IT made in Germany/Was tun, wenn die Märkte gesättigt sind?

Mit neuer Wertschöpfung aus der Krise

17.01.2003
Nach Jahren ungebrochenen Wachstums befindet sich die IT-Branche erstmals in einer nachhaltigen Rezession. Die Märkte sind gesättigt. Allerdings gibt es Wege, die aus der hausgemachten Krise herausführen können. Von Michael Dressen*

Die IT-Branche blickt auf ein gigantisches Wachstum zurück. Kaum ein Wirtschaftszweig konnte in so kurzer Zeit derart hohe Zuwachsraten verzeichnen. Bisherige Einbrüche in einzelnen IT-Segmenten wurden durch stärkeres Wachstum in anderen Bereichen ausgeglichen oder gar übertroffen. Beispielsweise kamen Anfang der 80er Jahre einige traditionelle deutsche Unternehmen für mittlere Datentechnik wie Nixdorf in große Schwierigkeiten, zugleich boomte jedoch der PC-Markt. Dies löste einen bisher unübertroffenen Höhenflug aus, der 25 Jahren andauerte.

Vor rund neun Jahren wurden weltweit erstmals genau so viele PCs wie PKWs verkauft, nämlich rund 35 Millionen Stück. Die IT-Industrie hatte in nur 20 Jahren ein Wachstum hingelegt, für das die Automobilindustrie mehr als 60 Jahre gebraucht hatte. Im Jahr 2000 konnten schließlich 130 Millionen PCs und zirka 40 Millionen Personenfahrzeuge abgesetzt werden. Doch im folgenden Jahr fielen die Verkäufe von PCs auf 122 Millionen Stück. Handelt es sich dabei nur um ein Innehalten, oder haben wir eine Grenze erreicht, an der das Wachstum auf Dauer abflacht? Die Experten in der Industrie sind sich einig und setzen auf eine kurze Verschnaufpause. Kann das jedoch sein?

Eine Branche - zwei Motoren

Das Wachstum in der IT-Branche wurde bislang durch zwei leistungsfähige Motoren angetrieben: Einerseits hat seit 20 Jahren die Anzahl der Anwender stetig zugenommen, andererseits gab es kontinuierliche Innovationsschübe, die schnelle Generationswechsel der Technologie forcierten. Zumindest der erste Markttreiber scheint jedoch nun an seine Grenzen gestoßen zu sein. In den USA stellten Marktforscher schon 2001 fest, dass der Anteil der Haushalte mit PCs die Schwelle von 60 Prozent nicht signifikant übersteigt. Dies ist anders als bei Fernsehgeräten, wo eine Marktsättigung erst bei 95 Prozent der Haushalte erreicht wurde. Sollten also tatsächlich die zentralen IT-Märkte Europa, Japan und die USA gesättigt sein, dann muss sich die Hoffnung der Branche allein auf die technische Innovation als Triebkraft richten. Wie sind hier die Aussichten?

Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Entwicklung der Automobilindustrie: Das Wachstum der Pkw-Verkäufe in den vergangenen Jahren betrug durchschnittlich 14 Prozent; dies verlief aber nicht kontinuierlich, sondern wurde von starken Schwankungen gekennzeichnet. In den zentralen Märkten Westeuropa, Japan und Nordamerika hat es nach Absatzzahlen sogar überhaupt kein Wachstum gegeben. Angesichts der technischen Innovationen, die in den letzten Jahren von der Autoindustrie hervorgebracht worden sind, ist dies erstaunlich. Wer sich heute in ein zehn Jahre altes Fahrzeug setzt, wird einen drastischen Unterschied zum Status quo bemerken - kein Navigationssystem, kein Antiblockiersystem, kein Airbag. Der Kontrast in Komfort, Sicherheit und Technologie zu heutigen Fahrzeugen ist enorm.

