In den 90er Jahren breite Anwendung von X.400, FTAM und Edifact

Mit OSI Zug um Zug in die Praxis offener Kommunikation

05.01.1990

OSI Standards wie X.400 und FTAM beginnen, sich auch außerhalb von wohlmeinenden Multivendor-Präsentationen zu behaupten. Die übrigen Normen sind indes noch ganz und gar nicht sattelfest. Die 90er Jahre werden daher, bedingt durch die harte Praxis zweifellos zahlreiche weitere Detailkorrekturen und Feinarbeiten im Standardisierungs-Prozeß mit sich bringen.

Mannigfaltige Normierungs- und Standardisierungsgremien sind national und international aktiv, um das ISO/OSI-Modell mit Leben zu erfüllen. Entsprechend bunt und vielfältig stellt es sich heute dar, (siehe Darstellung 1). Die Betrachtung des doch sehr komplexen Bildes führt natürlich sofort zu der Frage, ob OSl für die Datenkommunikation in der Unternehmenswirklichkeit überhaupt von Relevanz ist? Diese Frage läßt sich sicherlich mit "Ja" beantworten.

Handhabbare Bewertungskriterien

Für eine detaillierte Antwort ist es allerdings notwendig, den Begriff der Relevanz in handhabbare Bewertungskriterien zu zerlegen wie Stand der Normierung, Akzeptanz durch die Hersteller und Akzeptanz durch die Anwender. Dabei gibt der Stand der Normierung an, ob die entsprechende Festlegung "Draft Proposal" (DP), "Draft International Standard" oder bereits "International Standard (IS)" ist, das heißt, wie weit die Norm bereits definiert und in ihren technischen Spezifikationen stabil geworden ist.

Für die Durchsetzung in der Unternehmenspraxis sind die beiden anderen Kriterien von weit wichtigerer Bedeutung. Sie sind letztlich Gradmesser für die Marktakzeptanz der Standards. So nehmen sich Hersteller der Standards an und münzen sie in Produkte und Systeme um, die sie am Markt anbieten.

Wichtige Protokolle in stabilem Zustand

Anwender kaufen die Produkte und Systeme der Hersteller und setzen sie für die Lösung ihrer Probleme in der Prax is ein, (siehe dazu Abbildungen 2 und 3). Es zeigt sich, daß im Bereich der Anwendungsdienste mit X.400 und FTAM bereits wichtige Protokolle, die jeweils spezifischen Kommunikationsprofile ("store and forwarding" beziehungsweise, Bulk-Transfer"), abdecken und in einem stabilen Zustand als IS sind. Ebenfalls als gefestigt bezeichnet werden können VT (Virtuelles Terminal) und JTM "Job Transfer and Manipulation".

TP (Transaction Processing) und ODP (Open Distributed Processing) sind noch relativ neue Normierungsbemühungen, so daß hier erst vorläufige Ergebnisse vorliegen.

Bei den Datenaustauschformaten ist ODA/ODlF für den Austausch von Bürodokumenten und Edifact für den Austausch normierter (Handels-) Daten fixiert. Dabei stellt sich Edifact im Vergleich zu ODA/ODIF wesentlich einfacher in seiner Struktur dar. Bei Edifact ist nur die Edifact-Syntax durch ISO genormt, die Entwicklung und Normung der benötigten Nachrichtentypen wird von anderen Institutionen (zum Beispiel UN-Wirtschaftskommission und Edifact-Board der EG) wahrgenommen.

Die zum Teil doch recht großen Fortschritte in der Normierung spiegeln sich nur teilweise auf der Herstellerseite wider. Von den 16 betrachteten Herstellern bieten heute zwölf X.400 beziehungsweise neun FTAM als Produkte an, entweder für ihre gesamte Produktpalette oder für ausgewählte Systemlinien. Weltweit lassen sich heute rund 50 X.400-Produkte finden. Produkte für VT, JTM, TP und ODP dagegen sind heute nicht am Markt vorhanden.

