenzprodukten wie "Apptivity" von Progess oder jenem ihres ehemaligen Partners Netdynamics nicht besser bedient?

Cagan: In der ersten Version, die noch von Kiva entwickelt wurde, kamen die Entwicklungswerkzeuge etwas zu kurz. Kiva konzentrierte sich vor allem auf die Bereitstellung von Programmier-Schnittstellen. Die Version 2. 0, die nun unter der Ägide von Netscape herausgebracht wurde, ist eine vollwertige Entwicklungsumgebung. Aber sie verfügt für die Java-Entwicklung nur über die grundlegenden Funktionen. Das Werkzeug kann aber mit allen gängigen Java-Entwicklungs- Tools zusammenarbeiten.

CW: Netscape hat im letzten Jahr Actra, das Joint-venture mit General Electric Information Systems (GEIS), übernommen. Welche Rolle spielen dessen E-Commerce-Produkte "Commerce Xpert" im Vergleich zu Ihrem Server-Paket Suitespot oder dem Application Server?

Cagan: Beide Produktlinien betreffen E-Commerce. Sie unterscheiden sich nur darin, ob Anwender eigene Lösungen entwickeln oder Applikationen von der Stange kaufen wollen. Für ersteres sind unsere Server gedacht, für zweiteres die fünf Actra-Produkte. Sie bestehen aus "Merchant Xpert", "Seller Xpert", "Buyer Xpert" "Publishing Xpert" und "EC Xpert". Viele unserer Kunden entscheiden sich für eine Mischung aus beiden, indem sie einen Teil der Anwendungen über die vorgefertigten Produkte abdecken und den Rest selbst entwickeln.