Dennoch fand kein Mengenwachstum statt. Die Märkte für Personenwagen in den zentralen Industrienationen waren schon seit längerem gesättigt. Innovation führt hier nur noch zum Vorsprung einer Automarke gegenüber anderen und damit zu Mengenwachstum bei einem Hersteller, während eine andere Marke zurückfällt. Der Markt insgesamt stagniert jedoch. Dieses Phänomen ist kein isolierter Trend, sondern in vielen Industriesegmenten zu beobachten. So gibt es etwa bei Fernsehgeräten oder Waschmaschinen zumindest in den entwickelten Nationen schon seit über zehn Jahren kein Mengenwachstum mehr. Selbst das Umsatzwachstum bewegt sich hier zyklisch im niedrigen einstelligen Prozentbereich. In der IT-Industrie sieht es nun ähnlich aus.

Die IT-Industrie stand in den letzten 20 Jahren im Mittelpunkt einer Börseneuphorie. Zwei für die Investoren wichtige Bedingungen konnte die Branche erfüllen: überproportionales Wachstum und überdurchschnittliche Gewinnmargen im Vergleich zum industriellen Durchschnitt. Durch einen erbittert geführten Konkurrenzkampf wurde zwar das enorme und in der Öffentlichkeit wohlwollend wahrgenommene Umsatzwachstum beibehalten, gleichzeitig kam es jedoch in den letzten Jahren zu einem drastischen Rückgang der Gewinnmargen, der eher im Verborgenen stattfand.

Ein Beispiel dafür ist der IT-Großhandel, der hierzulande zu Beginn der 80er Jahre entstand. Die Computer 2000 AG konnte damals bei 25 Prozent Handelsspanne und 20 Prozent Kosten vom Umsatz eine Gewinnspanne von fünf Prozent erwirtschaften - bei Einnahmen, die im zweistelligen Millionenbereich lagen. Bis heute hat sich der Umsatz zwar verhundertfacht, die Handelsspanne sank jedoch auf fünf Prozent, und die Gewinnmarge liegt nun gar bei einem Prozent.

Einbruch der Gewinnmargen

Die gewaltige Senkung der Kosten von 20 auf vier Prozent des Umsatzes hatte auch zur Folge, dass die Gewinnmargen sinken mussten, da sich der Wertschöpfungsanteil ebenfalls entsprechend reduzierte. Zudem lässt sich bei einer Handelsspanne von fünf Prozent keine gleich hohe Gewinnmarge mehr erzielen. Dies ist sicher ein extremes Beispiel, doch die gesamte Branche hat sich - wenn auch mit verzögerter Geschwindigkeit - in diese Richtung bewegt.

Der Computerhersteller Dell erregte in den letzten Jahren Aufmerksamkeit durch sein starkes Wachstum, das die Firma an die Spitze des Marktes katapultierte. 1995 erzielte Dell noch eine operative Marge von 21,3 Prozent und eine Gewinnmarge von 7,2 Prozent. Im Jahr 2001 war die operative Marge auf 17,7 Prozent gefallen, die Gewinnmarge lag bei 5,7 Prozent. Absolut betrachtet, hatte sich der Gewinn erhöht, denn die Umsätze von Dell stiegen von 3,5 Milliarden Dollar 1995 auf 31,2 Milliarden im vergangenen Jahr. Gleichzeitig fielen die Kosten von 15,4 auf 12,1 Prozent des Umsatzes. Stolz vermeldete Dell in einem der letzten Quartalsberichte, dass erstmals in der Geschichte des Unternehmens der Kostenanteil auf unter zehn Prozent gedrückt wurde.