Bei den Datenaustauschformaten gibt es bezüglich ODA/ODIF einen "harten" Kern von Herstellern, die im Zusammenhang mit Esprit-Projekten Jahr für Jahr auf der CeBIT in Hannover die "ODA-Flagge" hochhalten. Dabei ist durchaus ein Wachstum in der Zahl der beteiligten Hersteller festzustellen, wenn auch nur sehr moderat. Vergleicht man dagegen Edifact, so stellen die hier aufgeführten Hersteller nur die Spitze des doch sehr großen EDI-Interesses dar, wie es sich auf der Anwenderseite zeigt.

So sind bei Edifact eine große Zahl von Anwendergruppierungen dabei, quer durch alle Branchen und mit starker Unterstützung durch politische Institutionen (zum Beispiel EG-Kommission) den "elektronischen Datenverkehr (EDI)" in die Praxis umzusetzen. Diese Gruppierungen definieren - aufbauend auf der (ISO-)genormten Edifact-Syntax - branchenspezifische Nachrichtentypen, sie untersuchen offene EDI-Fragestellungen (zum Beispiel Kommunikationsverfahren, Datenschutz oder "Legal Aspects") beziehungsweise legen Pilotprojekte für Edifact auf, die in Teilen bereits in den praktischen Einsatz übergegangen sind.

Betrachtet man die übrigen Standards, so sind einzig X.400 und FTAM heute dabei, den Bereich der Demo-Installationen zu verlassen und Eingang in konkrete Anwendungsprojekte zu finden. Ansonsten sind nur Demo-Einsätze für Messen und Kongresse hinsichtlich einzelner Standards (zum Beispiel ODA/ODIF) festzustellen.

Abbildung 2 hat die ISO/OSI-Welt von heute gezeigt. Für die Frage nach der Relevanz von ISO/OSI ist nun aber nicht allein die Gegenwart wichtig, sondern vor allem auch: "Wie geht es weiter mit ISO/OSI (auf dem Layer 7)? Wie sind die Planungen der Hersteller beziehungsweise welche Trends am Markt sind festzustellen?"

Auf der Basis der obigen Kriterien gibt Abbildung 3 einen Ausblick auf die Zukunft.

Zögernde Haltung hinsichtlich VT

In der Standardisierung sollen bis 1991/92 alle heute sichtbaren Layer-7-Protokolle den Status "IS" erzielt haben. Auf der Herstellerseite werden alle betrachteten Hersteller bis 1992 X.400 anbieten, entsprechendes gilt für FTAM. Bezüglich VT ist eine eher zögernde Haltung festzustellen. Hier spielt sicher die Frage nach der Sinnhaftigkeit von VT eine Rolle. Die Implementierung von VT als Protokoll, das die Anwendungen von den charakteristischen Eigenschaften einzelner Terminals abschottet, verlangt Intelligenz auf der Terminalseite. Ob dieses intelligente Terminal (heute und in der ZukunÝt wohl ein PC) über ein Terminalprotokoll kommunizieren muß oder ob es in eine verteilte IuK-lnfrastruktur via Rechner-Rechner-Kopplung eingebunden wird, ist eine offene Problemstellung. VT stellt sich als ein Protokoll dar, das auf sternförmige Terminalnetze an einem zentralen Host zugeschnitten ist. Diese "klassische" DV-Struktur löst sich aber zunehmend durch den Einfluß immer leistungsfähigerer PCs und Netzstrukturen wie LAN und ISDN-PABX auf.

