Mentaler Metablocker

15.04.1994

Fuer die einen kam es einer Selbstgeisselung gleich. Fuer andere war die Rede von IBM-Chef Louis Gerstner vor Industrieanalysten in New York lediglich Balsam fuer die Seelen verunsicherter Mitarbeiter, die sich ob des Kreuzfeuers herber Kritik der vergangenen Monate und Jahre als Angehoerige einer hoffnungslos rueckwaertsgewandten Firma waehnen mussten.

In der Technologieforschung, reklamierte der ehemalige McKinsey- Berater, sei man doch Spitze, wovon unter anderem zwei Nobelpreistraeger zeugen wuerden. Nur bei deren Umsetzung hapere es. Was in den Entwicklungslabors gekocht werde, komme leider nur zu selten auf den Tisch der Kunden.

Gegenueber dieser Darstellung sind Einwaende angebracht. Zwar haben sich bereits Mitte der 70er Jahre kluge IBM-Menschen erstmals den Kopf zerbrochen ueber eine fortschrittlichere als die CISC- Prozessortechnologie. Mit dem IBM-801-Projekt motteten die obersten IBM-Manager aber auch den ersten RISC-Prozessor der Welt wieder ein. Zutreffend ist auch, dass die blauen Entwickler mit Rastertunnelmikroskopen ebenso fuer Furore sorgten wie mit magnetoresistiven Speichermedien.

Anders aber als in der Touristikbranche verdient man in der DV- Szene sein Geld oft mit weniger Exotik. In die Niederungen der Computerwissenschaften jedoch mochte sich das High-Tech- Unternehmen nur ungern begeben.

PCs? Nichts fuer ernsthafte IS-Strategen. Betriebssysteme fuer Mikros? Sollen andere machen. Symmetrische Multiprozessor- Architekturen - wofuer haben wir leistungsfaehige Grossrechner? Fehlertolerante Systeme? Kaufen wir uns von OEM-Lieferanten. Massiv-parallele Rechner? Nischenprodukte.

Die Geschichte der IBM seit Gene Amdahls legendaerem Wurf auf die /360-Marke vor nunmehr 30 Jahren stellt sich als Abfolge verpasster Gelegenheiten und Fehleinschaetzungen bezueglich technologischer Moeglichkeiten und als Politik der bewussten Blockade visionaerer Optionen dar. Als Wechsel auf die Ewigkeit schien den blauen Topverantwortlichen die Mainframe-Technologie geeignet.

Diese Tratte ist nun geplatzt und erweist sich als mentaler Metablocker. Als Sedativum in unruhigen DV-Zeiten stellte er nicht nur IBMs Fuehrungskraefte, sondern auch die vielen mit ihren blauen Hosts auf Gedeih und Verderb verbandelten RZ-Manager jahrelang auf fatale Weise ruhig.

Der Mainframe entpuppt sich mehr denn je als schwieriger Patient. Da setzt man hier ein neues Herz ein - CMOS-CPUs. Da flickt man dort ein kuenstliches Bein an - massiv-parallele MVS- Vorschaltrechner. Dem Ganzen appliziert man eine vermeintlich kostenguenstige Behandlung auf der Softwarestation, um den Kunden- Aderlass gering zu halten.

Aber wie in Bluems Gesundheitsreform am Ende der Kostenkette doch der einzelne Buerger der Gelackmeierte ist, so zahlt auch der IBM- Kunde fuer die Versaeumnisse der Vergangenheit. Und nicht Herr Gerstner.