Doch ist das wirklich sinnvoll, und wo ist die untere Grenze? Das Unternehmen Medion, das unter anderem die Einzelhandelskette Aldi mit PCs und Computerzubehör beliefert, weist Kosten von sieben Prozent aus. Der IT-Großhandel liegt nach den letzten Quartalszahlen bei 3,8 Prozent. Stets geht jedoch die Verringerung der relativen Kosten mit der Reduktion der operativen Marge oder Handelsspanne einher - mit anderen Worten: Die Reduktion der Kosten reduziert auch die Wertschöpfung des Unternehmens. Die Fusion von Hewlett-Packard (HP) mit Compaq hat zum Ziel, die relativen Kosten des Konzerns von 22,8 Prozent in die Nähe der Aufwendungen von Dell zu bringen. Dem wird eine Verringerung des Wertschöpfungsanteils folgen, der bei HP heute noch bei 26 Prozent liegt.

Tendenziell schrumpfen gleichzeitig auch die Preise der Produkte (weil Einsparungen aus Gründen des Wettbewerbs sofort an den Kunden weitergegeben werden), was sich gut an den PC-Preisen nachvollziehen lässt. Personal-Computer werden ständig leistungsfähiger und kosten doch nur noch einen Bruchteil des Preises von 1990. Damit wurde der Markt wesentlich schneller erschlossen, als das bei anderen technischen Produkten der Fall war.

Dies zeigt ein Blick auf unseren Vergleichsmarkt, die Automobilindustrie: Von der Entwicklung des ersten Autos um die Jahrhundertwende bis zur Marktsättigung dauerte es etwa 60 bis 70 Jahre. Bei PCs haben wir die Marktsättigung bereits nach nur 20 Jahren erreicht. Wesentlich bestimmt wurde das Wachstum durch die Fähigkeit der IT-Industrie, die Kosten schnell und drastisch zu senken - gleichzeitig sanken damit jedoch die Wertschöpfung und die Gewinnmarge.

Bisher wurde dieser Vorgang als "Optimierung der Geschäftsmodelle" verstanden, weil der absolute Gewinn und damit auch der davon abgeleitete Firmenwert (wichtig für die Börse) aufgrund des anhaltenden Wachstums kurzfristig gesteigert werden konnte. Allerdings stellt sich die Frage, was wirklich sinnvoller - und werthaltiger - ist: kurzfristige Gewinnsteigerung oder langfristiger Ausbau von Assets, eventuell auch bei konservativeren Gewinnerwartungen?

Die Problematik rigoroser Kostensenkungen liegt auf der Hand, denn man kann diese Entwicklung nicht ad infinitum weiterführen. Früher oder später erreichen die Kosten (und damit die Wertschöpfung) ein absolutes Minimum - im IT-Großhandel sind dies etwa drei bis vier Prozent. Damit ist die Grenze erreicht, der Prozess kann nicht weitergetrieben werden. Da nun zudem eine Marktsättigung eingetreten ist, wird über die weitere Verringerung der Kosten kein Wachstum mehr induziert, sondern die Produktion wird mit weniger Wertschöpfung erzeugt und steht - umgangssprachlich ausgedrückt - auf wackeligen Beinen. Als Folge sinkt tendenziell die Produktion, und die Wachstumsfalle schnappt zu. Die Faktoren, die bisher das Wachstum angetrieben haben, führen nun direkt in die Stagnation.

Neues Wachstum braucht neue Märkte

Neues Wachstum lässt sich nur über neue Märkte erzeugen, in denen noch keine Sättigung eingetreten ist. Aber um dies klarzustellen: Neue Märkte bedeutet nicht einfach die Verbesserung bestehender Produkte in gesättigten Märkten, wie dies in der Automobilindustrie versucht wird. Technologische Innovation führt hier nicht zu Wachstum. Das wird auch am Beispiel Mobiltelefon deutlich: UMTS ist zwar eine neue Technologie, aber allein aus diesem Grund werden die Kunden nicht mit zwei Telefonen in der Tasche herumlaufen. UMTS-Handys können - wenn sie denn ein Erfolg werden sollten - lediglich nach und nach die bestehenden Mobiltelefone ersetzen. Den erhofften UMTS-Boom wird es folglich nicht geben.