JTM -Produkte sind nicht in Sicht

Für JTM sind keine Herstellerprodukte vorhanden und - soweit erkennbar - auch nicht geplant. Aus der Konzipierung des JTM-Standards muß man hier die Frage stellen, was JTM an Neuem bringt, das nicht auch durch andere Protokolle abgedeckt werden kann. TP und ODP sind heute noch zu undifferenziert, um konkrete Aussagen machen zu können. TP adressiert den Markt des "Online Transaction Processing (OLTP), dem rasante Wachstumschancen vorausgesagt werden. Insoweit ist die Basis für die Durchsetzung von TP sehr gut. TP als ISO-Standard wird sich allerdings gegen den entsprechenden IBM-Standard LU 6.2, beziehungsweise in seiner Inkarnation als "Advanced Program to-Program Communication (APPC)", am Markt durchsetzen müssen. LU 6.2 ist heute bereits auf verschiedenen (IBM)-Maschinen implementiert und eingesetzt.

Bei den Datenaustauschformaten wird Edifact weiter an Boden gewinnen, da es sich für wichtige Problemstellungen in der Praxis, wie zum Beispiel "Just-in-Time"-Fertigung, weltweite Logistiksysteme etc. als Standard anbietet, der hier unmittelbar zu einer adäquaten Lösung beitragen kann. Edifact als reines Datenaustauschformat wird für die Kommunikation auf Standards wie X.400 und FTAM zurückgreifen. X.400 and FTAM werden über Edifact einen signifikanten Akzeptanzschub am Markt bekommen. Unterstützt wird dies durch die lntegration der isoliert entwickelten Einzelstandards. So wird für X.400 in der nächsten Studienperiode der CCITT die Erstellung eines speziellen PEDI-Features zur lntegration von Edifact in X.400 untersucht.

Unvollständiges Netzmanagement

Will man den Weg von ISO/ OSI in die 90er Jahre zusammenfassend beschreiben, so kann man folgendes feststellen:

- ISO/OSI als Modell ist anerkannt und verfügt auch über stabilisierte Protokolle auf den einzelnen Layern. Die 90er Jahre werden weitere Details bringen und sicher auch Normierungsergebnisse in heute noch nicht (komplett) normierten Gebieten (zum Beispiel Netzwerkmanagement, Sicherheit).

- Einzelne Protokolle sind heute stabil und verlassen auch langsam das "geschützte Gehege´´ der Messe-Demos (X.400, FTAM). Für ein umfassendes OSI-Netzwerk fehlen allerdings dem Netzwerkmanagement und dem Sicherheits-Framework" noch wichtige Teile.

- Durch den Eintritt in die "harte" Praxis werden andere Anforderungen an die Standards gestellt, als sie in der Normierung erforderlich sind. Im praktischen Einsatz werden Fehler, Unsauberkeiten und Unvollständigkeiten im Standardisierungsprozeß offengelegt werden, die es in entsprechenden Reviews des Standards zu beheben gilt. Zunehmend wichtiger werden dabei die Fragen nach Kompatibilität und Interoperabilität. Die zuständigen Normierungsgruppen, wie Spag, COS und auch Eurosinet werden hier massiv gefordert werden.

- FTAM und X.400 werden sich nach Überwindung der Kinderkrankheiten im Markt etablieren und Zug um Zug veraltete oder geschlossene Ansätze ablösen. Von der Erwartungshaltung der entsprechenden ISO/OSI-Hersteller wird 1993 ein Durchbruch erwartet.

- Edifact wird in den 90er Jahren die Phase der Pilotfelder verlassen und breite Anwendung finden. X.400 und FTAM werden hier eine wichtige Rolle spielen.

- Protokolle, die modernen Entwicklungen im IuK-Bereich nicht Rechnung tragen, werden auch als "International Standards" nicht den Weg in den Markt finden. Insgesamt läßt sich sagen, daß ISO/OSI seine Geburtswehen überstanden hat. In den 90er Jahren sollte es nun gelingen, den Kinderschuhen weiter zu entwachsen und die Forderung nach "offenen" Netzen Zug um Zug in die Praxis umzusetzen. Die Chancen dafür stehen gut.