Die Kommentare über die anhaltende Schwäche an der Börse konzentrieren sich auf die Auswirkungen der Anschläge des 11. September, die Bilanzbetrügereien oder bestenfalls auf die überbewerteten Märkte nach dem Kurs-Gewinn-Verhältnis. Die ersten beiden Argumente legen nahe, dass es keine wirklich fundamentale Änderung in der wirtschaftlichen Entwicklung gegeben hat, sondern dass eine handfeste Rezession mittels Alibierklärungen verklärt werden soll. Das Schockereignis des 11. September hat die Börse längst verkraftet, die Kurse zogen kurz danach wieder an. "Überbewertete Märkte" ist normalerweise die Formulierung dafür, dass es sich um ein vorübergehendes Ungleichgewicht handelt, das früher oder später wieder ausgeglichen wird.

Damit machen es sich die IT-Anbieter allerdings zu leicht, denn die Veränderungen im IT-Markt sind fundamental. Das PC-Segment und alles, was damit zusammenhängt, ist in den entwickelten Industrienationen gesättigt. Technische Innovationen können das nicht ändern, solange sie auf bestehende Produkte angewendet werden. Schnellere Computer ersetzen nur die langsameren, wie Autos mit Navigationssystem die ältere Fahrzeuggeneration ablösen. Dadurch wird jedoch kein PC oder Auto mehr verkauft als vorher, von zyklischen Schwankungen einmal abgesehen.

Der Kunde muss den Nutzen erkennen

Entscheidend ist, dass Wachstum nicht über Kostenreduktion induziert wird, sondern über die Entwicklung und Entstehung neuer Märkte. Diese aber müssen neue "Nutzen-Märkte" sein, damit neues Wachstum entsteht. Das hört sich einfacher an, als es ist. Die industrielle Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass immer wieder neue Nutzen-Märkte entstanden sind. Oft wird dafür der technische Fortschritt verantwortlich gemacht. Allerdings braucht es nicht nur technischen Fortschritt, sondern einen Markt, der dem Kunden einen klaren Nutzen bringt, um neues Wachstum entstehen zu lassen, bis dieses Segment selbst gesättigt ist.

Neue Nutzen-Märkte entstehen aber nicht spontan, wenn sie wirtschaftlich am dringendsten gebraucht werden. Vor dem PC stand die Entwicklung des Mikroprozessors. Die Gründer von Intel konnten sich in den Anfangstagen des Konzerns nicht vorstellen, diese Mikroprozessoren für etwas anderes als industrielle Anwendungen zu verwenden. Es brauchte die Vision eines "persönlichen Computers" für jedermann, um den neuen Nutzen-Markt zu schaffen. Technologische Entwicklung kombiniert mit einer Vision des potenziellen Nutzens sind die wichtigsten Elemente zur Entstehung neuer Märkte. Zusätzlich müssen die Unternehmen, die in diese Bereiche investieren, mit sehr hoher Wertschöpfung arbeiten.

In der Unternehmenspraxis heißt das, die vorhandenen Potenziale zur Steigerung der Wertschöpfung in den Firmen zu identifizieren und auszubauen. Das erst schafft den Raum für Investitionen in mehr oder neuen Nutzen für den Kunden. Dabei dreht es sich um die Frage, ob die operative Marge erhöht werden kann oder nicht. Bisher war die Antwort darauf, dass sich das am Markt eher nicht durchsetzen lässt. Heute muss man feststellen, dass hier die einzige strategische Chance für den Unternehmer liegt. "Eine große Reise beginnt mit dem ersten Schritt", sagt ein chinesisches Sprichwort. Das Entscheidende ist daher ein neues Herangehen an die Veränderung von Unternehmensprozessen. Im Vordergrund muss jetzt nicht mehr die Kosteneinsparung stehen, sondern die Steigerung der Wertschöpfung. (ajf)

*Michael Dressen ist geschäftsführender Gesellschafter der DHI Unternehmensberatung (www.dhiconsulting.de) in München.